Interview | Anna-Katharina Höpflinger und Yves Müller mit Ossarium

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Heute unterhalten wir uns mit Dr. Anna-Katharina Höpflinger, ihres Zeichens Religionswissenschaftlerin mit Schwerpunkt klassische Antike, und dem Fotografen Yves Müller. Gemeinsam haben sie drei Jahre lang die Schweiz und das umgebende Ausland bereist, um auf Knochenjagd zu gehen. Die heute oft in Vergessenheit geratenen Ossarien oder Beinhäuser, werden in ihrem Werk „Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ respektvoll ins Rampenlicht gestellt und mit ihnen fällt der Fokus ebenso auf vielerlei Themen rund um das christliche Bestattungswesen (mehrheitlich vom Spätmittelalter bis heute) und den Umgang mit dem Tod im Allgemeinen.
Das Werk greift einerseits kulturhistorische Aspekte der kirchlichen Entwicklung auf und klärt über katholisches und protestantisches Brauchtum sowie den Wandel der christlichen Gemeinschaft auf. Andererseits wird ebenso die Architektur der Ossarien und nahestehenden Kirchen und Kapellen beleuchtet, die nicht selten die Einstellung der Gemeinde zum Thema Vergänglichkeit wiederspiegelt.
Im Buch finden sich neben den Beobachtungen und Fotografien der Verfassenden ebenso erläuternde Texte. Regula Odermatt-Bürgi wirft einen historischen Blick auf die Beinhäuser und führt den Leser von der Entstehung bis zur Moderne. Der Pfarrer von Naters, Jean-Pierre Brunner, teilt seine persönlichen Eindrücke und erklärt, welchen religiöse Stellenwert die Ossarien früher wie heute in seiner Gemeinde hatten und haben. Melanie Eyer widmet sich auf facettenreiche Art und Weise einem wiederkehrenden Motiv in Beinhäusern, den Totentänzen. Und Paul Koudounaris geht auf eine visuell beeindruckende Besonderheit einiger Beinhäuser ein, indem er über Bedeutung und Verbreitung der Schädelbemalung spricht.
„Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ ist ein sprachlich nüchternes Werk, dessen beobachtender  und aufklärerischer Charakter durch Yves Müllers faszinierende Fotografien sowie Bildmaterial aus Archiven greifbar gemacht wird. Die Sterblichkeit und insbesondere unser Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit bleibt zentrales Thema des Buchs und wird aus vielerlei Perspektiven aufgegriffen.

Dr. Anna-Katharina Höpflinger arbeitet derzeit an Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Schreib- und Forscherfleiss der Bündnerin ist in ihrer langen Publikationsliste zu bestaunen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen aktuell auf der Religion im Kontext zu Visualität, Kleidung, Gender und, wie erfrischend, Heavy Metal.

Yves Müller ist neben seinem Beruf als Wirtschaftsinformatiker passionierter Fotograf, Musiker und Sammler. Seine Linse richtet er am liebsten auf Artefakte, Landschaften und Konzerte.

Bevor wir gleich mit dem Interview loslegen, möchten wir euch kurz auf eine Anmerkung* von uns hinweisen, die ihr im Anschluss an das Interview findet. Aber nun soll uns nichts mehr im Wege stehen. Los geht’s!

Allegra chara Anna e char Yves,
wie üblich wollen wir den Einstieg locker gestalten, bevor wir mit den Gebeinen rasseln.
Als Kinder der rauen Graubündner Bergwelt müsst ihr uns Sprachfanatikern verraten: Gehört ihr zu den wenigen Glücklichen, die mit Rätoromanisch
aufwachsen durften?

InterviewFotos-7YMu: Chau Rahel, hai eu sun creschü sü in Engiadina e discuor dasper inglais e tudais-ch eir rumantsch. I’m fa grond plaschair da responder in mia lingua materna ed eu speresch cha tü inclegiast mia resposta. Also ja, ich als Engadiner bezeichne Deutsch gerne als meine Muttersprache und Romanisch (Vallader) als meine Vatersprache. Ich erspare dir jetzt eine zeitaufwendige Übersetzungsarbeit und antworte ausnahmsweise auf Deutsch.

AKH: Ich dagegen bin im Partens (Prättigau) aufgewachsen, einem Bündner Tal, das bereits früh „verdeutscht“ wurde. Wir haben dafür einen besonders „einprägsamen“ und leider aussterbenden Walserdialekt anzubieten.

Ihr seid hier, um über euer Werk „Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ zu sprechen. Da diese Beinhäuser im Kulturkreis vieler etwas untergegangen sind, möchten wir euch bitten, unseren Lesern kurz zu erklären, was ein Ossarium ist und welchem grundlegenden Zweck sie zu ihrer Blütezeit dienten.

AKH: Beinhäuser entstanden aufgrund von Platzmangel auf Friedhöfen, also aus einem pragmatischen Grund. Als im Mittelalter die Siedlungen wuchsen, wurden vielerorts die Friedhöfe zu klein. Da diese Bestattungsplätze aber mitten im Siedlungsraum lagen, konnte man sie nicht einfach vergrössern. Aus religiösen Gründen war es ausserdem problematisch, die Knochen zu zerstören oder zwei Tote übereinander zu begraben. Beinhäuser boten deshalb eine gute und religiös korrekte Möglichkeit, um neuen Platz auf den Friedhöfen zu schaffen: Man grub die Knochen nach einigen Jahren aus und sammelte diese in den Beinhäusern, auch Ossarien genannt.

TVZ_Cover_Ossarium_vor.inddNeben dem pragmatischen Gedanken haften den Ossarien ebenso sehr mannigfaltige, religiöse Bedeutungen und Funktionen an.
Es wird sicherlich unmöglich, diese umfangreich zu erläutern – der Interessierte soll euer Werk lesen –, deswegen wollen wir uns etwas einschränken und fragen: Welche Beziehung sahen/sehen Gläubige zwischen sich und den Gebeinen? Welche Pflichten und Gefallen erfüllen die Lebenden für die Toten und umgekehrt?

AKH: Tote galten damals nicht als „tot“ im Sinne von „nicht mehr existent“, sondern man hielt sie für ziemlich „lebendig“ und wusste vielerorts von Geistern, um Mitternacht tanzenden Skeletten oder helfenden Toten zu berichten. Verstorbene waren, so die Ansicht, gleichzeitig hilfsbereit und gefährlich für die Lebenden. Zum idealen Friedhof gehörte deshalb ein bestimmtes „Mobiliar“, damit sich die Toten dort „wohl fühlen“: Eine Friedhofsmauer mit einem Beinbrecher (einer Art Gitter) beim Eingang, eine Totenleuchte, die Gräberfelder und eben das Beinhaus. Die Ossarien dienten dazu, den Verstorbenen eine schöne und passende Wohnung zu bieten, sie aber auch in Schach zu halten, damit sie im Friedhof blieben und nicht etwa in ihre Häuser zurückkehrten.
Ausserdem boten Beinhäuser Raum für die Interaktion zwischen Lebenden und Toten. Beinhäuser sind in Europa ein römisch-katholisches Phänomen. In dieser religiösen Tradition ging man damals davon aus, dass die sogenannten „armen Seelen“, Verstorbene, die im Fegefeuer (einer Art Reinigungsraum im Jenseits) weilen, auf die Gebete der Lebenden angewiesen seien. Ossarien wurden so zu einem Ort des Gebetes für die verstorbenen Verwandten. Geistergeschichten aus der Schweiz erzählen im Gegenzug davon, dass die Toten aus Dankbarkeit für die Gebete den Lebenden in verzwickten Situationen halfen.
Daneben gab es aber auch weniger offizielle Funktionen der Beinhäuser. Gegen verschiedene Probleme und Krankheiten wusste man magische Beinhaus-Rezepte: Ein aus einem Beinhaus-Schädel gebrochener Zahn soll gegen Zahnweh helfen, wird aus Graubünden berichtet. Oder ein aus dem Ossarium entwendeter Schädel im Strohsack (der damaligen Matratze) soll Bettnässer kurieren. Wenn man es richtig anstellte, konnten Totenköpfe auch die richtigen Lottozahlen verraten und einen reich machen.

YMu: Zusätzlich zu diesen religiösen Bedeutungen waren Beinhäuser auch wichtige Erinnerungsstätten für die verstorbenen Vorfahren. Man konnte die Verstorbenen so stets besuchen, mit ihnen sprechen und eben in Erinnerung behalten. Wir sind immer wieder über Geschichten gestolpert, in denen von Familienausflügen ins Beinhaus berichtet wurde und die Kinder ihre Grosseltern (oder andere Verwandte) besuchen konnten. Ganz ähnlich, wie wenn man heute ein Grab aufsucht.

Die Beinhäuser sind teilweise bis heute noch angefüllt mit menschlichen Überresten, deren Herkunft meist unklar ist. In einigen Fällen aber werden die Gebeine prominenten Figuren (Heilige, Kleriker, Kämpfer oder Herrscher) zugeordnet und erhielten dadurch eine spezielle Stellung in rituellen Handlungen.
Könnt ihr dazu etwas aus der Schädeltruhe berichten?

YMu: Man muss hier klar zwischen Beinhäusern und Katakombenheiligen bzw. Reliquien unterscheiden. Die dekorierten Skelette und Knochen, die in Kirchen ausgestellt sind, stammen von Heiligen oder Märtyrern und Märtyrerinnen, während die Knochen im Beinhaus von der Dorfbevölkerung sind. Wir haben in unserem Buch explizit auf Beinhäuser fokussiert und nur im Einzelfall Fotos von Reliquien oder Katakombenheiligen abgedruckt, weil dies aus religiöser Sicht zwei völlig verschiedene Dinge sind.

AKH: In der konkreten Praxis konnten sich beide aber durchaus annähern. Auch, wenn es von offizieller Seite nicht gerne gesehen wurde, beteten die Leute im Beinhaus eben auch zu den armen Seelen, nicht nur für sie.

YMu: Noch immer gibt es in vielen Beinhäusern Schädel von wichtigen Personen, die dann auch als solche angeschrieben sind. In Oberiberg zum Beispiel sind der Schädel und zwei Beinknochen des 1545 verstorbenen Ritters Josef Amberg ausgestellt. In Kolsass (Österreich) sind wir im Beinhaus auf den Kopf des «tapferen Landesverteidigers» Peter Haider (1765–1834) gestossen. Aus einer solchen Individualisierung und Erinnerung ist dann auch die Schädelbemalung entstanden. Man wollte die Schädel aus der Masse an anonymen Knochen hervorheben und die Bedeutung einer Person herausstreichen.Dingolfing

Der Ausdruck „Memento Mori“ als Symbol der Vergänglichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Liturgie und man trifft ihn in Form von Sprüchen, Versen und Bildnissen auch in Ossarien sehr oft an.So zum Beispiel in der St. Peter Kirche im graubündnerischen Alvaschein, wo die Inschrift zu lesen ist: „Was wir sind, das werdet Ihr. Was Ihr seid, das waren wir.“
Wenn wir auf die Kirche als Institution blicken, stellt sich die Frage, welche Absichten verfolgt wurden, wenn den Kirchgängern diese Vergänglichkeit des Lebens so bildlich vorgehalten wurde.

AKH: Der Memento Mori-Aspekt war und ist ein wichtiger Bestandteil von Beinhäusern. Der reale Tod war noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts tatsächlich präsenter als heute. In der Gegenwart sterben die meisten Leute in Krankenhäusern und werden nicht mehr daheim aufgebahrt. Memento Mori-Motive in Ossarien dienten aber nicht nur zur Erinnerung an den eigenen Tod, sondern waren mit dem Versprechen auf ein jenseitiges Leben verbunden. Solche religiösen „Heilsversprechen“ können Orientierung bieten in schwierigen Lebenssituationen. Gleichzeitig hat die Institution, die den Tod im Griff hat, natürlich auch grosse Macht über Menschen. Der lukrative Ablasshandel ist nur ein (negatives) Beispiel hierfür.

Mistail3Im Zuge der Reformation und später durch das Zeitalter der Aufklärung, wandelte sich die Bedeutung der Beinhäuser in den Augen der Öffentlichkeit, aber auch in jenen der Kirche selbst.
Was hat diesen Wandel ins Leben gerufen und was bedeutete er für die Ossarien?

Wolhusen2AKH: Dieser Wandel ist multidimensional: Zunächst wurden bereits im 16. Jahrhundert in den damals neuen reformierten Gebieten Beinhäuser aufgehoben und die Knochen wiederbestattet. Ossarien mit ihrem materiellen Totenkult waren in den Augen der Reformierten etwas typisch Katholisches, das nicht in das reformierte Weltbild passte. Um dagegen zu halten, wurden in der Gegenreformationen Beinhäuser von katholischer Seite her zum Teil richtiggehend inszeniert und opulent ausgestattet. In Wolhusen seien die Fenster des Ossariums beispielsweise mit Knochengirlanden bestückt worden. Und eine innen angebrachte Totentanzmalerei mit richtigen eingemauerten Schädeln zeugt noch heute vom damaligen Wolhusenkatholischen Selbstverständnis. Seit dem 19. Jahrhundert kamen die Beinhäuser aber auch in den katholischen Gebieten mehr und mehr aus der Mode. Sie galten nun als archaisch, ländlich, volkstümlich und unhygienisch und passten nicht zum „modernen“ Verständnis von Religion. Auch der beginnende Tourismus hat dazu beigetragen, dass Ossarien ausgeräumt oder zugemauert wurden. In Wolfenschiessen hat man beispielsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gebeine aus Rücksicht auf die Kurgäste abgedeckt. Und noch in den 1980er-Jahren wurden Beinhäuser, zum Beispiel in Graubünden, ausgeräumt. Dennoch haben sich überraschenderweise in der Schweiz rund 40 Ossarien, die noch Knochen präsentieren, erhalten. KutnaHoraAllerdings zeigen sich regionale Häufungen in Graubünden, im Wallis und der Innerschweiz, also eher in ländlichen Regionen, denen die eigene Tradition wichtig ist.

YMu: Der Tourismus kann für die Beinhäuser aber auch eine gute Einnahmequelle sein. Die Knochenkirche von Kutná Hora in Tschechien sowie die Katakomben in Paris sind weltweit berühmt und richtige Touristenmagnete. In Paris kann man gut und gerne 3 Stunden anstehen, um überhaupt Einlass zu bekommen, und in Kutná Hora kommen schubweise ganze Busse von Schaulustigen an, um das Kostnice (Beinhaus) zu besuchen.

Poschiavo2In der jüngeren Vergangenheit erlebten und erleben viele die öffentliche Aufbewahrung von menschlichen Überresten als pietätslose Zurschaustellung der Toten. Gleichzeitig stören sich nur wenigen an anderen religiösen Symbolen, welche die (Un-)Sterblichkeit unmissverständlich und zuweilen sehr grafisch aufzeigen – man denke an das Kruzifix, das Opferbereitschaft, aber auch Leiden und Tod demonstriert und bis heute im öffentlichen Raum anzutreffen ist.
Wieso fällt es vielen schwer, Knochen im selben Licht zu betrachten, was hebt sie von anderen rituellen Gegenständen ab?

AKH: Das ist das Paradoxe an der heutigen Gesellschaft: Eine Figur aus dem 16. Jahrhundert, die einen grausam gefolterten Menschen zeigt, gilt als kulturell wertvoll, aber Gebeine von natürlich Verstorbenen aus derselben Zeit wirken auf uns heute makaber. Der reelle Tod wird tatsächlich noch immer aus der heutigen Gesellschaft verdrängt, auch wenn es unterdessen Gegenbewegungen dazu gibt. Dennoch gilt auch heute noch: Hunderte von Leichen in einem Film sind normal und spannend, aber eine aufgebahrte verstorbene Person finden viele befremdlich. Meines Erachtens hat das mit gesellschaftlichen Erwartungen, Konventionen und Tabus zu tun. Wir wachsen damit auf, das eine als normal zu betrachten, das andere aber zu tabuisieren. Während des Projektes habe ich das zum Beispiel dann besonders stark gemerkt, wenn ich meine Kinder mit zu einem Beinhaus nahm. Viele Leute fanden Beinhäuser zu gruselig für Kinder und haben mir das auch unmissverständlich klar gemacht. Aber weshalb sollen Ossarien unheimlich sein? Woher „weiss“ man, dass sie gruselig „sind“, aber ein Kruzifix zum Beispiel nicht? Zumindest meine Kids finden Ossarien eher langweilig, weil da nichts läuft und sie nicht gelernt haben, dass man davor Angst haben sollte.

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YMu: Ich denke, es hat auch damit zu tun, dass man sich beim Betrachten eines Schädels eher der eigenen Sterblichkeit bewusst wird als beim Anschauen eines Kruzifixes. Dem Tod kann man nicht entrinnen, das machen Gebeine unmissverständlich klar. Mir ist ausserdem aufgefallen, dass viele Menschen eine Abscheu gegenüber Knochen und Verstorbenen verspüren, weil sie davon ausgehen, dass diese schmutzig und „ansteckend“ sein könnten. Als wir die Fotos auf der Insel Ufenau gemacht haben, sind zwei junge Frauen am Beinhaus vorbeigekommen und eine davon hat sich sehr gewundert, dass die sieben Schädel dort nicht stinken. Schliesslich „weiss“ man ja, dass tote Menschen oder Tiere schlecht riechen.

Zum Einstieg haben wir erwähnt, dass in „Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ bei weitem nicht nur über Schädel und Riten, sondern auch über Architektur gesprochen wird. Die in Regionen aufgeteilten Kapitel enthalten jeweils detaillierte Beschreibungen der Ossarien, Kirchen und Kapellen, welche unter anderem auch als aufschlussreicher Spiegel der geschichtlichen Entwicklung dienen.
Wenn ihr heute ein Ossarium errichten könntet, welche baulichen Elemente dürften eurer Meinung nach auf keinen Fall fehlen?

YMu: Jedes Beinhaus hat seine Eigenheiten, sei es architektonisch oder auch in der Wahl des Standortes. Beinhäuser waren zunächst pragmatische Gebäude. Deshalb wurden sie gemäss den Bedürfnissen vor Ort angelegt. Dennoch gibt es gewisse auffallende Gemeinsamkeiten vieler Ossarien in der Schweiz: Zum Beispiel sind Beinhäuser in der Nähe der Kirche oder des Friedhofes, was auch aus pragmatischer Sicht Sinn macht. Viele Beinhäuser sind nach Süden ausgerichtet, da man davon ausging, dass die Verstorbenen sich nach Licht sehnen. Wir haben ausserdem eine Reihe von Gebäuden gefunden, die zweistöckig sind und in denen die Knochen im unteren Stock gelagert werden. Diese Regeln sind aber nicht absolut und wurden auch nicht bei jedem Beinhaus eingehalten. Mir persönlich gefallen die extravagant inszenierten Beinhäuser in Kutná Hora, Kolín oder Milano am besten. Aber ich finde auch die Katakomben in Paris sehr stimmungsvoll, weil es dort dunkel und feucht ist und eine wirklich beklemmende Atmosphäre herrscht, die sehr gut in ein Beinhaus passt.

Doch nicht nur architektonische Vielfalt haben die Beinhäuser zu bieten, sondern ebenso künstlerische Elemente wie die Totentänze und Dekorationen und selbst auf den Schädeln finden sich manchmal Bemalungen. Wie ein roter Faden, der sich durch unser Interview zieht, erzählen diese schmückenden Elemente Geschichten über die Herkunft und Bräuche, die hinter den Beinhäusern stecken.
Könnt ihr ein bildschönes Beispiel für uns aus dem Ärmel schütteln?

Galtür2YMu: Mir persönlich gefallen die Schädel in Galtür am besten. Sie sind kunstvoll mit goldenen Dekorationen bemalt. Auch hier ist es wieder sehr individuell, da jeder Künstler, jede Künstlerin seine oder ihre Handschrift auf dem bemalten Schädel hinterlassen hat. Manchmal sind fein mit Bleistift Angaben über den Verstorbenen auf den entsprechenden Schädel übertragen. In anderen Ossarien finden sich aufwendige Bemalungen, die weit über dieses einfache Anschreiben hinausgehen. Weiter gibt es auch Schädel, die mit dem Beruf oder dem Status des oder der Verstorbenen angeschrieben sind. In Deutschland haben wir beispielsweise einen Schädel eines Rosenkranzmachers gefunden. Oder im Kloster Eschenbach ist die jeweilige Stellung in der klösterlichen Hierarchie auf den Schädeln der Ordensschwester vermerkt.

AKH: In Domat/Ems und in Ludesch sind wir auf Hauszeichen gestossen: Auf den Schädel wurde also nicht der Name der individuellen verstorbenen Person geschrieben, sondern ein Familienzeichen gesetzt. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan war da also wichtiger als der persönliche Name.

Ossarium_LudeschBilder über Bilder sind in „Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ zu bewundern. Sie zeigen Blicke hinter die Kulissen und veranschaulichen die Vielfalt der Beinhäuser. Die einen sind reich geschmückt, wirken wie Altare der Vergänglichkeit, andere wiederum spiegeln eben diese durch mehr oder minder schlimme Verwahrlosung.
Wäre ein Werk wie dieses ohne Fotografien überhaupt möglich gewesen?

YMu: Wir haben zu Beginn diskutiert, ob wir den Fokus noch mehr auf die Bilder legen sollen. Aber ich war immer der Meinung, dass es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bild und Text sein muss. Wir haben während der Recherche viele spannende Geschichten und Fakten zugespielt erhalten, die einfach ins Buch mussten. Ohne Bilder hätte unser Vorhaben nicht funktioniert, da man sich ein Beinhaus wie Leuk schlecht vorstellen kann, wenn man es nicht sieht.

Nach der Lektüre eures Werkes blieb uns das Gespräch mit dem Pfarrer von Naters, Jean-Pierre Brunner, speziell in Erinnerung. Seine Worte zu „seinem Ossarium“ wirken liebe- und hoffnungsvoll und messen ihm eine gemeinschaftliche, familiäre Bedeutung zu.  Er sagt: „Das Hinabsteigen in die Gruft löst bei mir keineswegs Gänsehaut aus, sondern auf eine gewisse Weise Geborgenheit.“
Nun sind wir natürlich neugierig: Wie erging es euch beiden in den Ossarien, die ihr besucht habt?

YMu: Mir geht es ähnlich wie Pfarrer Brunner. Für mich ist ein Ossarium unglaublich faszinierend und spannend. Dementsprechend hatte ich nie ein gruseliges Gefühl beim Betreten. Einzig wenn man einen Schritt zurück macht und sich vor Augen führt, dass jeder dieser Knochen ein eigenes Leben voller Geschichten und Schicksale geführt hat, merkt man, wie gewaltig das Ganze überhaupt ist. Speziell aufgefallen ist mir, dass viele Leute beim Betreten eines Beinhauses, ähnlich wie in einer Kirche, ihre Stimme senken oder gar aufhören zu sprechen. Es gibt also eine sehr spezielle Aura, die von den Besuchern sofort gespürt wird.

Eine Geschichte, die ich immer wieder gerne erzähle, hat sich In Tschechien abgespielt. Dort wurde einer Gruppe schwarz gekleideter und stark geschminkter Gothics der Zutritt zum Beinhaus verwehrt, da es eine Kirche sei und man sich in einer Kirche anständig zu benehmen und zu kleiden habe. Nach langer Diskussion – zur Belustigung der anwesenden Touristen und Touristinnen – wurden sie dann trotzdem reingelassen. Aber nur mit der strikten Anweisung keine Fotos zu machen und keine satanischen Rituale durchzuführen. Paradoxerweise sind genau diese Leute wohl ein grosser Teil der „Kundschaft“, die da übrigens Eintritt bezahlen muss.

Eine Zweitbestattung, so Pfarrer Brunner, entspricht nicht mehr dem heutigen Trend und voraussichtlich werden die Ossarien in naher Zukunft nicht mehr wiederbelebt – man entschuldige die Wortwahl – werden. Trotzdem werden sie nicht nur von Touristen geschätzt, sondern ebenso von Gläubigen.
Wie sollen wir uns den Stellenwert der Beinhäuser in der heutigen Zeit vorstellen? Wer besucht sie und was wird dort gemacht?

AKH: Heute nehmen Ossarien mit Knochen, unserer Beobachtung gemäss, vier verschiedene Funktionen ein: Erstens gibt es noch immer eine religiöse Funktion. Tatsächlich sind wir bei unseren Besuchen auf Menschen gestossen, die vor oder in den Beinhäusern für ihre verstorbenen Verwandten Kerzen angezündet oder gebetet haben. Ein Teil der Beinhäuser wurde auch in Aufbahrungskapellen (um die Verstorbenen öffentlich aufzubahren) umgewandelt.
Zweitens nehmen sie heute vielerorts eine touristische Funktion im Sinne kleiner Museen ein. Leute besuchen Beinhäuser, machen Selfies vor den Schädeln, gruseln sich ein bisschen und interessieren sich bestenfalls auch für die Geschichte hinter den Kapellen.
Drittens wurden zahlreiche Ossarien in einem säkularen Sinn umgenutzt. Das beste Beispiel hierfür ist das Beinhaus in Utzenstorf: Es dient heute als Toilettenhäuschen.
Viertens gibt es gegenwärtig auch Beinhäuser mit Knochen, die nahezu vergessen sind und überhaupt keine Verwendung mehr finden. Sie sind nur noch Überbleibsel aus einer anderen Zeit – und zum Teil auch etwas verwahrlost.

Wir sind so frech und unterstellen euch kurzerhand, dass ihr euch für die Erhaltung der Ossarien aussprecht. Wollt ihr unseren Lesern verraten, weshalb Gläubige wie nicht Gläubige sich dafür einsetzen sollen und wie sie das überhaupt tun können?

AKH: Das unterstellt ihr uns zu Recht. Man kann nicht einfach Geschichte auf- und wegräumen, nur weil sie einem nicht passt. Beinhäuser bildeten Jahrhunderte lang einen wichtigen Aspekt zumindest der katholischen Friedhofskultur. Sie sind aber nicht nur kulturhistorisch interessant, sondern können auch anthropologisch etwas über die Menschen von damals (ihre Grösse, Ernährung, Krankheiten) erzählen.
Viele Beinhäuser wurden in den letzten 30–40 Jahren nur dank des Einsatzes von Einzelpersonen erhalten. Dieser Einsatz beginnt mit dem Interesse für Ossarien. Deshalb würde ich die Lesenden dazu auffordern, mal ein Beinhaus zu besuchen und selbst zu schauen, wie es auf sie wirkt.

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Die Bestattungskultur verändert sich im Gleichschritt mit der Kultur und wird nicht zuletzt auch von organisatorischen Gedanken gelenkt. Die Wertschätzung der Verstorbenen und Trauer der Hinterbliebenen steht allerdings weiterhin im Zentrum, ganz egal ob wir uns im Ossarium, auf dem Friedhof, im Krematorium oder im Institut für Körperspende befinden.
Wie seht ihr die Zukunft der Beisetzungen in der Schweiz?

AKH: Meines Erachtens geht der Trend einerseits in Richtung von schlichteren Formen der Bestattung mit weniger opulentem Blumenschmuck, eher Kremationen sowie Feiern, die im engeren Familienkreis abgehalten werden. Andererseits wird es dadurch auch persönlicher und pluraler: Man folgt nicht mehr einfach den traditionellen Formen der Beisetzung, sondern die Feier soll so werden, wie es die verstorbene Person sich gewünscht hätte. Was ebenfalls neu hinzukommt, sind ökologische Fragen: Kremationen statt Erdbestattungen, Urnen und Särge, die sich selbst zersetzen, ökologische Bestattungswäsche, etc.

YMu: Ja, Schlichtheit trifft es meiner Meinung nach ziemlich gut. Ich vermisse gerade in der Schweiz monumentale Grabsteine mit Gruften, die aussehen als wären sie für die Ewigkeit erbaut worden. Hier werden die Grabsteine je nach Kanton nach 20 bis 30 Jahren abgeräumt und zum Beispiel zu Strassenkies verarbeitet, wenn sie niemand für sich beansprucht. Es ist – böse formuliert – eine Art temporäre Erinnerung, die man sich schafft. Meistens ist es natürlich auch eine finanzielle Frage, da die Verwandtschaft nach 20 Jahren kein Interesse mehr hat weiteres Geld in die Verstorbenen zu investieren. Deshalb sind wahrscheinlich auch Kremationen so beliebt. Das finde ich schade und auch moralisch etwas problematisch, aber das kann selbstverständlich jeder für sich entscheiden.

Lasst uns ein Bonus-Intermezzo einfügen – ihr seid ja zu zweit, da darf die Vielfragerei verziehen werden.
Die Fotografie ist seit ihrer Erfindung einmal mehr, mal minder wichtiger Bestandteil der Trauer- und Bestattungskultur. Früher eigneten sich Verstorbene durch ihre Fähigkeit stillzusitzen wunderbar als Fotomodell, heute sieht man – ausser an Tatorten – davon ab, Leichen zu fotografieren und betrauert Bilder aus dem Leben.
Wie ausschlaggebend ist die Abbildung für die Erinnerung an den Verstorbenen und könnt ihr munkeln, wie die sozialen Medien diese Bedeutung verändern könnten?

YMu: Ja absolut. Einerseits ist es so, wie Anna vorher gesagt hat so, dass man in Filmen und den Nachrichten vor lauter Leichen den Friedhof fast nicht mehr sieht, anderseits ist es ein grosses Tabu Tote oder Totenrituale fotografisch zu begleiten. Ich habe letztes Jahr im Wallis einen Bestatter besucht und dessen Arbeit abgebildet. Vor einigen Wochen habe ich einen von der Sterbehilfe Organisation Exit begleiteten Suizid fotografisch festgehalten. Beide Male habe ich bei den Anwesenden gespürt, dass mein Fotografieren – trotz Einverständnis des Verstorbenen bzw. des Bestatters – irritiert. Ich habe mich dann bewusst im Hintergrund gehalten und ihnen die Fotos erst später, in einem passenden Moment, gezeigt. Als sie diese gesehen haben, hat sich die Stimmung zu meinen Gunsten verändert. Die Verwandten haben gemerkt, dass ich die Fotos mit grossem Respekt den Verstorbenen gegenüber gemacht habe und nicht auf Sensationsjournalismus aus bin. Ich habe den Verwandten so eine letzte Erinnerung erschaffen, und sie waren danach auch dankbar dafür. Die Post Mortem Fotografie hat ja früher nichts anderes gemacht.

Zu diesem Thema kann ich den Fotoband Post Mortem von Patrik Budenz empfehlen. Seine Fotos sind nüchtern und gleichzeitig unglaublich emotional und aussagekräftig.

Den sozialen Medien stehe ich etwas kritisch gegenüber, weil sie eben zu dieser Effekthascherei tendieren. Die Geschichte hinter einem Bild interessiert da meistens niemanden, sondern die Bilder werden gewählt, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Mir geht es beim Fotografieren nicht nur um das Resultat, sondern gerade bei den oben genannten Beispielen vor allem um die Erfahrung, die zu solchen Fotos führt.

Nicht erst seit eurem Buch ist die Katze aus dem Sack: Wir alle werden sterben. Während einige diese Tatsache mit Forscherdrang und Faszination annehmen, scheuen viele davor zurück, versuchen das Unausweichliche zu ignorieren.
Da ihr nun eine beachtliche Zeit damit verbracht habt, euch in Gegenwart von Toten aufzuhalten, möchten wir von euch wissen, welchen Vorteil ihr darin seht, sich mit der Vergänglichkeit auseinanderzusetzen.

YMu: Ich denke, wenn man die Tatsache akzeptiert hat, dass man eher früher als später sterben wird, viel besser mit dem Leben selbst umgegangen werden kann. Trauer in einem Todesfall ist sehr wichtig für die Verarbeitung, aber es wird viel einfacher, wenn man den Tod akzeptiert und erwartet, statt ihn zu vergessen und zu verdrängen.

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Was in der heutigen Zeit meist undenkbar ist, war früher Normalität, nämlich der ungeschönt direkte, dennoch liebevolle Umgang mit den Toten. Vor allem auch im Beisein von Kindern, wie einige Anekdoten aus eurem Werk verraten. Diese werden nun von solchen Themen möglichst lange ferngehalten.
Welche Gefahren seht ihr darin, wenn überhaupt?

YMu: Wie oben bereits angesprochen wird die Sterblichkeit in die Ferne oder in eine abstrakte Ebene verlagert. Sprüche wie „das wird UNS ja hoffentlich erst in 50 Jahren passieren“ tragen dazu bei, dass der Tod umso unerwarteter kommt. Viele Menschen sind dann damit überfordert und wissen nicht, was sie tun sollen.

AKH: Ich habe gemerkt, dass das Interesse für Themen rund um den Tod sehr vom jeweiligen Kind abhängt: Gewisse interessieren sich brennend für diese Fragen, andere langweilt das Thema eher. Es sind aber oft nicht die Kinder, die von sich aus Mühe haben mit Themen rund ums Sterben. Sondern es sind die Erwachsenen, die ein Problem darin sehen, Kinder damit zu konfrontieren. Ich habe verschiedenen Kindern in meinem Umfeld die Bilder des Buches gezeigt. Viele davon – und ja, es waren Kids aus einem säkularen Umfeld – fanden die Christus-Figur auf dem Buchcover gruselig. Zu den Totenschädeln meinten sie eher: „Ah, so sehen wir innen aus“. Und dann erzählten sie über tote Haustiere oder den Biologieunterricht. Ich finde einen kindsgerechten, aber auch ehrlichen Umgang mit dem Sterben wichtig.

Drei Jahre hat die Entstehung von „Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ gedauert und ein Blick auf die Kapitelstruktur reicht aus, um zu sehen: Ihr seid für die Recherchearbeit viel gereist.
Welche Ecken der Schweiz würdet ihr uns ganz besonders empfehlen, wenn wir eine Beinhaus-Tour unternehmen möchten?

YMu: Ich denke mittlerweile in Beinhäusern. Wenn ich jemanden kennenlerne und frage, wo die Person wohnt, finde ich im Kopf sofort das nächstgelegenste Beinhaus und langweile mein Gegenüber dann mit irgendwelchen Geschichten oder Fakten darüber.

AKH: Wenn du jemanden damit nicht langweilst, dann weisst du, dass du mit der Person mal einen Tee (oder für die Cluewriterinnen: KAFFEE!!!) trinken kannst. Das ist doch praktisch.

YMu: Stimmt das wäre eine super Idee.

Aber im Ernst, wir haben die Schweiz aus einer für uns völlig unbekannten Sicht kennengelernt. Wisst ihr beispielsweise, wo der Ort Morlens ist, oder dass Sevgein eine wunderschöne Aussicht auf die Val Lumnezia bietet? Wir sind für dieses Projekt rund 25‘000 Kilometer mit dem Auto gefahren, um sämtliche Orte in der Schweiz und allen Nachbarländern zu besuchen. Dementsprechend habe ich nicht nur die Schweiz, sondern auch Anna ziemlich gut kennen gelernt. :) Und wir sind noch lange nicht am Ende angelangt.

AKH: Ich überlege gerade, ob das mit dem „mich kennen gelernt haben“, positiv oder negativ zu deuten ist. Aber um eure Frage zu beantworten: Am meisten Beinhäuser mit Knochen finden sich noch in Graubünden. Da dies ohnehin der schönste Kanton der Schweiz ist, würde ich diese Beinhäuser besonders empfehlen. Aber natürlich sind auch die berühmten Ossarien im Wallis, vor allem Naters und Leuk, auf jeden Fall einen Besuch wert.

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Der Skeptiker im Hinterkopf sieht das Logo vom Pano Verlag auf dem Cover und kann es nicht lassen zu fragen: Hattet ihr während der Zusammenarbeit mit einem theologischen Verlag jemals das Gefühl, im Ausdruck eurer Forschung an Restriktionen zu geraten oder Kritikpunkte an der Kirche freundlicher formulieren zu müssen, als geplant war?

Sevgein2AKH: Nein, im Gegenteil. Der Pano-Verlag ist der kulturgeschichtlich ausgerichtete Unterverlag des TVZs. Bei Pano werden die Bücher publiziert, die nicht theologisch sind. Insofern hat man von uns auch keine „frommen“ Aussagen erwartet. Wir wollten für dieses Thema unbedingt mit einem Schweizer Verlag zusammenarbeiten. Da ich mit TVZ/Pano bisher nur tolle Erfahrungen gemacht habe, haben wir diesen Verlag angefragt. Ich kann auch nach diesem Buch wirklich nur das Beste über den Verlag berichten. Das Lektorat war ausgezeichnet, die Zusammenarbeit mit dem Verlag kompetent, sehr freundlich und unterstützend. Der Verlag hat uns inhaltlich völlig freie Hand gelassen und hat uns sehr stark in die Diskussionen um die grafische Gestaltung miteinbezogen. Ausserdem ist es unserer Betreuerin vom Verlag, Corinne auf der Maur, zu verdanken, dass wir das Beinhaus in Sevgein quasi in letzter Minute noch entdeckt haben (und ja, dafür werden wir ihr wirklich ewig dankbar sein).

YMu: Dem kann ich mich anschliessen. Selbst ich als jemand, der keine theologische oder religiöse Ausbildung hat, wurde immer auf Augenhöhe behandelt. Ich habe noch nie eine dermassen professionelle Zusammenarbeit erlebt wie beim Ossarium Projekt. Wer mich kennt, weiss, dass meine Ansprüche immer etwas übertrieben hoch sind, hehe.

Noch nicht ganz am Ende unseres Schriftgesprächs angekommen, wollen wir uns zu einer unfreiwillig humorvollen Frage hinreissen lassen: Es kam des Öfteren vor, dass in den Beinhäusern Schabernack getrieben wurde, sodass man damit begann, die Gebeine mit – teils sehr kunstvollen – Gittern vor Witzbolden zu schützen. Auch wenn Grabschändung keine Lachnummer sein sollte, konnten wir uns beim Anblick des goldenen Schädels, der von einem Fasnächtler (Karneval- oder Faschingsbesucher) entwendet und „verziert“ worden war, ein Schmunzeln trotzdem nicht verkneifen.
Was glaubt ihr, woran es liegt, dass die Beinhäuser zu Streichen verlockten?

YMu: Naja, es wird wohl das jugendliche Rebellentum sein. Man wollte Grenzen ausloten und gängige Moral auf die Probe stellen. Es gibt übrigens noch einen zweiten goldenen Schädel und zwar im Beinhaus von Oppenheim. Dieser wurde meines Wissens für eine Filmproduktion im Beinhaus platziert und nach den Dreharbeiten gleich dort gelassen.

AKH: Die Tatsache, dass Beinhäuser auch für Schabernack benutzt wurden, zeigt, wie stark Ossarien und ihre Knochen in den Alltag der Menschen integriert waren: Beinhäuser gehörten wie selbstverständlich zum Leben dazu; es war normal, dass man irgendetwas mit ihnen „tat“ – und sei es ein Fussballspiel mit den Schädeln. Der Umgang mit den Knochen war auch von offizieller Seite her ein sinnlicher: Die Menschen haben in den Beinhäusern nicht nur aus der Distanz für die Verstorbenen gebetet, sondern sie haben die Schädel dabei auch berührt und sogar geküsst. Dieses enge Verhältnis zu den sterblichen Überresten nahm gewissen Personen allerdings auch die Hemmung davor, Blödsinn im Ossarium anzustellen. Wir sind auf eine Reihe von Geschichten gestossen, in denen Leute, die im Beinhaus Schabernack betreiben, bestraft wurden. Diese Erzählungen sollten natürlich eine abschreckende Wirkung erzielen. Sie zeigen aber auch, dass solcher Blödsinn früher ein Teil des – vielleicht sogar gängigen – Umgangs mit Beinhäusern darstellte.

Zu guter Letzt vergeht auch dieses Interview, denn wir sind bei der letzten Frage angelangt und möchten wissen, was eure Zukunft bringt. Auf welche Projekte dürfen sich unsere Leser von euch beiden freuen? Ist womöglich sogar eine erneute Zusammenarbeit geplant?

YMu: Ich liege Anna schon seit Monaten in den Ohren, dass sie endlich Ferien eingeben soll, damit wir die Beinhäuser Europas erkunden können. Leider ist das auch für mich berufsbedingt nicht immer möglich, aber ich habe bereits tausende neuer Fotos und Informationen auf der Festplatte und plane noch viele mehr zu sammeln (ich sammle übrigens gerne). Wie das projektmässig aussieht, kann ich noch nicht sagen. Vielleicht wird es ein Buch, vielleicht auch nicht. Was ich aber sicher verraten kann, ist, dass ich noch lange nicht genug habe. Ich hoffe dementsprechend, dass Anna es noch lange mit mir aushält.

AKH: Da ich eine so pflegeleichte Person bin, stellt sich die umgekehrte Frage, ob nämlich Yves es mit mir noch für ein weiteres Projekt aushält, zum Glück nicht.

YMu+AKH: Wir danken euch herzlich für die spannenden Fragen sowie für das Interesse an den Beinhäusern und dem Buch!

Mistail1Wir von Clue Writing möchten Dr. Anna-Katharina Höpflinger und Yves Müller herzlich dafür danken, dass sie sich die Zeit genommen haben, unser Interview zu beantworten – Grazia fich! Wir möchten allen, die Interesse an der kulturellen sowie theologischen Geschichte haben, die Lektüre wärmstens empfehlen. „Ossarium – Beinhäuser der Schweiz“ besticht mit informativen, neutralen und vielschichtigen Texten, welche die Knochen dem Makabren berauben und gleichzeitig die Faszination am historischen Hintergrund aufblühen lassen. Der Leser wird nicht bloss in unsere kulturelle Vergangenheit entführt, sondern sieht sich hier und da mit seiner eigenen, unausweichlichen Zukunft konfrontiert und erkennt durch den bildgewaltigen Beitrag von Yves Müller (so glauben wir), dass diese keineswegs schrecklich, sondern schrecklich schön sein kann.

HallstattWir wünschen Dr. Anna-Katharina Höpflinger, Yves Müller sowie den anderen Autoren, die dieses Werk so facettenreich gestaltet haben, weiterhin viel Forschermut und Erfolg mit ihrer Arbeit.

Besucht Anna-Katharina Höpflinger und Yves Müller auf ihrer Ossarium-Webseite.

Vielen lieben Dank an Anna, Yves und an unsere werten Leser
Eure Clue Writer
Rahel und Sarah

Custoza* * *

Dieses Interview wurde von Rahel geführt.

* Wie wir auf unserer Übersichtsseite zu den Interviews erwähnen, lehnen wir Projekte, die stark von religiösem Gedankengut geprägt sind für die Vorstellung kategorisch ab. Dies trifft nicht auf das wunderbare Werk von Anna-Katharina Höpflinger und Yves Müller zu. Das diskutierte Werk verfolgt keinesfalls religiöse Absichten, sondern klärt neutral über Brauchtum, Architektur und kulturgeschichtliche sowie generell historische Hintergründe auf. Sicherlich kommen Menschen mit einem starken Glaubens- und Kirchenbezug zu Wort und ergreifen die Gelegenheit, ihre vom Glauben geprägte Perspektive eindrücklich zu erläutern. Die Verfasser haben allerdings sorgfältig darauf geachtet, dass die Quelle von Aussagen stets eindeutig ist und Meinungen von Fakten getrennt bleiben.

Ferner halte ich es für angebracht im Rahmen dieses Interviews jeden Zweifel wegzuwischen und euch in Kenntnis zu setzen, dass ich – zuweilen auch mit aktivem Engagement – eine atheistische Überzeugung vertrete. Nicht trotz, sondern gerade deshalb habe ich grosses Interesse an religiösen Themen und bin sehr dankbar für all jene, die (wie Jean-Pierre Brunner) offen und fachlich fundiert über ihren Glauben sprechen und mir so die Möglichkeit geben, ihre Motivation und Entscheidungsfindung nachzuvollziehen. Dennoch ist klar, dass mir der persönliche Bezug zum Glauben und seinen Riten mehrheitlich fehlt und ich religiös motivierten Äusserungen sehr skeptisch gegenüberstehe.
Obwohl ich davon ausgehe, dass meine persönliche Weltanschauung keinen Einfluss auf die Interviewführung hatte, ist es mir wichtig, euch transparent über allfällige Vorbehalte zu informieren.

Vielen Dank
Rahel

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