Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte enthält Dialog in Schweizerdeutsch – die deutsche Übersetzung findet ihr am Ende des Textes.
Wilhelm Wolfgang Waeber, genannt Willi, setzte einen Fuß vor den anderen. Die vom Alter brüchigen Sohlen seiner Wanderschuhe trafen in einem langsamen Trott auf die Wiese, indes lugte der oberste Rand der Sonne über die Bergkuppen. Wie seine Schuhe war auch Willi nicht mehr der Jüngste, ja vielmehr könnte man ihn als greisenhaften Kauz beschreiben. In knapp zwei Stunden würde er die Neunzig überschreiten. Ein seltsamer, beängstigender Gedanke, den Willi als Motivation nutzte, seinen Körper bergauf zu ferggen.
Am ersten August neunzehnhundertachtunddreißig hatte er den Entschluss gefasst, der hinter seinem Marsch über die Kuhweide auf der Fliehlialp stand. Zugegebenermaßen erinnerte sich Willi bloß vage an den Abend.
Vor einundachtzig Jahren wurde frechen Buben, wie er einer gewesen war, erlaubt vom Schnaps zu nippen – besonders wenn diese Geburtstag hatten, erst recht, wenn sich die Schweiz mit missmutigem Blick gen‘ Deutschland zur Bundesfeier in den Beizen versammelte und den drohenden Krieg vor der Haustür mit Ländlermusik trotzte.
Da war es geschehen, dass Onkel Albert sein Alphorn beiseitegelegt und gemeint hatte: „Isch mier einerlei was die Secklä dert änä machet. Zu mier ufd Aup chömä si nit und säge lahni mier scho gar nüt vo däm Lumpäpack!“ Das war er gewesen, der Albert, eigenwillig und selbstständig. Das blieb er bis zum Tag vor seinem Tod. Von keinem ließ er sich was sagen, was dem kleinen Willi damals wie heute imponierte. „Stärbä müessä mier aaui. Aber i söu verdammt si, wenni abtrittä wiä sonä längwiiligä Fötzel“, hatte der Onkel mit dem Ernst eines Säufers im Rausch herausposaunt: „I sägä nächs, losät zue, i säge nächs, zum Stärbä chlätereni ufs Chuchichästli!“
Albert hatte es nicht auf den Küchenschrank geschafft, stattdessen war er auf der Fahrt ins Altersheim, wohl aus purer Absicht, an seinem eigenen Speichel erstickt. Dekaden waren vergangen und Willi hatte kaum je an seinen Onkel gedacht, bis gestern Abend sein Geburtstag mit dröhnendem Feuerwerk und dem Geruch von Schwarzpulver eingeläutet wurde, da war ihm die Geschichte wieder eingefallen. Die frühen Sonnenstrahlen schienen über die Matten des Fliehli hinweg, die Welt wirkte golden und nach einer langen Weile kam sich Willi vor wie früher als Bub.
Mit Fünfzehn war er vom heimischen Hof in die Stadt gezogen, wollte keiner der Hinterwäldler sein, die ihr Leben lang im selben Dorf festsaßen, sondern ein Mann von Welt werden. Das war ihm gelungen, so wie ihm beinahe alles gelungen war, was er sich vorgenommen hatte. Ein klein wenig dank Albert, vielmehr noch dank seinem gottgegebenen Wunsch, ein unabhängiger, stolzer Schweizer zu sein. Und wer seinen Weg gehen will, das hatte Willi in jungen Jahren begriffen, musste einerseits stets auf dem Laufenden sein, andererseits unbeirrt seinen Plänen, nicht den neusten Spektakeln folgen. Daran hatte er sich gehalten – ob im Beruf, beim Sport oder der Politik, Willi verlor weder den Anschluss noch seinen Mut. Letzte Woche erst hockte er mit seinem vierten Großenkel im Wohnzimmer und ließ sich erklären, welche Strategie am besten zu seinen Fähigkeiten im Videospiel passe, denn er hatte die Nase voll davon, von irgendwelchen Lümmeln mit mehr Pickeln als Verstand als Noob betitelt zu werden.
Ja, Willi legte größten Wert darauf immer am Puls der Zeit zu bleiben und hatte bislang jedes seiner Vorhaben in die Tat umgesetzt. Daher saß der Schock tief, als ihm gestern kurz vor Zwölf einfiel, dass der erste August zweitausendneunzehn gekommen war und er glatt vergessen hatte, zu sterben.
Willi hatte nicht im Sinn, auf einen zweiten Beweis seiner nachlassenden geistigen Fähigkeiten zu warten, deshalb hatte er sich pünktlich zum Mitternachtsläuten seinen Karabiner geschnappt, die Stiefel gebunden, ein hartgekochtes Ei eingepackt und war zurück aufs Land gefahren. Die Wanderung war ihm als Jüngling einfacher gefallen, seine Knie schmerzten, der Rücken plagte ihn bei jedem Schritt und doch genoss er seine Rückkehr aufs Fliehli. Bei der alten Hütte angekommen, die seit eh und je im Familienbesitz war, hielt Willi inne, wandte sich um und betrachtete das Alpenpanorama. Ächzend setzte er sich auf den Boden, fuhr mit der flachen Hand über die Grashalme und schaute der glühenden Scheibe zu, die sich gemächlich von den Berggipfeln abstieß und in den blauen Himmel emporstieg.
Das war er, sein letzter zweiter August hatte begonnen, nachdem der letzte erste endete.
„Weni Nünzgi wirdä, wotti iz Fliehli und vo dertä für immer wäggah“, murmelte Willi die Worte, mit denen er vor einundachtzig Jahren und einem Tag über sein Ende beschlossen hatte. Dann zog er seine Wanderschuhe aus, aß sein Ei, nahm den Lauf seines Militärkarabiners in den Mund und drückte ab.
Wilhelm Wolfgang Waeber hatte sich versprochen, seinen eigenen Weg zu gehen und das hatte er getan, nur war er eben einen Tag zu spät angekommen.