Die Geschwister Bernhard Haus und Helga Boot hatten vor einigen Jahren die Firma ihres Vaters, eine Hausbootvermietung, übernommen. Sie änderten den Firmennamen zu HausBoot GmbH und unterzeichneten minderwichtige Dokumente mit HB GmbH (BH GmbH wäre für eine Bootsvermietung wohl zu anzüglich, wenn nicht sogar ein kleinwenig frivol gewesen).
Die Geschwister betrieben das Unternehmen ebenso erfolgreich wie ihr Vater. Die Hausboote waren meist vermietet, nur Gretchen, das elterliche Hausboot lag seit Mutters Tod im Hafen.
Der alte Kahn war für Bernhard ein rotes Tuch. An Gretchens Holzbalken nagte der Zahn der Zeit, ihr extravagantes Accessoire, ein schmiedeeiserner Wetterhahn, hatte Rost angesetzt. Alles in allem war Gretchen wahrlich keine Augenweide und außerdem blockierte sie einen Liegeplatz, der mit einem neuen Hausboot Geld gebracht hätte.
„Wir müssen Gretchen endlich verschrotten. Dieser alte Kahn verschandelt das Gesamtbild unserer Firma“, schimpfte Bernhard während einer Besprechung mit seiner Schwester im elterlichen Haus.
„Bernie, du weißt doch, dass Vater Gretchen niemals verschrotten lässt. Gretchen war das Lieblingsboot unserer Eltern, viele schöne Stunden haben sie dort verbracht. Vater hat unsere Mutter über alles geliebt, selbst das Boot hat er nach ihr benannt.“
„Unsere Mutter werde ich auch niemals vergessen“, erwiderte Bernhard, „Gretchen ist kein erfreulicher Anblick. Die Bretter sind morsch, die Einrichtung ist alt und schäbig. Das Boot kostet nur Geld. Wenn wir …“
„Bernhard“, unterbrach Ferdinand Haus, der unbemerkt den Wohnsalon betreten hatte, „ich werde euch nicht daran hindern, Gretchen zu verschrotten. Du hast Recht, das Boot ist alt und schäbig. Dass ich an Gretchen hänge, ist kein Geheimnis. Ich habe einen Wunsch: Im Gedenken an eure Mutter, geht mit mir ein letztes Mal an Bord.“
„Selbstverständlich, Vater, diesen Wunsch erfüllen wir dir gerne“, antwortete Helga lächelnd. Ferdinand Haus schmunzelte zufrieden, vielleicht sogar ein bisschen schadenfroh, das allerdings bemerkten die Geschwister nicht.
„Habt ihr gehört, Bernhard, der Geizkragen und Pfennigfuchser, will uns verschrotten!“, krächzte der Wetterhahn, der seit Jahren auf Gretchens Dach Ausschau nach Wind und Feinden hielt. Des Gockels Lack war abgesplittert, Wind und Wetter hatten ihren Tribut gefordert.
„Ja, ja, Bernie ist ein Geizhals“, miaute die Plüschkatze Mia. „Wir und der alte Ferdinand halten Gretchen hoch! Hier ist noch alles so wie vor Gretes Tod“, knurrte Mia. Wieder einmal hatte sie der dämliche Gockel aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen. Gähnend streckte sie ihre Pfoten, erhob sich gemächlich und machte einen formvollendeten Katzenbuckel. Anschließend putzte sie sich genüsslich hinter den Ohren. Nun war die Welt für Mia wieder in Ordnung.
Grete Haus, Bernhards und Helgas Mutter, war kurz nach einem Faschingsfest hier auf Gretchen verstorben. Grete liebte ihr Hausboot, es war klein und heimelig. Einfach ein Ort, an dem man die Welt um sich herum vergessen konnte. Herr Haus hatte es nicht übers Herz gebracht, die Faschingsdekoration, die von Regalen, Balken und Riegeln hing, zu entfernen. Er wusste, wie wichtig seiner Frau dieses Wohlfühlambiente war.
„Iiiiiiee…!“ Blechernes Quietschen von rostigem Metall unterbrach Mias Körperpflege. Aufgeregt drehte sich der Wetterhahn nach links und nach rechts, einmal schneller, einmal langsamer, so wie der Wind es wollte.
„Gockel spielt wieder einmal verrückt.“, miaute Mia, sprang auf die Lehne der Couch und blickte aus dem Fenster.
Dunkelgraue Wolken lagen über dem Wasser, hie und da fiel ein Regentropfen auf die Wasseroberfläche. Dann brach der Sturm los, wild trommelten die Regentropfen gegen die Fensterscheiben.
„So ein Sauwetter!“, zeterte Mia, hüpfte auf ihren Lieblingsplatz zurück und rollte sich zusammen.
„Wir müssen etwas unternehmen“, murmelte sie schläfrig, „Gretchen und wir dürfen nicht verschrottet werden!“
„Völlig richtig, Mia“, raunten die Seiten eines Märchenbuchs, das seit langem im Regal stand. Staub wirbelte auf, als die Seiten aneinander rieben. „Immerhin war Gretes Lieblingsmärchen ‚Die Bremer Stadtmusikanten‘ und …“
Die Eingangstür knarzte.
„Wer das Alte nicht ehrt, ist das Neue nicht wert!“, las Helga zum x-ten Mal den Spruch, der in den Balken von Gretchens Eingangstür geschnitzt war. Bernhard brummte Unverständliches, das wie „Quatsch“ und „Innovation“ klang. Der alte Herr Haus schmunzelte zufrieden.
Die Drei betraten das Wohnzimmer des Hausboots. Es war muffig. Ferdinand Haus ließ die Eingangstür einen Spalt offen. Frischluft schadete bestimmt nicht.
Helga betrachtete das Bücherregal und entdeckte das Märchenbuch. „Erinnerst du dich noch, Bernie, Mutter hat uns oft daraus vorgelesen. Mein Lieblingsmärchen war Rotkäppchen und deines Rumpelstilzchen. Du wolltest immer der König sein.“
„Werd‘ mal nicht sentimental“, rügte Bernhard seine Schwester. „Das ist alter, verstauber Krempel. Das Buch kannst du dir ja mitnehmen. Vater und du, ihr lebt in der Vergangenheit. Denkt doch endlich an Neues!“ Zornig fuhr er mit der Hand über die Faschingsdekoration.
„Sieh nur“, maulte er und betrachtete das Häufchen Staub auf seinem Finger, „diese Girlande ist genauso verstaubt wie ihr.“
Bernhard schnappte den Papierkorb, fasste die Girlande und wollte sie abreißen.
„Nun aber langsam!“, knisterte die Girlande böse.
Polternd landete der Papierkorb am Boden. Bernhard Haus starrte die Girlande mit offenem Mund an, er bewegte sich nicht. „Ich habe heute noch gar keinen Alkohol getrunken“, stammelte er, „und trotzdem höre ich die Dekoration sprechen!“
„Selber schuld“, knarzte der dosenförmige Bleistiftspitzer und spitzte und spitzte, obwohl gar kein Stift in ihm steckte. Das schabende Geräusch hauchte Bernhard Leben ein. Er schüttelte seinen Kopf, schloss kurz die Augen und riss sie sofort wieder auf. Der Bleistiftspitzer stand still am Schreibtisch, die Dekoration hing friedlich von der Decke.
Bernhard fasste erneut nach der Girlande und dann geschah es: Wütend sprangen die Büroklammern aus ihrem Behälter. Stehend formierten sie sich zuerst zu einem Kreis, dann zu einer Kugel und schließlich zu einer Armee.
Fauchend sprang Mia auf den Tisch. Sie schubste einen abgebrochenen Flaschenhals so lange, bis ein Ende Richtung Bernhard zielte. Dann positionierte sie ihre Pfote auf dem Flaschenhals und wartete.
„Spitzi, Spitzi!“, feuerten die Büroklammern plötzlich den Bleistiftspitzer an. Spitzi wackelte zur Tischkante. Er war bereit, für Gretchen alles zu geben. Todesmutig stürzte er sich in die Tiefe. Mit einem dumpfen Knall landete er am Boden. Der Deckel des Dosenspitzers löste sich durch den Aufprall und der Bleimü (auch Bleistiftanspitzmüll genannt; aber wer kann denn diesen Zungenbrecher schon von sich geben?) rutschte aus dem Behälter.
„Kikeriki“, quietsche der Wetterhahn blechern. Das Zeichen, auf das alle gewartet hatten.
Ein Lampion fiel zu Boden und öffnete sich. Ein scharfer Luftsog beförderte den Bleimü in sein Inneres. Hilfsbereit lösten die Girlanden ein Ende von der Decke, schlängelten sich um den Draht des Lampions und hievten ihn auf den Tisch. Wie aus dem Trojanischen Pferd sprangen die Spitzabfälle heraus. Der Luftsog und die Dekoration pusteten wie ein Blasebalg die Flocken in Bernhards Gesicht.
„Gut gemacht“, rief eine der Büroklammern, „der Feind ist abgelenkt!“ Sie bog sich auf und bildete eine Rampe vom Tisch in den Flaschenhals.
Darauf hatten die Büroklammern nur gewartet. In Reih und Glied marschierten sie die Rampe hoch auf den Flaschenhals, der an der Kippkante des Tisches lag. Mia drückte rabiat ihre Pfote hinunter. Sie ließ los und drückte nochmals. Der Flaschenhals wippte immer schneller. Wie Pfeile schossen die Büroklammern empor und prasselten auf Bernhard nieder. Er duckte sich und hielt schützend seine Unterarme vors Gesicht. Sobald das erste Büroklammer-Geschwader seine Abschussrampe verlassen hatte, stürmte das nächste und das nächste und das nächste voran, solange, bis alle Büroklammern verschossen waren. Dann wurde es still.
„Das Leben auf Gretchen ist ein Fantasiegebilde deiner Mutter. Ihre Liebe zu Gretchen war so stark, dass selbst das Inventar ein Eigenleben hatte und hat. Willst du Gretchen noch immer verschrotten?“, fragte Ferdinand Haus seinen Sohn und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
Bernhard schüttelte seinen Kopf.
„So ist’s recht“, raschelte das Märchenbuch erfreut und Mia schmiegte sich an Bernhards Beine. Selbst der rostige Gockel schrie ein letztes Mal: „Kikeriki. Wer das Alte nicht ehrt, ist das Neue nicht wert! Kikeriki.“