Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Das ist Ralf. Ihr könnt Ralf nicht sehen, weil die kurze Geschichte seines Lebens bislang weder verfilmt, noch als Comic verlegt worden ist. Aber das ist egal. Ralf legt kein besonderes Augenmerk auf sein Äußeres, also sollten wir das ebenso wenig tun.
Als kleiner Junge wollte Ralf Astronaut werden, Astronaut und Lamazüchter, denn Ralf mochte die Sterne und Lamas. Astronomie fesselt ihn übrigens bis heute, anders als Lamas. Seit ihm bei einem Zoobesuch eines dieser wolligen Ungetüme aufs Sandwich gespuckt hat, betrachtet er sie mit Argwohn und zwar stets aus Distanz. Das ist keine gute Einstellung für einen Lamazüchter. Jedenfalls gab er seine ersten Träume von Himmelskörpern und Schafkamelen auf und fokussierte sich eine Weile auf Kartentricks, studierte Soziologie am Ameisenhaufen im Garten seiner Großmutter und hielt sich mit den allabendlichen Nachrichtensendungen auf dem Laufenden. Dann kam Ralf in die erste Klasse und dort hatte es Kinder in seinem Alter. Manchmal störten ihn seine Mitschüler, sodass Ralf laut werden musste, allerdings konnte er sie ganz gut ertragen und bald hielten sich sowieso alle fern. Das blieb eigentlich bis zum Schulabschluss so, auch auf dem Gymnasium, an der Uni und später im Beruf genoss Ralf kaum Beifall von anderen. Gut, eine Ausnahme gab es und das war Daniel, dieser war ein freundlicher sowie stiller Junge, den man aushalten konnte und sich von Ralf nicht abschrecken ließ. Jedenfalls meisterte er die Schule mit Bravur und das obschon er sich entweder fürchterlich langweilte, oder ihn das Geschrei in der Klasse auf die Nerven fiel. Seine Zeit vertrieb er sich mit Notizbüchern, er hatte für jeden Tag der Woche eines und jedes davon war einem speziellen Thema gewidmet. Am Montag beschäftigte er sich mit Computern und der Programmierung der selbigen. Dienstags und mittwochs war jeweils eine Sprache mitsamt den dazugehörigen Kulturen dran. Französisch, gefolgt von Englisch, Spanisch, Russisch und Japanisch. Donnerstags hielt er wichtige Hinweise zum menschlichen Verhalten, die er in Psychologiebüchern entdeckte fest, die er am Freitag mit den Aufzeichnungen aus seinem Biologienotizheft verglich. Seine Eltern bestanden darauf, den Samstag für etwas Normales zu reservieren und obwohl Ralf unsicher war, was sie damit meinten, notierte er minutiös Spielzüge der regionalen Baseballmannschaft. Der Samstag war jedoch sein liebster Tag, der Mathematiktag. Wäre es nach Ralf gegangen, hätte es ausschließlich Mathematiktage gegeben, nur leider hatte er jederzeit sechs andere Notizhefte, welche seine Woche klar strukturierten. Besonders hatten es ihm ungelöste Probleme angetan, von den Hilbertschen-, über die Millennium- bis hin zu den Smale-Problemen, sie alle bereiteten Ralf so viel Freude, dass er den Samstag mit seinen öde gewordenen Baseball-Statistiken immer mehr zu hassen begann.
Ihr lest, unser Ralf hat sich von einem eher seltsamen Kind zu einem ebenso kuriosen Erwachsenen gemausert. Bis hierhin erklärt unsere Geschichte zumindest, woher die tausendeinhundertachtundvierzig Notizhefte kommen, die vor ihm auf neun Stapel sortiert liegen. Sie repräsentieren zweiundzwanzig Jahre pedantisches Lernen und beinhalten jedes Fitzelchen Wissen, das Ralf sich angeeignet hat. Die Antwort, an der ihm so gelegen ist, wird also bestimmt irgendwo auf den eng beschriebenen Seiten zu finden sein.
Exakt drei Wochen, vier Tage, elf Stunden und zweiundvierzig Minuten sitzt er nun schon inmitten seiner Aufzeichnungen, sucht mal gelassen mal frenetisch nach dem Puzzleteil, dem Schlüssel zu seinem Kindheitstraum. Ihr seht, während all den Montagen, Dienstagen, Mittwochen, Donnerstagen, Freitagen und Samstagen, hatte Ralf versucht die Welt durch seine Notizhefte zu verstehen, sie mithilfe seiner geliebten Mathematik auszumessen, berechnen, bloß … Es half nichts. Für Ralf ist die Welt selbst ein ungelöstes Problem, eine Gleichung ohne überzeugendes Ergebnis. Zu Beginn war er von diesem Konundrum fasziniert gewesen und bald begriff er, dass sämtliche Irregularitäten von den Menschen ausgehen. Die Natur, so willkürlich sie scheinen kann, gehorcht schlussendlich ihren Gesetzten. Verworrene Ansichten und Handlungen der hochentwickelten Primaten hingegen stellen sich ständig gegen alle Regeln der Physik. Aus dem Nichts werden Konflikte erzeugt und gleichermaßen kann eine simple Haltung wie Vergebung aus Spannung Frieden kreieren. Das ist ganz und gar unlogisch. Ralfs anfängliche Begeisterung wandelte sich in erst in Fassungslosigkeit, dann in Rage, Verzweiflung und Kummer, bis er eines Sonntags den Entschluss fasste, zu resignieren. Die Menschheit, befand er, ist schlicht und ergreifend zu dumm, um ihr volles Potential auszuschöpfen, würde nie und nimmer aus ihren Fehlern lernen. Solange dieses grössenwahnsinnige Tier an kleingeistigen Ideen festhält, gäbe es über kurz oder lang keine Zukunft. Punktum und Schluss. Zwar führte er seine Notizbücher ausdauernd weiter, forschte und kalkulierte, doch nahm er die Unfähigkeit seiner Mitmenschen ferner lediglich mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. So wie Ralf einst von den Lamas Abstand genommen hatte, tat er es mit den Menschen. Man mag jetzt denken, diese Perspektive sei pessimistisch, vielleicht sogar deprimierend, aber Ralf tut sie gut. Fatalismus ist seine Art der Entspannung. Nun, war es bis vor kurzem, denn vor drei Wochen, vier Tagen, elf Stunden und achtundfünfzig Minuten hatte er einen Klappstuhl aufgeklappt und sich dabei den Finger eingeklemmt.
Bitte lasst euch von Ralfs grimmiger Miene keinesfalls täuschen. So schaut er meistens drein, kurz bevor er einen Durchbruch erzielt und alles hat mit dem alten Klappstuhl angefangen. Das Ding ist uralt und wie es eben ist mit alten Dingen, hat sich Rost und Schmutz in den Scharnieren gesammelt. Gewiss könnte Ralf die beweglichen Teile schmieren, freilich wäre das nur eine vorübergehende Lösung. Nein, dieser Klappstuhl war nicht für die Ewigkeit gemacht. Er tüftelte ein wenig herum, kritzelte Skizzen in sein Heftchen, kam dann aber zum Schluss, dass keine Modifikation den bestehenden Klappstuhl würde retten können. Jedes Teil eines physischen sowie psychischen Gegenstandes ist der Ermüdung und fatalen Reibung ausgesetzt, das gilt für Klappstühle, Baumstämme, Lamas wie Menschen und wenn es soweit ist, sollte man es mit einem besseren Modell ersetzten, es sei denn, man könnte eine Art Perpetuum Mobile erschaffen. Dieser Gedanke zerschmetterte Ralfs Fatalismus zeitgleich wie der Klappstuhl das dritte Glied seines Ringfingers quetschte. Wer einen unsterblichen Klappstuhl wollte, muss bei Null anfangen. Eine Tabula Rasa ist vonnöten, um die Klappstühle sowie die Menschen vor dem immer gleichen Zerfall zu retten und genau deswegen sitzt unser lieber Ralf seit drei Wochen, vier Tagen, zwölf Stunden und einer Minute fieberhaft suchend zwischen seinen Notizbüchern. Er ist nämlich sicher, irgendwo auf diesen vertrauten Seiten ist die Antwort darauf, wie man sie alle zerstören und von Grund auf neu aufbauen kann.
Ja, der Ralf, er ist ein sonderbarer Bursche. Wir sollten ihn im Auge behalten.