Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Und auf einmal kehrt Ruhe ein. Die Hektik fällt unter dem Druck einer schweren Gewissheit in sich zusammen, wir treten zurück und ich mache offiziell, was uns allen klar ist: „Zeitpunkt des Todes: Zwei Uhr dreiundfünfzig.“ Meine rechte Hand, Schwester Thea, nickt mir aufmunternd zu. Ich erwidere die Geste, sie ist Routine geworden. „Bereiten Sie ihn vor. Ich spreche mit der Familie.“
Mein Besteck landet in der Nierenschale, der Schurz im dafür vorgesehenen Abfalleimer beim Durchgang zum Waschraum. Das Waschen ist zum Ritual geworden, einem, das ich liebgewonnen habe. Durchatmen, meine Reflektion im Spiegel anstarren, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Dieser Moment, unmittelbar nachdem ein Menschenleben unter meinen Fingern sein Ende gefunden hat, ist mir heilig. Doch er dauert keine drei Minuten, dann stehe ich schon auf dem Flur des OP-Trakts und marschiere zu den Fahrstühlen.
In der Aufzugkabine dudelt ein seelenloses Lied aus den Lautsprechern, es knackt und scheppert, dazu ruckelt der Lift. Als die Schiebetür aufgeht, verharre ich einige Sekunden, ehe meine Sohlen den Linoleumboden der Lobby berühren. Wer die Nachtschicht auf der Notaufnahme abdeckt, vermeidet es, sich über die Stille zu freuen. Abergläubisch bin ich nicht, dennoch habe ich noch nie die verwunschenen Worte, „schön ruhig heute“, gemurmelt. Sie seien ein böses Omen, oder ein Fluch, der die Stadt ins Desaster stürzt, so zumindest die Legende.
Mit länger werdenden Schritten entferne ich mich von den Aufzügen und lasse neben ihnen auch mein Dasein als Operateur für eine Weile hinter mir. Je näher ich dem Wartebereich komme, desto mehr werde ich zum Überbringer tragischer Neuigkeiten. Dieser Teil meiner Arbeit ist, wie soll ich sagen … der schlimmste und wertvollste zugleich. Ein Teenager schläft ausgestreckt auf den Plastikbänken, etwas versetzt gegenüber redet ein älteres Paar leise über Kopfschmerzen. Weiter hinten, vor dem Ficus beim Wasserspender, kauert eine magere Frau. Auf dem Henkel ihrer Tasche knetend, wiegt sie sich zum Takt ungehörter Musik und da weiß ich, wer sie ist.
„Frau Rüttger?“, wende ich mich an sie. Sie zuckt erst zusammen, springt danach hoch und meint heiser: „Ja. Ist mein Mann … Wie …“ Ihr Gesicht zeigt Hoffnung und Panik gleichzeitig, ein Ausdruck, an den man sich niemals gewöhnen sollte, einer, an den ich mich vor Jahren gewöhnt habe.
„Frau Rüttger, ich bin Thomas Giesinger, der Chirurg Ihres Mannes. Möchten Sie bitte mit mir mitkommen, damit wir uns unterhalten können?“ Ihre Angst steigt, aber noch will die Zuversicht nicht weichen. Ohne ihr Zeit für eine Antwort zu geben, drehe ich mich um und gehe voraus. Im an die Lobby grenzenden Westflügel stehen die Räumlichkeiten der Elternberatungsstelle mitten in der Nacht leer. Die freundliche Atmosphäre und die Nähe zum Eingangsbereich machen Zimmer EB006 zum besten Ort für schwierige Gespräche. Ich ergreife die Klinke und mache eine einladende Handbewegung. „Hier entlang, bitte.“
„Mein Mann“, beginnt sie aufgelöst, erste Tränen rollen ihre Wange hinunter, Verzweiflung macht sich breit. „Mein Mann, ist er … ist er okay?“ Frau Rüttger wird langsamer, zögert und scheint zu bemerken, in Zimmer EB006 gibt es kein Zurück.
„Bitte“, bedeute ich ihr, einzutreten. „Gleich können wir über alles sprechen.“ Statt mich auf die andere Seite des Tisches zu begeben, stelle ich meinen Stuhl neben ihren und lasse sie Platz nehmen. „Frau Rüttger.“ Ich setze mich ebenfalls, sehe ihr fest in die Augen, bevor ich meine schließe und erkläre: „Leider muss ich mitteilen, dass Ihr Mann trotz unseren Bemühungen verstorben ist.“ Abwarten, die Nachricht sinken lassen, ihr Raum geben.
Herr Rüttger, stumpfes Schädelhirntrauma mit Fraktur der Schädelbasis, ist der sechshundertste Patient, den ich verloren habe. Sechshundert. Sechshundert Väter, Mütter, Ehemänner, Tanten und Freunde. Sechshundert Söhne und Töchter, die sich in meine Karriere und mein Leben brannten. So ist das, wenn man als Notfallchirurg in Nigeria, im Kongo und in Syrien Dienstjahre sammelt, sich ohne Grenzen humanitären Katastrophen entgegenstellt. Hier ist vieles anders, einfacher möchte man behaupten, das Leid der Hinterlassenen ist allerdings dasselbe.
„Okay“, flüstert sie und wischt sich mit dem Ärmel ihrer nachtblauen Bluse über die Nase. „Okay. Ich verstehe.“ Ihre versteinerte, trügerisch teilnahmslose Miene ist normal und ich wünsche mir, sie weiß das auch.
„Frau Rüttger, haben Sie Fragen, die ich Ihnen beantworten darf?“ Wenn nicht jetzt, dann später, in diesem Augenblick geht es einzig und alleine darum, ihr genau das zu geben, was sie braucht. Seien es nun Informationen, eine Umarmung, eine Projektionsfläche für Wut, Absolution für Erleichterung oder Schweigen.
„Nein“, haucht sie ein loses Nagelhäutchen abzwackend. „Nein, ich glaube, die Situation ist selbsterklärend. Ein Säufer weniger am Steuer, nicht wahr?“, sie lacht bitter, legt den Kopf in den Nacken und stößt ein kehliges Geräusch aus. Ich erkenne, wie ihre Trauer von Erleichterung verdrängt wird, das Lachen wird lauter, befreiter. Da erhebt sie sich ruckartig, blonde Strähnen kleben an den tränennassen Wangen, als sie sich geschwind im Kreis dreht und jauchzt: „Ein verfluchter Säufer weniger!“
Vorsichtig lächle ich sie an und nicke ihr, wie Schwester Thea vorhin, aufmunternd zu. Dies ist mein sechshundertstes Mal und ja, Freudentaumel sind selten, wenn auch nicht unbekannt. Und irgendwie bin ich froh, dass meine Sechshundert mit Jubel gefeiert wird.