„Sie sollten wirklich ein Deodorant verwenden“, wettert der Mann im Anzug, den ich zuvor „Pinguin“ getauft habe, den Hispter, Typ „vierzigjähriger Pseudoaussteiger“ an, der aus mysteriös bleibenden Gründen einen einzelnen Ski hält. Dieser brummt ein halbwegs salonfähiges Schimpfort und steigt, gefolgt von dem vermeintlichen Südpolbewohner, schirmlos in den Wolkenbruch aus. Ja, es ist ein ständiges Ein und Aus in meiner Acht. Was die Acht ist? Eine Straßenbahn-Linie, selbstverständlich, was sollte sie sonst sein, ein Zeppelin? Sie verbindet das langsam aufstrebende, quasi prä-gentrifizierte Wohnquartier auf der falschen Seite der Geleise, wo wir jetzt halten, mit dem Rotlicht- und Hipster-Viertel, dem Bankenplatz und zu guter Letzt dem See. Zumindest spätabends, tagsüber fährt sie weiter in die sonnigen Hügel über der Stadt, die mich kein Bisschen interessieren, weil sie schlichtweg langweilig sind, da würde mir jeder zustimmen. Meine Acht endet am See, wird das auch immer tun, eine andere Sicht der Dinge ist schlichtweg inakzeptabel. Der kurze Siebziger-Jahre-Tramzug steht an der Endhaltestelle und geisterhafte Stille erfüllt den Wagen, nur das leise Trommeln der Wassertropfen auf dem Dach ist zu hören. Ich beobachte abwesend, wie das Band der alten Zielanzeige durchrollt, bis wieder der Platz am See dasteht. Auf dem Display verstreichen die Minuten zur Abfahrt, drei, zwei, eine, gefolgt von dem „Willkommen/Welcome“-Schriftzug. Der Wagen bleibt unbesetzt, es ist bereits etwas nach dreiundzwanzig Uhr und ich bin mir nicht sicher, ob er noch viele Runden drehen wird; vorerst bin ich mit meiner Tageskarte noch erwünscht hier. Mit dem Absatz meines Schuhs klopfe ich für einige Sekunden einen durch das Linoleum gedämpften Rhythmus, werde jedoch unsanft abgelenkt, als ich bemerke, wie mich mein verrutschter Slip an der Hüfte zwickt. Unauffällig versuche ich ihn zurechtzuziehen, was zu einem unangenehmen Gefühl in der Intimregion führt und mich meine Bemühungen bereuen lässt.
Das vertraute Summen des Fahrmotors wird vernehmbar und mit einem leichten Ruckeln setzt sich die Straßenbahn in Bewegung. Sie rumpelt über eine Weiche, die Räder quietschen in der Kurve und wir sind auf unserer Reise, dem steten, gemächlichen Hin und Zurück bis Betriebsschluss. In der Ferne wird hinter einer Baugrube als von roten Warnlichtern gekrönte Silhouette gegen den Nachthimmel ein Schornstein erkennbar, aus dem wohl schon seit Jahrzehnten kein Rauch mehr zum Himmel steigt. Er teilt sich die Skyline mit dem Glas- und Stahl-Hochhaus, das von überallher zu sehen ist. Die Ansage aus der Konserve hallt schaurig durch den leeren Wagen, als der Lautsprecher die nächste Haltestelle ankündigt. Mein Blick driftet ab, fixiert einen Punkt draußen, irgendwo hinter dem Bordstein, ob er gerade in einer Hauswand, Hecke oder einem geparkten Auto, das in oranges Licht getaucht wird, liegt, spielt keine Rolle. Ich fahre ausschließlich mit der Acht, weil mir die sprichwörtliche Decke auf den Kopf fällt, mit dem erklärten Ziel, selbigen zu lüften, damit ich nicht eines Tages wie Kafkas Käfer erwache; unfähig mich zu regen und zu deprimierenden Gedankengängen verurteilt. Natürlich könnte ich spazieren gehen, aber dazu lässt es sich bei Dunkelheit denkbar schlecht lesen und meine alte Rückenverletzung macht sich dabei unangenehm bemerkbar.
An der nächsten Haltestelle mache ich eine Bewegung an der Kante aus, wegen der Spiegelung in den Fensterscheiben ist die Person nur als Schemen erkennbar. Mir schwant Schlimmes und ich weiß, dass es mit meiner Ruhe nun vorüber ist, denn mein Kontakt zu Mitreisenden ist nur selten von Herzlichkeit geprägt. Bedauernd greife ich nach meinem Buch, das ich zu meiner Schmach die letzten zehn Minuten beiseitegelegt habe, um mich meinen Grübeleien hinzugeben. Mit einem Rumpeln öffnet sich die Tür hinter mir, ein Fuß wird aufs Trittbrett gestellt, der zweite folgt. In allen erdenklichen Farben male ich mir die Agonie meiner unfreiwilligen Gesellschaft aus: Betrunkene, die um die Wette grölen, eine dumme Kuh, die mit ihrem Handy ohne Kopfhörer einen Film anschaut …
Als ich nahe neben mir die helle Stimme vernehme, fahre ich unwillkürlich zusammen. „Du liest Kafka?
Mit einem übereilten Bewegung wende ich mich um und sie steht in aller Pracht vor mir: Eine zierliche, blonde Schönheit in einem geblümten Kleid mit triefendem Regenschirm, die Tüte einer Buchhandlung in ihrer Hand. „Ja“, sage ich schlicht, da mir nichts Besseres einfällt. Zu meiner großen Erleichterung zuckt mir schließlich doch noch eine Idee durch den Kopf, ich deute in Richtung ihrer schweren Tüte. „Und was liest du?“
„Vor allem Krimis und Abenteuer, Klassiker sind eher die Ausnahme“, gibt sie leicht beschämt zu und macht es sich auf der anderen Seite des Ganges bequem. „Ich muss zu meiner Verteidigung sagen, dass ich einige Klassiker kenne, wenn auch hauptsächlich dank dem Gymnasium.“
Mein Lachen wirkt offenbar ansteckend, denn sie stimmt ein. Am Rande meiner Sinne erklingt eine weitere Haltestellenansage, kaum mehr hohl hallend dank unserem unverhältnismäßigen Amüsement. Nasse Leute mit nassen Schirmen drängen sich an uns vorbei, setzen sich weiter vorne im Wagen, hinterlassen nur nasse Fußspuren. Mir fallen sie kaum auf, ich bin ganz und gar auf die Fremde fixiert, mit der ich mich unterhalte. Endlich lassen unsere infernalischen Lachsalven nach, sie beäugt meinen Roman. „Ist die Verwandlung die Geschichte mit dem Käfer?“
Aus reiner Unsinnigkeit hätte ich beinahe trocken „Nein, die mit der Glühbirne“ geantwortet, nicke aber stattdessen. Manchmal ist es echt gut, dass einem alles zu eng wird und man mit der Acht fährt, in deren tropfengeschmückten Fenstern sich eben die Neonreklamen des Ausgehviertels spiegeln. Sie legt die Stirn in Falten und erklärt dann: „Die Story war weniger mein Ding, ich kam mir beim Lesen so richtig vereinsamt vor, als erstickte ich.“
„Hm“, mache ich, überlege, ob das wohl mein Grund für die Straßenbahn-Lese-Sitzung war, verwerfe den Gedanken nach wenigen Sekunden; schon seit Jahren ist die Acht ein integraler Bestandteil meines Literaturkonsums, ob Käfer, Hamlets oder Fäuste.
„Und was verschlägt dich zu später Stunde bei diesem Sauwetter in die Tram?“ Faszinierend, als hätte sie Telepathie gemeistert.
„Ich …“, setze ich an, werde von ihr unterbrochen, da sie sich ruckartig erhebt. „Scheiße, meine Haltestelle! Man sieht sich.“ Damit sammelt sie schneller, als ich es für menschenmöglich hielt, ihre Siebensachen zusammen, drückt den berühmten roten Knopf und verschwindet in einer Mischung aus heroischem Hechtsprung und tollpatschigen Stolpern aus dem Wagen. Belämmert bleibe ich zurück, lasse die Bahn beschleunigen, das Finanzviertel hinter mir.
Erkenntnis des Offensichtlichen in mir wächst bloß langsam, benötigt die ganzen drei Minuten bis zur Endstation, ist jedoch unvermeidlich: Das reale Leben ist das pure Gegenteil eines Romans, Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht, dafür Attraktion und das ist auch etwas Erheiterndes. Außerdem bleibt mir noch immer meine treue, alte Acht.