Es war ihm Jahr 2008, als ich, noch euphorisch von der großen Veränderung, meine Heimat verließ und die Welt bereiste. Zu meinem Erstaunen hatte es mir keine große Mühe bereitet, meinen Vater von der Idee zu überzeugen, meine Assistenzarztzeit um einige Monate in die Zukunft zu verschieben; er hatte sogleich seinen Sekretär – ein in die Jahre gekommener Herr, der seit der Firmengründung im Büro des Kraftwerks arbeitete – damit beauftragt, sich um die Reiseformalitäten zu kümmern. Doch seine Vorstellung wich stark von meiner ab. Während er in meinem Vorhaben die vielversprechende Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung sah, wollte ich lediglich einige Wochen abschalten und nach langen Jahren auf der Schulbank und in Vorlesungssälen glaubte ich dem Ruf der Freiheit folgen zu müssen, also schnappte ich mir den alten Reiserucksack meines Vaters und stieg kurz darauf, in großer Hoffnung auf ein Abenteuer, in das Flugzeug nach Mumbai. In den ersten Monaten wanderte ich mehr oder weniger ziellos über den asiatischen Kontinent und nachdem ich den ersten Kulturschock überwunden hatte, versuchte ich der brutalen Realität in Ferienresorts und Partymeilen zu entgehen, währendem ich mich mit anderen Touristen vergnügte. Ich behauptete von mir, dass ich kein sonderlich naiver Mensch bin, doch obwohl ich mich vor meinem Abflug über die politische und gesellschaftliche Lage meiner Destinationen erkundigt hatte, war die Lebenswahrheit kaum ertragbar. Aufgewachsen in einer gut situierten New Yorker Familie besuchte ich die besten Schulen und genoss die Gesellschaft der aufstrebenden erfolgsorientierten Jugend, deren Freizeitamüsements mindestens genauso aufregend waren, wie die Karieren, die vor ihnen lagen. Das Geld hatte ich von meinem Vater und das gute Aussehen von meiner Mutter geschenkt bekommen und doch wurde ich mit der Überzeugung erzogen, dass man selbst für sein Schicksal verantwortlich ist und obwohl ich mir meines privilegierten Lebens durchaus bewusst war, so kannte ich den Wert harter Arbeit. Ich konnte nicht verstehen, warum man das Leben künstlich komplizieren sollte, wenn es im Grunde so simpel war. Wenn man etwas will, dann nimmt man es sich und mir schien mir, als gäbe es keinen Grund zum Unglücklichsein, weswegen mich das offen gelebte Leid der armen Bevölkerungsschichten abstieß, mich fassungslos den Kopf schütteln ließ und mich mit dem erschütternden Gefühl der Ohnmacht zurückließ.
Als ich dann der Meinung war, alle Bars und Abenteuerausflüge kennengelernt zu haben, entschied ich mich weiterzuziehen. Ich hoffte, dass Europa meiner Frohnatur entsprechen würde und als mich Amsterdam zu langweilen begann, erinnerte ich mich daran, dass ein alter Freund, mit dem ich die zehnte Klasse besucht hatte, mir von einer bemerkenswerten Stadt in Bosnien und Herzegowina erzählt hatte; Sarajevo.
Die ersten Tage dort verbrachte ich mit dem obligatorischen Sightseeing. Der Bosnienkrieg war während meiner Kindheit ein ständig präsentes Thema gewesen, doch das moderne Sarajevo hatte nichts mehr gemein mit den Bildern, an die ich mich erinnerte. Das Leben und die Menschen hier wirkten so, als hätten sie es geschafft ihre Vergangenheit zu vergessen und das Beste aus dem Blatt zu machen, das sie vom Leben erhalten hatten; einfach herrlich und inspirierend. Doch meine Euphorie sollte nicht lange halten und ich landete nach einer Barschlägerei mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus, wo ich Boban kennenlernte.
Boban war im selben Alter wie ich und es war vier Uhr früh, als ich ihn auf der verlassenen Dachterrasse zum ersten Mal sah, wie er gemächlich eine Zigarette rauchte und über die nächtlichen Lichter der Stadt blickte. „Siehst du das da hinten?“, fragte er mich in fließendem Englisch, ohne sich nach mir umzudrehen. „Dort am Rand der Siedlung haben sie eine Baumschule eröffnet, obwohl man den Platz für Sozialwohnungen brauchen könnte.“ Es fiel mir schwer, eine Antwort darauf zu finden und so setzte ich mich schweigend neben den jungen Mann im Arztkittel. „Ach, der Fortschritt verlangt wohl nach aufgereihten Bäumen.“, lachte er und reichte mir einen Glimmstängel. Boban war freundlich, ruhig und aufgeschlossen, weswegen unser einsames Gespräch schnell in die Gänge kam. Zuerst sprachen wir über Belanglosigkeiten, unseren gemeinsamen Berufsweg und meine Reisen. Ich teilte mein Unverständnis über den Zustand der Welt mit ihm und es dauerte nicht lange, bis ich mich ihm vertraut genug fühlte, um ihn nach seinem Rollstuhl zu fragen. Er lächelte gleichmütig und erklärte mir ohne Scheu, dass er am 5. Februar 1994 das Pech hatte, sich mit seiner älteren Schwester auf dem Marktplatz aufzuhalten. Sie hätten frisches Gemüse für das Abendessen holen sollen, sagte er und man wisse bis heute nicht, wer die Mörsergranaten abgefeuert hatte. Er selbst hätte nur noch verschwommene Erinnerungen an den Tag, an dem er niedergetrampelt worden war; etwas, wofür er dankbar sei. Das Massaker hatte achtundsechzig Opfer gefordert. Seine Schwester war eine dieser heute Namenlosen.
Beschämt darüber, dass ich ihn auf so direkte Art und Weise auf ein traumatisches Erlebnis angesprochen hatte, verweilte ich stumm neben ihm und blickte solange in die Ferne, bis ich Bobans Hand auf meiner Schulter fühlen konnte. Das Licht der Stadt tauchte sein Gesicht in magisch wirkende Kontraste und ich konnte keinen Schmerz in seinem Ausdruck erkennen. „So reagiere alle“, lachte er und reichte mir seine Cola. Als ich versuchte mich zu entschuldigen, unterbrach er mich und veränderte mit wenigen Worten meine Sicht auf unsere Welt: „Den Fehler, den viele machen ist zu versuchen, schlimme Erlebnisse zu vergessen. Das Herz ist ein Organ, dass an Vergangenem festhalten will und so dauert es meist nicht lange, bis wir von unseren Albträumen eingeholt und gelähmt werden.“ Ungläubig über die unerwartete Wendung, die unser ungezwungenes Gespräch genommen hatte, trank ich einen Schluck und zündete mir eine weitere Zigarette an. „Was schlägst du denn vor?“, wollte ich wissen „Sollen wir auf ewig an der Bosheit festhalten, die uns wiederfahren ist?“ und in meinem Inneren flackerte die Erinnerung an die Ärmsten der Armen auf, die es nicht geschafft hatten, sich aus ihrer persönlichen Misere zu befreien und auf die Wohltätigkeit anderer vertrauen mussten. Boban nickte kaum merklich und sah kurz auf die Waschbetonplatten, die versetzt gelegt worden waren und durch deren Spalten etwas Unkraut spross. „Nun, einige sind nicht dazu in der Lage etwas anderes zu tun. Ein Verhängnis, das uns beiden wahrscheinlich erspart bleiben wird, dank der Umstände, in die wir geboren wurden.“ Ich hatte große Erwartungen an Bobans Antwort gehabt und war enttäuscht, als ich diese hoffnungslos erscheinende Antwort bekam und musste mich beherrschen, ihn deswegen nicht scharf zu kritisieren. Doch er kam mir zuvor: „Ich glaube, der Unterschied zwischen Glück und Unglück liegt nicht alleine in unserer Umgebung, sondern vor allem in unserer Bereitschaft zu vergeben. Denn nur wer dazu bereit ist, hat die Chance weiterzuziehen und da diese Fähigkeit nicht jedem von uns gegeben ist, sollten wir denjenigen helfen, die es nicht alleine können.“
Ich beendete das Gespräch mit dem unnützen Vorschlag, dass man die ungenutzten Grundstücke neben der Baumschule für den Ackerbau einsetzen könnte und verabschiedete mich von meinem Freund auf Zeit.
Im Jahr 2013, zurück in New York, arbeite ich als Notfallarzt und habe gelernt, dass man den Wert eines Menschen weder an dem messen kann, was er in seinem Leben erreicht hat, noch an der Art und Weise, wie er seine Vergangenheit bewältigt hat. Der Wert eines Menschen ist genauso unwichtig, wie die Frage was Bobans Schwester heute tun würde, wäre sie nicht eine der achtundsechzig geworden. Ich helfe jedem der Hilfe braucht und hoffe, dass ich somit jemandem die Chance schenken kann, dem Krieg zu vergeben und das Beste aus dem Blatt zu machen, das er in Händen hält.