Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es ist bald elf Monate her, seit eines ihrer etlichen Bücherregale, randvoll mit vornehmend ungelesenen, erst liebevoll sortierten, dann mehr und mehr lieblos angehäuften literarischen Werken, im Schlaf auf sie gestürzt war und sie sprich- sowie wortwörtlich wachgeprügelt hatte. Neben ein paar unschönen Prellungen und der ganz und gar hässlichen Platzwunde auf der rechten Schulter, der Seite, die bereits mit Tattoos einer Königskobra, zwei Meisen und einem mittlerweile verblassten, hellblauen Schmetterling verziert war, hatte sie sich eine Schädelfraktur zugezogen.
Nun kniet sie im Gemüsegarten, öffnet sorgsam das Päckchen, schüttet die Karottensamen auf die Hand und betrachtet sie einzeln, ehe sie vier auswählt. Der Nachmittag ist so ruhig wie sie sie selbst, der Wind hält sich still, der Sonnenschein streckt sich milde über die Landschaft, in den Bäumen am Siedlungsrand zwitschern paarungswütige Spatzen.
Ihr Arzt beteuerte neulich, der Bruch sei sauber und ohne nennenswerte Komplikationen verheilt, doch da war sie völlig anderer Meinung, zumal sie seither zu einer anderen Person mutierte, täglich ein Stück ihrer selbst mit neuen Ideen und Überzeugungen austauschte, die schlicht und ergreifend keinen Ähnlichkeit zu ihrer früheren Identität bargen. Der Vorfall hatte nämlich nicht nur Millionen, gar Milliarden Hausstaubmilben aufgewirbelt, sondern ebenso den Drang, endlich Ordnung in ihr zunehmend unüberschaubares Chaos zu bringen, in dem sie sich bislang, ähnlich dem himmelblauen Bläuling, den sie sich zum achtzehnten Geburtstag hatte tätowieren lassen, eingepuppt hatte. So war es auch gekommen, dass sie direkt im Anschluss an die holprige Taxifahrt (während der ihr Fahrer ungefragt seinen Senf zu der weltpolitischen Lage zum Besten gegeben hatte) vom Krankenhaus zu ihrer vollgestellten Wohnung, mitten in eben diese gekauert und tief ächzend den Entschluss gefasst hatte, einen neuen Weg einzuschlagen.
Nach kurzer Überlegung pflückt sie nochmal zwei Sämchen aus dem Papierbeutel, setzt sie behutsam in die daumengroßen Löcher, die sie für ihre Möhren gestochen hat. Sie genießt die Idylle in ihrem Garten, er ist zu ihrem liebsten Ort geworden. Gemächlich steht sie auf, nimmt den Jutesack vom Zaun und kramt die Zucchinisamen hervor, diese will sie hinter die Karotten pflanzen.
Manche Menschen benötigen einen Weckruf, um die Brisanz der eigenen Situation zu erfassen und Weckrufe hatte es in ihrem Leben so einige gegeben; von verlorenen Steuerbelegen, über verschlampte Mahnungen, bis zu vergammelten Joghurts, die unter ihren zahlreichen Habseligkeiten im Verborgenen Gestank verbreiteten, hätte es beachtliche Menge an Alarmsignalen gegeben, die sie allerdings alle verpennte. Ja, die sich stets weiter anhäufenden Besitztümer drückten sie regelrecht zu Boden, wobei von diesem kaum etwas zu erkennen gewesen war, dämpften Wichtiges und Unwichtiges gleichermaßen. Irgendwann saß sie in einer schalldichten Glocke aus Zeug, Kram und Mist gefangen, hatte Mühe durchzuatmen, wurde von innen aufgefressen wie ein Baumstrunk voller Borkenkäfer.
Sie krallt ihre Finger zur Harke, lockert mühselig den Erdboden, brummt und lächelt zufrieden vor sich hin. Ihr Nachbar schlurft vorbei, nickt ihr zu und verschwindet hinter den Hecken, die sie heute oder morgen zurrechtstutzen will. Eine Katze biegt ums Haus, springt freudig auf sie zu und lässt sich kraulen, bevor sie mit verdrecktem Bauch davonhuscht.
Der Einsturz des Bücherregals war also vielmehr ein Glück denn Unglück, schließlich hatten die auf sie niederfallenden Wälzer erreicht, was keine Misere zuvor vermochte und sie wurde zu einem abrupten Wirklichkeits-Check gezwungen. Vor knapp acht Monaten hatte sie im hinteren Teil ihrer Stube mit ihrem Projekt begonnen, das bis heute einen Großteil ihrer Energie verschlang, sie damit aber nicht vertilgte, sondern wiederkäute und vermehrte. Der heillos überfüllte Schrank wich als erster, auf ihn folgten vier weitere. Danach zwei Kommoden, ein Schuhschrank, acht Regale, einige Truhen und natürlich die Einbauschränke in der Küche, im Flur und Schlafzimmer. Dank ihrem Notizblock behielt sie den Überblick über ihre fein säuberlich geplante Aufräumaktion.
Achtsam steckt sie einen Knollensellerie ins Beet, schüttet Erde auf und drückt sie ein wenig fest. Sie plumpst auf den Hintern, seufzt wohlig und schließt die Augen, um die behagliche Stimmung auszukosten. Dann streckt sie sich und zieht ihren Jutebeutel heran, die einzige Tasche, die sie noch besitzt. Der Nachbar könnte sich darüber freuen, denkt sie und nimmt sich vor, sie ihm in den Briefkasten zu legen.
Sie staubte Kinkerlitzchen, Souvenirs, ehemals sinnvolles und Güter reinster Verschwendung aus, sammelte sie und mit jeder Kiste, die sie wegbrachte, wurde sie leichter. Und weil die Leichtigkeit sie wie ein Fieber packte, machte sie weiter. Stetig, unbeirrt organisierte, entsorgte und verschenkte sie, was sie nicht brauchte. Wie früher die Gegenstände gekommen waren, so gingen sie derweil im Eiltempo zur Tür hinaus. Sie schaffte Platz für Luft und Gedanken.
„Zu viel“, murmelt sie „Zu viel.“ Sie geht in die Hocke, streift ihren Pullover über den Kopf und faltet ihn bedächtig auf den Knien zusammen, damit er sauber bleibt. Der Sommer naht, der Pullover würde bis zum Herbst im Schrank verstauben, da spendet sie ihn lieber der Berghilfe. Schuhe benötigen die wahrscheinlich ebenfalls, denkt sie und zupft am Schnürsenkel. Den Ring ihres Mannes, den genauso, er ist sowieso nicht mehr hier. Und die Tränen, die will sie auch nicht mehr.
Jedes Ding nahm Raum. Alles verursachte Schnörkel. Schlug Wellen. Sie wollte Ruhe. Es musste weg. Zu viel. Es war einfach zu viel. Alles. Bald auch sie. Sie musste bloß noch die Gemüsesamen verräumen.
Es hat mir Freude gemacht, Ihren Blog zu lesen.Danke, dass Sie ihn geteilt haben.