Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Staub und pulverisierter Mörtel rieselten bei jeder Erschütterung von der alten Decke, das Licht der blau getönten Glühbirne flackerte jedes Mal und der Emaille-Schirm der Lampe wankte leicht. Hannah seufzte, während sie sich an das alte und schon leicht schimmelig wirkende Bücherregal lehnte, das auf dem festgetretenen Erdboden stand. Es war nun die vierte Nacht in Folge, welche sie zusammen mit ihren Nachbarn in dem modrigen Keller verbringen musste. Sie waren zu viert: Nebst Hanna gab es noch den verwitweten Hauswart Rufus, der bereits um die siebzig war und heimlich BBC hörte – was eigentlich jeder wusste, da er wegen seiner Schwerhörigkeit das Radio so laut machte, dass alle die englischen Worte hören konnten. Dann waren da noch Brigitte, die parteitreue Hausfrau, deren Mann an der Front kämpfte, und ihr achtzehnjähriger Sohn Manfred, der aus unerklärlichen Gründen noch nicht mit einem Sturmgewehr in der Hand durch die Straßen rennen musste. Alle anderen Bewohner des Hauses waren zeitig aufs Land geflüchtet oder hatten sich anderswo versteckt; niemand wollte diese Tage in Berlin sein.
Eben wurde der Keller von einer weiteren Detonation erschüttert, als eine Bombe der Alliierten in der Nähe niederging. Hannah schloss die Augen und biss die Zähne zusammen – seit ein Nachbarhaus zerstört worden war, war der Optimismus verflogen, den sie bis anhin an den Tag gelegt hatte; sie konnte nicht ahnen, dass der Krieg in weniger als einem Monat vorüber sein würde. Sie hoffte bloß, dass sie noch einmal würde Pellkartoffeln mit Hüttenkäse essen können, etwas, das man mit den verdammten Lebensmittelmarken auch nicht mehr bekam.
Hannah hörte kaum mehr hin, als sich Manfred und Rufus wieder über Politik stritten; sie schnappte bloß Fetzen der immer heftiger werdenden Auseinandersetzung auf, die jede Nacht gleich zu verlaufen schien. Irgendwann würde Manfred „Landesverräter“ oder „Judenfreund“ schreien und Rufus den Jungen als „Drecksnazi“ beschimpfen. Sie waren noch zu viert und stritten sich in einer nicht enden wollenden Grundsatzdiskussion darüber, ob es nun klug wäre, dem Mann mit dem Schnurrbart zu folgen, während die Stadt in Flammen aufging. Auch wenn Hannah es nie zugegeben hatte, sie verabscheute Politik mehr denn je. Sie war müde und wünschte sich nichts mehr, als dass die ganze Sache endlich vorüber sein mochte und jemand die Trümmer von den Straßen räumen würde.
„… und du bist ja auch kein Patriot, sonst würdest du nun mit einem Gewehr in der Hand an der Ostfront stehen“, hörte sie Rufus eben schreien. Ein weiteres Mal erzitterte das Haus und ihr Kopf schlug unsanft gegen das Bücherregal. Es musste ein Ende nehmen, dachte sie. Sie wollte bloß noch schlafen, endlich ihre Ruhe finden und dem Geschrei entkommen.
Ein lauter Knall riss Hannah aus ihren Gedanken und sie hob den Kopf ruckartig. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff was geschehen war: Manfred hatte in seinem Wutanfall die Pistole gezogen, die er immer bei sich trug, und Rufus in den Kopf geschossen. Brigitte saß vor Schock weinend in einer Ecke, während der Junge die Waffe hatte fallen lassen und nun wie versteinert vor dem leblosen Körper des Hauswarts stand. Hannah betrachtete die Szene vor ihr beinahe teilnahmslos, so als hätte sie diese eben bloß in einem Kino miterlebt und den Großteil des Filmes mit Tagträumen verbracht.
Plötzlich erhob sie sich entschieden – sie wollte nicht hier bleiben. Ruhig, schon fast gelassen, ging sie auf die solide Tür zu und schob sie auf. Das Knarren der ungeölten Angeln zerriss die lastende Stille und Brigitte schreckte aus ihrem Schockzustand hoch, blickte desorientiert um sich und rief: „Sie können doch nicht einfach so gehen!“
Hannah blieb stehen und wandte sich um. Nach kurzem Nachdenken erwiderte sie: „Doch, ich kann. Und ich muss.“
Sie trat aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte keine Minute länger in dem Bombenkeller verbringen; Schluss mit dem sinnlosen Chaos, Schluss mit dem Schweigen und der Oberflächlichkeit der Menschheit. Da unten konnte sie genauso rasch sterben wie in den Straßen und würde vielleicht dabei von jemandem erschossen werden, den sie gar nicht leiden konnte. Während sie die knarrenden Stufen hochstieg, konnte sie hinter sich ihre Nachbarin schreien hören: „Nein, tu das nicht!“ Ein einzelner Schuss fiel und hallte unangenehm in dem Gang wieder, gefolgt von dem Geräusch einer fallengelassenen Waffe und einem dumpfen Plumpsen. Hannah wandte sich nicht um – sie war hier fertig.
Der Straßenzug wirkte surreal, er wurde einzig von dem in Flammen stehenden Jugendstil-Gebäude erleuchtet, das etwas weiter die Straße hinunter lag und wohl jeden Augenblick einstürzen würde. Menschen rannten durcheinander und schrien, einzelne Verletzte oder Tote lagen auf dem Boden, zwischen verstreuten Trümmern und den Ästen eines abgeknickten Baumes. Obwohl Hannah bloß einen Pyjama und Socken trug, fror sie nicht – sie konnte nichts mehr fühlen, nicht einmal mehr der hartnäckige Ausschlag an ihrem Ellenbogen juckte noch. Sie nahm alles um sich herum wie durch einen Schleier wahr; die Schreie, das Feuer, die mit Wassereimern herumrennenden Menschen, die bizarre Ästhetik des Krieges und der Zerstörung. „Weshalb soll ich mich verstecken, wenn es da unten genauso schlimm ist?“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu irgendwem sonst, während sie wie in Trance die Straße entlangging. Nichts war mehr real und alles schien in Zeitlupe abzulaufen und so fiel ihr auch das pfeifende Geräusch am Himmel über ihr nicht auf, das immer lauter wurde. Nicht einmal die gewaltige Explosion, die einige Sekunden später hinter ihrem Rücken ihr Wohnhaus in Stücke riss, schien noch von Bedeutung zu sein.