„Ist das eine von denen?“, flüstert meine Großmutter so laut, dass ihr Sitznachbar mich empört ansieht. Natürlich, denke ich erbost, ich werde entgeistert angefunkelt, wenn meine werte Frau Oma etwas Freches von sich gibt. „Sie sieht nicht wie ein Terrorist aus“, stellt sie schließlich grüblerisch fest. Ich versänke am liebsten auf der Stelle im Erdboden.
„Nona, bitte lass das!“, versuche ich, wohl wissend, meine Worte kämen gegen ihre unstillbare Neugier niemals an. „Wir können später darüber sprechen.“
„Ach, du wieder“, wiegelt sie meinen Einwand wie erwartet ab, wendet sich in ihrem Stuhl um und streckt ihre Hand in Richtung der Person ihres Interesses aus. Ich will aufstehen, sie zurückhalten, irgendetwas Unverfängliches dazwischen schreien, Oma wenn nötig knebeln, aber wie meistens reagiere ich zu langsam. Mir dämmert, mein blauer Zehennagel wird heute nicht das einzige bleiben wird, das mir unangenehm ist. „Entschuldigen Sie.“
„Ja?“ Die Augen der Fremden deuten ein höfliches, wenn auch skeptisches Lächeln an.
„Sie sehen nicht aus wie eine Terroristin.“ Sie hatte es gesagt, einfach so, ohne Vorwarnung, Small Talk oder wenigstens einen Hauch von Freundlichkeit. Tief seufzend, mein Schicksal als Enkelin dieser dreisten, alten Dame hinnehmend, rutsche ich tiefer in den federnden Stuhl des Besuchszimmers. Es gibt Momente, da würde ich gerne behaupten, meine Oma litte unter Demenz, so hätte ich immerhin eine Ausrede parat, um ihr unmögliches Verhalten zu rechtfertigen. Aber nein, sie ist ein rüstiges Biest, ungehobelt wie eh und je.
„Ähm“, stammelt die Angesprochene sichtlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, hastig abzuhauen und dem nachvollziehbaren Verlangen, meiner Oma eine zu wischen. Niemand nähme es ihr übel, bloß bekäme sie wohl postwendend ihren spitzen Altweiberschuh ins Schienbein gepfeffert; ich weiß, wovon ich spreche, niemand entkommt Nonas Fragen. „Ich bin keine Terroristin.“
„Oma, da hast du’s. Jetzt lass sie bitte in Ruhe“, spiele ich erneut die längst vergessene Stimme der Vernunft, leider ist Großmutter auf dem Ohr taub. Statt auf mich zu hören, langt sie mit ihren knochigen Finger zum Beistelltisch und stößt gelangweilt eine Psychologiezeitschrift herum, auf deren Cover die berühmte Illustration mit dem Takete-Maluma-Gekritzel abgebildet ist.
„Schlägt Ihr Mann Sie denn, wenn Sie den Lappen nicht tragen?“ Kaum zu fassen, denke ich, die Alte klingt tatsächlich besorgt. Das verwirrt mich dermaßen, sodass ich schon wieder viel zu spät reagiere. „Oder binden Sie das Ding freiwillig um?“ Ihr Sitznachbar erhob sich empört, schüttelte den Kopf und verschwand leise vor sich hinmurmelnd; ich täte es ihm gerne gleich.
„Nun“, setzt die überaus geduldige Muslimin an, bevor sie mich hilfesuchend anblickt. Jetzt oder nie, schießt es mir durch den Kopf.
„Bitte verzeihen Sie“, ereifere ich mich, schiebe mich sogleich zwischen meine Oma und das neuste Subjekt ihres unaufhaltsamen Forschungseifers. „Sie meint es nicht böse, sie ist …“ Darauf bedacht, der Quälgeist meiner Jugend möge es nicht sehen, verziehe ich meinen Mund zu einem besänftigenden Lächeln, verdrehe die Augen; noch deutlicher wäre ich, hielte ich mir den Finger an die Schläfe.
„Schon gut.“ Sie räuspert sich, legt ihre Hand auf meinen Unterarm, dann meint sie an Oma gewandt: „Ich trage den Hijab, weil ich meinem Gott, nicht allen anderen gefallen möchte.“ Es ist eine simple und doch so verworrene Erklärung, die zumindest für mich mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. Das Biest, das ich so sehr liebe, wie man nur seine unerhörte Oma lieben kann, sieht es leider genauso, also fragt sie ungeniert: „Ach, das Kopftuch soll sie hässlich machen?“ Ich schließe entnervt die Lider, bemerke, wie ich innerlich brodle. Ich nehme mir vor, meiner Mutter beim nächsten Treffen ein- für allemal klarzumachen, dass ich ab sofort nicht mehr Nonas Begleitung sein werde, wenn sie Onkel Konrad in der Anstalt besuchen will. Jedes Mal geschieht irgendetwas Peinliches, wenn man mit der Kratzbürste das Haus verlässt, wirklich jedes verfluchte Mal! Das helle Lachen der Muslimin reißt mich aus meinen Gedanken.
„Nein, nein. Sehen Sie“, fängt sie erläuternd an, während sie sich zu meiner Oma hinüberbeugt, „mein Aussehen soll im Alltag keine Rolle spielen, sondern alleine denjenigen erfreuen, den ich gewählt habe.“ Unglaublich mit wie viel Geduld, gar Nachsicht sie mit der konfrontativen Alten umgeht, überlege ich und erwäge, sie zu bitten, Nona gleich zu behalten; jedenfalls beweist sie Nerven für deren Späße.
„Ihnen muss aber klar sein, dass die Leute Sie gerade wegen dieses Lumpens verurteilen.“ Offensichtliches festzustellen ist schon immer eines ihrer perfiden Hobbies gewesen, ähnlich wie ihre Freude daran, in jeder Situation Widerworte oder Anlass für eine ordentliche Tirade zu finden. „Anders als Sie sagen, reduzieren Sie sich also selbst auf ihr Aussehen.“ Wie ich es hasse, wenn Oma über ein Krümelchen Wahrheit stolpert; die Häufigkeit, mit der ihr das gelingt, geht mir noch mehr gegen den Strich.
„Die Meinung der anderen darf mich nicht kümmern. Meine Handlungen und Gedanken gehören nicht Ihnen oder dieser Gesellschaft, sondern meinem Schöpfer.“ Die hübschen Fältchen neben ihren Augen lächeln unbeirrt weiter. Ich ertappe mich dabei, sie für einen Sekundenbruchteil um ihren starken Glauben zu beneiden. Das war mir in der Vergangenheit öfters passiert und es wird wieder vorkommen, schlicht aus Gewohnheit. Die frühen Jahre meines Lebens haften zäh an mir und damit die Erinnerung daran, das einzige Kind in der Sonntagsschule zu sein, das dem Gruppenleiter die Geschichten nie so ganz abgekauft hatte. Damals hätte ich gerne geglaubt, einfach, weil ich dazugehören wollte. Später hätte ich gerne geglaubt, einfach, weil ich den Halt gebraucht hätte. Heute will ich nicht mehr glauben, einfach, weil es mir an nichts fehlt.
„Ein schöner Schöpfer ist das. Gibt Ihnen Haare und verlangt dann von Ihnen, sie zu verstecken?“, bohrt meine Oma mit der Hartnäckigkeit eines Pitbulls weiter. Der Vergleich ist gar nicht so falsch, die Unnachgiebigkeit war ihr anerzogen worden, ebenso wie die Kompromisslosigkeit. In manchen Augenblicken fällt es mir schwer, mich für die rüpelhafte Alte zu schämen, zumal ich verstehe, wie sie so geworden ist. Trotzdem sehe ich sie tadelnd an, demonstriere geübt Unmut über ihr Verhalten.
„Nona, so etwas darfst du nicht sagen. Bitte, verzeihen Sie“, wiederhole ich mich kleinlaut.
„Schon gut“, wiederholt die freundliche Frau sich gleichermaßen. „Ich kenne das bereits. Einige können meine Entscheidungen nicht nachvollziehen.“ Sie beeindruckt mich einmal mehr, durch ihre Gelassenheit der Ignoranz gegenüber; wie viel innere Stärke dazu notwendig ist, kann ich kaum erahnen. Wenn ich ehrlich sein soll, so beeindruckt mich auch meine Oma, die unbeirrt alles in Frage stellt, ungeachtet der gesellschaftlichen Konventionen; selbst das verlangt Stärke. Bloß wäre es weit angenehmer, wenn sie ihre Neugier weniger unflätig zeigte.
„Ich habe den Koran nicht gelesen“, posaunt Nona heraus, fährt sich mit einer Geste, die ein Außenstehender als verlegen gedeutet hätte, durchs schüttere Haar, bevor sie hinzufügt: „Aber wenn der Wälzer nur halb so krank ist wie die Bibel, dann …“ Damit steht die Muslimin wortlos auf, verschwindet durch die Eingangstür des Besuchszimmers und kurz darauf ist ein weiteres Türklacken aus dem Flur vernehmbar.
„Oha“, ist alles, was Oma dazu zu sagen hat.
„War das echt notwendig?“, sage ich, auf das Gemälde von einer Tomatenscheibe starrend, das gegenüber an der Wand hing. Ich erhoffe mir keine schlüssige Antwort, genauso wenig wie ich mir von der höflichen Muslimin erhoffte, sie gäbe mir eine allgemeingültige Erklärung für die Wahl ihrer Kopfbedeckung; klare Antworten gibt es nicht, wenn man über Religion spricht, lediglich persönliche Eindrücke.
„Man wird wohl noch etwas fragen dürfen, Kindchen.“ Für Nona ist die Angelegenheit damit erledigt, abgehakt, bald vergessen. Entspannt lehnt sie sich zurück, schnappt sich die Zeitschrift und beginnt darin zu blättern. „Konrad kommt sicher bald.“
„Ja, es ist beinahe halb vier.“ Ich als ihre Enkelin weiß, es geht ihr nicht darum, andere schlechtzumachen. Neben ihrer Unverschämtheit ist und bleibt meine Oma ein herzensguter Mensch, der niemanden verurteilt, alle gleichermaßen akzeptiert und mit unverhohlener Neugier drangsaliert; das macht sie mit Mama, Konrad, mir, schlichtweg allen. Im Gegensatz zu der netten Frau von vorhin hatte ich allerdings über dreißig Jahre Zeit, mich an dieses Verhalten zu gewöhnen, die Intention dahinter zu erkennen. Ja, es gibt Momente, da würde ich gerne behaupten, meine Oma litte unter Demenz, nur um eine Ausrede im Petto zu haben. Doch so sehr sie mich in den Wahnsinn treibt, bin ich dennoch froh, dass dieses rüstige Biest mich lehrte, alles, auch mich selbst, ständig zu hinterfragen.