Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger inner- und außerhalb der Burgmauern und Landesgrenzen:
„La Suisse n’existe pas” Unter diesem freilich nicht ganz unprovokativen Motto präsentierte sich unser kleines multilinguales und -kulturelles Land damals im Jahre 1992 im andalusischen Sevilla an der Weltausstellung. Zufolge der gängigen Lehre besteht ein Staat per Definitionem aus einem Staatsgebiet, einem dort ansässigen Staatsvolk sowie einer auf dem fraglichen Gebiet herrschenden Staatsgewalt. Unbestrittenerweise treffen diese Voraussetzungen allesamt und vollumfänglich auch auf unsere Schweizerische Eidgenossenschaft mit ihren 26 Gliedstaaten (Kantone) zu. Wann aber wurde die Schweiz in der uns heute bekannten Form gegründet und inwiefern hat dies mit dem, per Anfang August des Jahres 1291 datierten und auf den mystischen Rütlischwur zurückgehenden, Bundesbrief der heutigen Urkantone und damaligen T(h)alschaften Uri, Schwyz und Unterwalden zu tun?
Die Vertreter der traditionellen sowie der kritischen Geschichtsschreibung, haben sich in der Vergangenheit lange und mit beiderseits mal mehr und mal weniger stichhaltigen Argumenten darüber gestritten, ob es sich beim besagten Bundesbrief um eine Fälschung handelt oder nicht. Unter Zuhilfenahme der Radiokarbonmethode (auch 14C-Methode genannt, welche zur radiometrischen Datierung organischer Materialien bis zu einem Alter von ca. 60’000 Jahren geeignet ist) konnte das Alter des verwendeten Pergamentpapiers mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 85 Prozent auf den Zeitraum zwischen 1252 und 1312 festgelegt werden. Deshalb kann und sollte die Herkunft des Schriftstücks in Frage gestellt werden: Einerseits besteht die Möglichkeit, dass der Bundesbrief tatsächlich im sagenumwobenen Jahr 1291 auf einer Tierhaut, etwa eines Lammes oder einer Ziege, niedergeschrieben wurde. Andererseits könnte der Pakt auch anfänglich per Dreifingerschwur oder Handschlag geschlossen und erst gut 20 Jahre später schriftlich festgehalten worden sein. Zudem kann nach wie vor nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass es sich beim vorliegenden Dokument um eine Fälschung handelt.
Historisch belegt wurde der schweizerische Nationalfeiertag jedoch erstmals im Jahre 1891 (im Rahmen der groß inszenierten Festivitäten zum 600-jährigen Jubiläum des Bundesschwures) im Kanton Schwyz. Damit konstruierte man gewissermaßen den Geburtstag der Schweiz und legte selbigen fortwährend auf den 1. August fest (eine ähnlich große Feier fand übrigens auch 100 Jahre später statt – wofür unter anderem der 35 km lange Weg der Schweiz entlang des Urnersees, von Brunnen bis zur symbolträchtigen Rütliwiese, angelegt wurde). Warum aber feiern wir nicht, wie zahlreiche andere Staaten, die effektive “liberale” Staatsgründung, welche in unserem Fall auf das Jahr 1848 zurückgeht und sehr gut dokumentiert ist?
Es ist kein Geheimnis, dass die moderne Schweiz, so wie wir sie heute kennen und schätzen, letztlich aus den ideologischen Kämpfen rund um den Sonderbundskrieg (es handelte sich quasi um einen Blitzkrieg, der vom 3. bis zum 29. November 1847 abgehalten wurde) hervorgegangen ist. Kurz zusammengefasst und daher aufs absolut Wesentlichste beschränkt, kämpften damals die im Sonderbund vereinigten acht katholischen Kantone gegen den Rest der alten Eidgenossenschaft. Letztere wurde von General Guillaume-Henry Dufour (Mitunterzeichner der Genfer Konvention sowie zusammen mit Henry Dunant auch Mitbegründer des internationalen Roten Kreuzes) unter der überlieferten Maxime “Il faut sortir de cette lutte non seulement victorieux, mais aussi sans reproche“ (zu Deutsch: Wir müssen aus diesem Kampf nicht nur siegreich, sondern auch ohne Vorwurf hervorgehen) kommandiert. In der Tat blieben die beidseitigen Kriegsverluste, bei einer damaligen Gesamttruppenstärke von rund 178’000 Armeeangehörigen, mit offenbar “lediglich” 86 Toten und 500 Verletzten vergleichsweise sehr tief.
Nun aber zurück zu den Vorbereitungen der Feier von 1891: Wegen des, der Gründung des liberalen Bundesstaates vorausgegangenen Bürgerkrieges und der darauffolgenden jahrzehntelangen Unterdrückung der Unterlegenen, war die eigentliche Staatsgründung von 1848 kaum akkurat darstellbar, da insbesondere die katholischen Kantone dies als erneute Provokation empfunden hätten. Da man nicht alte Wunden aufreißen wollte und die Versöhnung in allen geografischen und gesellschaftlichen Ständen suchte, besann man sich auf die besagte mittelalterliche Heldengeschichte von 1291. So wurde die im Bundesbrief bezeugte Kooperation der Urkantone kurzerhand zu einem Zusammengehörigkeits-, ja gar zu einem Nationalgefühl umgedeutet. Noch konkreter ausgedrückt könnte man sagen, dass der Unabhängigkeitswille der adeligen Oberschicht des Mittelalters zu einem der gesamten Schweizerbevölkerung zustehenden, einzigartigen Freiheitswillen uminterpretiert wurde. Die Bundesfeierlichkeiten von 1891 in Schwyz (notabene einem der Verliererkantone des Sonderbundskrieges) hatten sodann auch zum Ziel, den Freisinn mit dem Katholizismus zu versöhnen. Schließlich fürchtete man den Aufstand der sozialistischen Arbeiterschaft mit den, damals bereits aus anderen Ländern bekannten, Begleiterscheinungen. Jetzt war die liberale Schweiz auf den ehemaligen katholischen Feind angewiesen, da man die wirtschaftlich und kulturell trennenden Elemente zwischen Stadt und Land sowie die religiösen und politischen Gegensätze möglichst rasch überwinden und gemeinsam eine starke Front gegen die, nach und nach aufbegehrende, Arbeiterschaft bilden wollte. Diese Absichten unterstrich der Freisinn zusätzlich mit der erstmaligen Wahl eines katholischen Bundesrates im selben Jahr. Somit wurde der Nationalfeiertag am 1. August unterschwellig zur Antwort des vereinten Bürgertums gegen die internationalen 1.-Mai-Feiern des Proletariats. Zudem war auch der Fremdenverkehr interessiert an möglichst ausschweifenden Festivitäten zum vermeintlichen Geburtstag der Nation und die spätere Bedrohung durch den Nationalsozialismus brachte schließlich auch die Arbeiterschaft an die Feier. Um das Gemeinschaftliche in dieser unsicheren Zeit zu betonen, wurde während den Jahren des 2. Weltkrieges sodann umso intensiver gefeiert. Seit der Volksabstimmung vom 26. September 1993 über die Initiative für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag, welche mit einem Ja-Anteil von 83.8 % als bislang höchste je angenommene Sachvorlage in die Geschichte einging, gilt der 1. August in der Schweiz verfassungsmäßig verankert (vgl. Art. 110 Abs. 3 der Bundesverfassung) als bezahlter Feiertag. Aus diesem Anlass beschrieb die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) 1993 die “nicht immer nur leise Ironie, mit der ein Großteil der Bevölkerung den 1. August feiere“. Weiter schreibt sie über das durchaus besondere Verhältnis der Schweizer Bevölkerung zu ihrem, wohl fingierten, Nationalfeiertag und ihrer Heimat: „Man könnte sagen, dass viele Schweizerinnen und Schweizer bei der Feier in erster Linie zeigen, dass man sich auch als Schweizerin oder Schweizer fühlt – unter vielen anderen individuellen Bezugspunkten. Diese Feier vereint Heimatkämpfer und Heimatmüde gleichermaßen und man empfindet die Schweiz als sinnstiftend und fühlt sich entsprechend verbunden trotz verschiedenster Differenzen. Das weist darauf hin, dass der Begriff Schweiz nicht eine enge Einheit ist, sondern eine Einheit, die Individualität, Pluralismus und Freiheit zulässt.”
Mittels eines Rückkommensantrages soll hier zum Schluss nun aber doch nochmals die oben bereits angesprochene „liberale“ Staatsgründung näher beleuchtet werden. Die erste Verfassung der Schweiz ist auf den 12. September 1848 datiert. Zumal unser Land dadurch vom vormaligen Staatenbund (Tagsatzung) zum Bundesstaat geeint wurde, wäre folgerichtig auch der 12. September der eigentliche Geburtstag unserer kleinen Schweiz. Da die (direkte) Demokratie sicher auch für Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, eines unserer höchsten geistigen Güter darstellt, sind in diesem Zusammenhang leider auch hier einige begründete Zweifel angebracht: Die Tagsatzung gestaltete sich nach dem Prinzip der Gleichheit der Kantone und erklärte per se einen Beschluss nur bei Einstimmigkeit für allgemeingültig und rechtsverbindlich. Selbige stellte damals fest, dass lediglich 15.5 der damals vorhandenen Kantone die Verfassung angenommen und doch immerhin 6.5 diese abgelehnt hatten. Auch wurde im katholischen Kanton Luzern der sich der Stimme enthaltende Bevölkerungsanteil kurzerhand zu den Befürwortern gezählt und da man im, ebenfalls dem früheren Sonderbund zugehörigen, Kanton Freiburg eine Ablehnung durch das Volk befürchtete, erging hier nur ein Beschluss der Legislative (Großer Rat). Nachdem die Resultate aus den einzelnen Ständen vorlagen, beschloss die Tagsatzung jedoch mit sofortiger Wirkung das Mehrheitsprinzip und setzte die gemeinsame Verfassung in Kraft. Infolgedessen müsste dieser Akt aus historischer Sicht als formell unrechtmäßig oder gar als revolutionär betrachtet werden, sodass es vielleicht doch nicht so abwegig ist, die Geburtsstunde der Schweiz auf den Bundesschwur der Urkantone zu beziehen und den 1. August als Geburtstag der Nation zu proklamieren.
In diesem Sinne: „Happy Birthday to you, Confoederatio Helvetica!“ (das Motto der Schweiz an der Weltausstellung 2015 zum Thema „den Planeten ernähren, Energie für das Leben“ in Milano lautete übrigens Confooderatio Helvetica) – wann auch immer du geboren wurdest, möge dein von den drei Musketieren entliehener offizieller Wahlspruch Einer für alle und alle für einen (Unus pro omnibus, omnes pro uno) auch weiterhin für alle deine kantonalen, kommunalen und individuellen Einheiten als föderalistische Maxime seine Gültigkeit entfalten.