Ich hasse es, wenn meine Schuhe nicht gleich fest gebunden sind, genauso wie ich es untertäglich finde, wenn mein Zopf nicht exakt in der Mitte meines Hinterkopfs liegt oder wenn die Anzahl Erdnüsse in meiner Snackschale ungerade ist. Ich bleibe stehen und mache mir selbst einige Sekunden vor, ich würde nur meine mittlerweile aufgewärmten Muskeln dehnen wollen, ehe ich meinen linken Schnürsenkel löse und neu verknote, dieses Mal richtig. Meine Puls-Uhr warnt mich mit ihrem immer schneller werdenden Piepsen davor, mich zu lange von meinen absurden Zwängen aufhalten zu lassen und als das schrille Geräusch durch meine Kopfhörer endlich zu mir durchdringt, werde ich nervös. Manchmal komme ich mir vor wie der Pawlow‘sche Hund, so sehr war ich darauf trainiert, auf gewisse Reize zu reagieren und das nicht nur, wenn es um meine Puls-Uhr ging. Aber es gab schließlich schlimmeres als Konditionierung, sie ist ein gutes Werkzeug zur Selbstdisziplinierung, insbesondere dann, wenn intrinsische Motivation keine Option ist. Schnell, bevor die Reizstimulation mit einem einzigen Blinzeln wieder in Vergessenheit gerät, richte ich mich auf und laufe weiter.
Nach drei Minuten ist mein Herzschlag wieder im Trainingsbereich und ich entspanne mich etwas, während ich die friedfertige Stimmung am Flussufer genieße. Im Spätsommer wollen die Vögel selbst am Morgen nicht mehr so richtig singen, doch ich bin froh darüber, so zwitschern sie mir wenigstens nicht zwischen meine sorgfältig zusammengestellte Lauf-Playliste. Als ich am großen Baum hinter der Grillstelle vorbeikomme, fällt mir wieder ein, dass ich doch schon seit langem meine Kamera hatte mitnehmen wollen. Selbstverständlich ist es nichts weiter als reine Selbstüberschätzung, dass sich irgendwer für meine szenische Joggingroute interessieren würde, dennoch bleibe ich hartnäckig dabei und plane, ein Video davon auf Youtube hochzuladen. Vielleicht würde ich ja doch noch zur großen Fitnesssensation werden, fantasiere ich vor mich hin, immerhin war auch schon Seltsameres passiert. Doch das Passieren meiner drei Kilometer-Marke holt mich jäh in die Realität zurück, denn ich bin seit vierzehn Minuten unterwegs und liege damit gute zwei Minuten unter meiner regulären Laufzeit. Wenn das so weitergeht, denke ich entnervt, werde ich meine zehn-Kilometer-Runde heute nicht rechtzeitig beenden können und das würde nicht nur bedeuten, eine persönliche Niederlage einzustecken, sondern auch, zu spät zu meiner Besprechung zu kommen. Selbstverständlich könnte ich den Verlust einfach wieder wettmachen, wenn in meinem Vorgarten eine Tardis stehen würde, aber leider sehe ich nur aus wie ein Time Lord und bin keiner.
Darum bemüht mein Tempo zu steigern und danach zu halten, konzentriere ich mich verbissen auf meine Schrittkadenz und beginne damit, meinen Atemrhythmus so anzupassen, dass ich jeweils vier Schritte lang aus- und zwei einatme.
Der Wald wird etwas dünner und schon bald werde ich auf den Kiesweg kommen, der am Fluss entlang auf eine kleine Anhöhe führt und schon jetzt graust mir davor, die Steigung im letzten Abschnitt hochlaufen zu müssen. Eigentlich hätte ich an diesem Morgen sogar einen legitimen Grund dazu, meine Route ein wenig abzukürzen und ich könnte auch einfach vor dem Anstieg kehrtmachen, dann wäre ich zumindest noch sieben Kilometer gerannt. Die Idee ist wirklich verlockend und ich überlege eine Weile, wäge das Für und Wider ab, doch als ich zu der Brücke komme, biege ich beinahe instinktiv in die Richtung des Kieswegs ab und trabe, ohne mich umzusehen, auf den Hügel zu. In Momenten wie diesen fühle ich mich grandios, so als hätte ich mich selbst und mein Leben komplett im Griff, als gäbe es nichts, das meiner Kontrolle entgleitet. Klar, es ist ein wenig widersprüchlich, dass mir gerade angelernte Automatismen zu diesem Eindruck verhelfen, aber während mein Körper eingebildete Schwerstarbeit leistet, mag sich mein Gehirn nicht mit solchen Hinterfragungen beschäftigen. Immerhin geht es hier um meine Gesundheit, ich laufe hier um mein Leben, das mir früher oder später entgleiten würde, wenn ich mir erlaubte, mich von meinen Zweifeln wieder in die Faulheit stoßen zu lassen.
Auf halber Strecke zum Miniatur-Berggipfel kommt mir der Mann entgegen, der mir auf fast jeder meiner Trainingsrunden begegnet und der stets seine Hand zum Gruß hebt, kurz bevor er auf meiner Höhe ist. Ich habe noch nie ein Wort mit ihm gewechselt und kenne seinen Namen nicht, aber ich nenne ihn Markus und immer wenn wir uns kreuzen, fühle ich mich ihm verbunden. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich verzweifelt versuche, mich in meiner neuen Sportwelt zuhause zu fühlen und was wäre ein Zuhause ohne die Wärme eines Gleichgesinnten. Der Gedanke bringt mich zum Lachen, weil er für mich noch absurder und untypischer ist als mein rigoroses Gesundheitsprogramm. Das einzig Warme in meiner Wohnung ist meine Katze, die meistens lediglich dann zu mir kommt, wenn die Mausausbeute mal wieder zu knapp ausgefallen war oder sie ihre Kampfwunden in Ruhe abheilen lassen wollte. Das macht mir natürlich nichts aus, ich mag es so und nach alledem was ich während meiner Kindheit in einer Großfamilie erlebte, bin ich froh, weder mein Schlafzimmer, das Bad noch meine Haarbürste mit jemandem teilen zu müssen.
Kilometer Siebeneinhalb ist zum Greifen nahe, direkt hinter der nächsten Kurve steht der Wegweiser, der, wenn man denn genau sein will, sieben Kilometer und vierhunderteinundachtzig Meter von meinem Haus entfernt ist, jedenfalls wenn man der Jogging-App auf meinem Handy glauben kann. Hätte ich etwas mehr Zeit, würde ich bei der Bank gleich daneben kurz rasten und meine Beine und meinen Rücken dehnen, vor allem weil ich nach dem Anstieg fix und fertig bin, es mir aber nicht eingestehen will. Ein kurzer Uhrencheck verrät mir aber, dass die Zeit für mich nicht so wackelig und undefiniert ist, wie ich es mir wünschen würde, also konnte ich mir diese Verschnaufpause heute nicht leisten. Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die verwitterte Parkbank trabe ich weiter und weiß jetzt schon, dass meine Muskeln es mir nicht danken werden. Manchmal ist es einfach nicht möglich, Muskelkater zu vermeiden, denke ich mir und im Prinzip freue ich mich schon richtig darauf, jeder meiner Muskeln zu fühlen. Es hat durchaus etwas Schönes, wenn man bei jeder Bewegung daran erinnert wird, dass man trotz des schlechten Wetters, der fehlenden Zeit oder der unzähligen anderen Beschäftigungsmöglichkeiten seinen Hintern hochbekommen hat und Laufen gegangen ist. Obwohl man danach so steif wie eine Gliederpuppe durch die Welt stakst, ist es toll, denn das ist der Roboter-Gang eines Kriegers, überlege ich scherzhaft und beschleunige meinen Schritt.
Das wirklich Unangenehme am Aufwärtslaufen ist das unweigerlich folgende Abwärtslaufen. Man könnte meinen, dass es Spaß machen würde, sich vom Gefälle antreiben zu lassen, doch in Wahrheit ist es viel anstrengender als sein Konterpart, das Aufwärtslaufen. Wann immer ich über den Hügel hinweg bin und das Tal unter mir liegt, muss ich mich so sehr darauf konzentrieren, nicht meine Schultern hochzuziehen und mit verkrampften Schritten abwärts zu stolpern, dass ich regelmäßig glaube, meine mentalen Kräfte wären nach dem Lauf komplett ausgelaugt. Jetzt geht es mir natürlich nicht anders und ich komme mir so vor, als hätten sich meine ultramodernen Sportschuhe in dicke Bücher verwandelt und damit meine ich keine kleinen Unterhaltungshefte für Kinder, sondern so etwas wie ein voll ausgewachsener Duden. „Atme ruhig und gleichmäßig“, sage ich mir, „nutze die Pendelbewegung deiner Arme zum Abbremsen“.
Ich renne nun schon seit etwas über vierzig Minuten, meine Beine fühlen sich müde an und ich will gar nicht wissen, welche Farbe mein Gesicht hat. Aber das viele Rennen gehört einfach dazu und auch wenn ich manchmal wehmütig an die Zeit zurückdenke, die ich mit Kartoffelchips auf meinem Sofa zugebracht habe, währendem ich anderen beim Rennen in Converse-Schuhen zugesehen habe, macht es dennoch Spaß. „Zähle deine Schatten, blinzle nicht und renn um dein Leben“, höre ich die Stimme meines kindischen Helden im Hinterkopf und lache laut los. Da kommt mir eine Idee, morgen werde ich spätabends joggen gehen, ich will unter der Milchstraße rennen, wer weiß, vielleicht verwandelt sich das Flussufer in eine fremde Welt und ich sehe endlich ein, dass ich nicht bloß aus Sturheit, sondern auch aus reiner Freude laufe.