„Die Mindesthaltbarkeitsfrist des Herstellers liegt in ferner Zukunft”, murmelte Flo überrascht, nachdem er die unbeschadet aussehende Cornflakespackung kräftig durchgeschüttelt hatte, um sie zügig in seinem Rucksack verschwinden zu lassen. Hinzu kamen vier Joghurtbecher, deren Deckel noch nicht ausgebeult waren, Südfrüchte, ohne Ende Rosenkohl und Brot. Abgepacktes, in sauberen Scheiben getrenntes, Brot. Die Kleinstadt lag in einen nachtblauen Schleier gehüllt und die erdrückende Ruhe, die im sonst so geschäftigen Industriegebiet eingekehrt war, schärften Flos Sinne bis aufs Äußerste. Sein Körper protestierte. Sein Adrenalinausstoß musste in vollem Gange sein.
„Jetzt nur nicht erwischen lassen“, dachte er und tauchte noch ein Stück tiefer in den Container. Jetzt steckte er mit beiden Armen bis zu den Ellenbogen im Müll.
Er ertastete etwas Rundliches. Etwas, das mit einer straffen Haut versehen schien. Es fühlte sich kalt an. Seine Stirnlampe half ihm bei der Identifikation seines Fundes nicht weiter. Er musste sich ganz auf seine drahtigen Finger verlassen. Mit Nachdruck durchdrangen seine Fingernägel schließlich die kalte Oberfläche und endeten in einem Meer aus glibberigen Fruchtfleisch. „Tomaten”, kam es ihm in den Sinn. Seinen Zeige- und Mittelfinger in das rote Gemüse gequetscht, fischte er vier Paradeiser, die hübsch aneinandergereiht an einem Strunk hafteten, aus dem Inneren des Müllcontainers.
„Mit den Druckstellen will die sicher kein Konsument mehr haben”, brummte er zynisch, begleitet von einem nachdenklichen Nicken. „Naja, ich bin ja auch kein Konsument. Ich bin ein Dieb”, sagte er zu sich.
Er nahm den Schweiß wahr, der sich auf seiner Stirn angesammelt hatte und der sich nun in aller Seelenruhe den Weg in Richtung seiner Schläfen bahnte. Kopfschüttelnd grübelte Flo, wozu er das Ganze überhaupt veranstaltete. Unruhig rückte er seine Stirnlampe zurecht und wischte sich die Schweißspur aus dem Gesicht.
„Lina hat Glück, dass ich so verliebt in sie bin. Sonst würde ich diesen ganzen alternativen Zirkus sicher nicht veranstalten.“
Noch nie zuvor in seinem Leben war Flo sich wegen einer Sache so sicher gewesen wie mit Lina: Diese Frau war seine Zukunft. Für sie würde er alles tun. Eben wie jetzt.
Dass er die Containerschicht für sie übernahm, war nicht selbstverständlich für ihn. „Du begehst ein Verbrechen im Superheldenkostüm, wenn du übernimmst, was mir wichtig ist”, hatte Lina gesagt, bevor sie sich für sechs Wochen mit einem Kuss ins Ausland von ihm verabschiedet hatte, um in einer Aktivistenbewegung gegen die Privatisierung von Wasser anzugehen. Ob die Figur des kriminellen Superhelden als Metapher für die Repräsentation des Unbewussten auf der Metaebene funktionierte?
Flo wusste es nicht. Wenn man ihn jetzt erwischen würde, könnte er sein Jurastudium in die Tonne treten und seine Eltern würden erstmal nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.
Während er versuchte, seine schweren Gedanken beiseite zu schieben, tasteten seine Hände an den inneren Wänden des Müllcontainers entlang.
Dann berührte er etwas, das sich ungewöhnlich für den Inhalt eines Biocontainers anfühlte. Es kam nicht der Oberfläche eines Lebensmittels gleich. Etwas, das sich eben, aber nicht glatt, weich oder faserig anfühlte. Rechteckig, aber mit abgerundeten Ecken. Krampfhaft versuchte Flo nach dem Gebilde zu greifen. Nach ein paar Versuchen gelang es ihm schließlich und er hielt den Einband eines Buches in der Hand.
„Lässt du wohl endlich deine dreckigen Finger aus meiner Tonne!”
Erschrocken fuhr Flos Kopf nach links und rechts. Seine Lampe warf hektische Lichtkegel in die Dunkelheit. Unauffällig ließ er den Buchumschlag zurück in die Tonne gleiten.
Die junge Frühlingsnacht hatte jedem Ahornblatt des majestätischen Spitzahorns ein frisches, grünes Farbkleid verpasst, das selbst im künstlichen Licht der dürftigen Supermarktbeleuchtung etwas hermachte. Mehr konnte Flo mit seiner Stirnleuchte aber nicht erfassen.
„Ich habe nicht gewusst, dass es Ihre Tonne ist!”, rief Flo einem Gegenüber zu, das er nicht sehen konnte. Er ließ seine klebrigen Fingerspitzen über seinen Daumen kreisen. Dabei lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Stumpf fühlten sich seine Finger an. Und lehmig.
„Normalerweise mache ich sowas nicht!”
Flos Stimme zitterte und mit einem Mal war ihm speiübel. Nun hatte sich seine Rolle vom Retter der Wegwerfgesellschaft in einen stockernsten Feigling gewandelt.
„Du machst es aber gerade, du Kacknase!”, zeterte der Unbekannte weiter.
Flo entfernte sich ein paar Schritte vom Container, um noch etwas intensiver seine Umgebung zu fixieren. Dann schaltete er die Stirnlampe aus. Die silberne Oberfläche des NATO-Drahts, mit dem die Containerspaliere des Supermarktgeländes umzäunt waren, schimmerten im spärlichen Licht der Hinterhofstrahler.
„Du bestiehlst mich. Du hast hier nichts zu suchen!”
„Arbeitest du hier?”, wollte Flo wissen und erkannte die Stimme schließlich als die eines älteren Mannes, die er im Gestrüpp verortete.
„Pah, arbeiten. Du dummer Junge”, hörte Flo den Fremden fluchen. Ein glühender Zigarettenstummel wurde aus den Hecken geschnipst und landete vor Flos Füßen. Als er auf dem nachtgrauen Asphalt auftraf, sprühten die Funken.
Flo überkam ein seltsames Gefühl. Er fragte sich nun noch mehr, was er überhaupt hier draußen sollte. Er dachte an sein Onlinegame, das er gezockt hatte, bevor er hierhergekommen war, bevor er Linas Wohnung verlassen hatte, um die Pflicht der Container-Community zu erfüllen, die eigentlich nicht seine eigene war. Wie gerne würde er genau jetzt in diesem Moment die Esc-Taste drücken, um der ganzen komischen Situation, in die er sich selbst gebracht hatte, zu entgehen. Doch das war nicht möglich. Das war kein Spiel.
Knie schlotternd stand er mitten in der Nacht irgendeinem Typ gegenüber, nachdem er verbotenerweise den Inhalt irgendwelcher Tonnen ausgeräumt hatte, der offensichtlich jemandem gehörte.
„Ich wohne hier”, sagte der Mann, der weiterhin in den Hecken verharrte.
„Hinter dem Müllcontainer?”, fragte Flo ungläubig.
„Ich darf mir die Reste nehmen, die der Supermarkt in den Tonnen ansammelt.”
Flo verstand. „Dann nehme ich dir dein Essen weg?”
„Genau richtig, du Bürschchen!“
Schließlich schob der Mann die Äste beiseite und trat aus seinem Versteck hervor. Mit breiten Schritten ging er auf Flo zu.
„Du hast mein Buch ausgegraben!”, stellte der alte Mann klar. Seine Statur war beleibt. Das konnte Flo erkennen. Auch, dass der graue Bart des alten Mannes seine Lippen verdeckte und ihm im Gesicht herumwucherte.
„Von welchem Buch sprichst du?”, fragte Flo vorsichtig.
Der Obdachlose näherte sich der Tonne und griff nach dem Einband. „Es ist der Umschlag meines Tagebuchs. Ich habe meine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Über sechs Jahre habe ich die Straße dokumentiert. Nun ist es Zeit, sie den Weg ins Leben finden zu lassen.“
„Ihren Weg ins Leben? Und du meinst, dass sie an der richtigen Stelle ist, wenn du sie in den Müll wirfst?”
Flo sah den Mann an und runzelte skeptisch die Stirn.
„Ich schmeiße nie etwas weg, was man noch gebrauchen kann”, gab der Mann unbeirrt zurück, zündete sich eine frische Zigarette an, fischte nach seinem Notizbuch, schlug den Einband wieder um das Werk und legte es behutsam zurück in den Müllcontainer.
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