„Komm montags nach der Schule gleich vorbei.“ Adam nickte wortlos. „Ich brauche jemanden, der mir beim Ausräumen der Ware hilft und du kannst dir einen Obolus dazuverdienen.“ Francine hatte das Familiengeschäft übernommen und den Kleiderladen nicht nur von seinem muffigen Renommee gerettet, sondern es tatsächlich geschafft, zu expandieren. „Wenn du magst, können wir danach zum Chinesen nebenan.“ Erneut nickte der Siebzehnjährige. Er wusste seine Tante zu schätzen, auch wenn sie ihm mit ihrem exzentrischen Auftreten manchmal ein wenig peinlich war.
„Ach, was ist es schön, euch alle beieinander zu haben“, schwärmte Bubbie Esther, als sie im Türgreis innehielt und allen Anwesenden ein warmes Lächeln schenkte. Sie strahlte förmlich, verlieh der stickigen Atmosphäre etwas Magisches und wenn man genau hinsah, konnte man erahnen, was für eine Grazie sie einst gewesen war. Miriam sprang sofort auf, ihr Hinternabdruck blieb in der durchgesessenen Couch zurück, und hastete zu ihrer Mutter, um ihr das Servierbrett abzunehmen. „Jetzt lass mich, Miri“, entgegnete die Rentnerin und drängte sich mitsamt dem Abendessen, das eigentlich für sechs Leute war, allerdings für eine Fußballmannschaft reichen würde, an ihr vorbei ins Wohnzimmer. „Was glaubst du, wie alt und gebrechlich ich bin?“, nuschelte sie vor sich hin und stellte einen Leckerbissen nach dem anderen in die Tischmitte. „Also wirklich, als könnte ich meine Familie nicht selbst versorgen.“ Bubbies Essen war der Goldstandard in ihrer Familie, keiner von ihnen kannte eine bessere Köchin, zumindest gäbe es niemand zu. „Komm, wir essen. Ihr seht alle so mager aus. Das kommt davon, wenn ihr mich nicht regelmäßig besucht.“
„Wir sind jeden Samstag bei der Mischpoke“, protestierte Jonathan, schlenderte zu seinem Platz und ließ sich mit einem tiefen Seufzen darauf fallen. Er hatte die letzten Tage damit verbracht sich um Ariel zu kümmern, während Miriam auf Weiterbildung war, und war hundemüde von den Sperenzchen seines Sechsjährigen. Seit sie den Nachzügler bekommen hatte, war ihr Leben völlig aus den Fugen geraten und er bewunderte seine Frau dafür, mit wie viel Elan sie die Aufgabe bewältigte. „Würden wir täglich so reinhauen, kämen wir nicht mehr durchs Gartentor. Dann müsstest du uns für immer hierbehalten.“
„Wäre das so schlimm?“ Bubbie Esther starrte erst ihren Schwiegersohn, den sie mit den Jahren stets weniger mochte, dann Francine an, die noch auf der Polstergruppe lümmelte und auf ihrem Smartphone herumtippte. „Francie! Leg das verkackte Ding weg und setz dich an den Tisch.“
„Himmel, ich komm ja schon.“ Murrend erhob sie sich, stolperte sogleich über eines von Ariels Spielzeugen und landete auf dem frisch shampoonierten Teppich. Da hüpfte der Bub von seinem Stuhl und rannte zu seiner auf dem Boden fluchenden Tante und tröstete … seinen Säbelzahntiger. „Oy, Frau Schen, geht es dir gut?“
„Unfassbar!“, wetterte Francine und rappelte sich ungelenkig auf. „Ob ich mir wehgetan habe, ist dir egal, was?“ Es war ein offenes Familiengeheimnis, dass Tante Francine keine Vorliebe für kleine Kinder hatte. Zwar verstand sie sich mittlerweile prima mit Adam, aber auch erst, seit er den Stimmbruch hinter sich hatte und sich zuverlässig die Hände wusch. „Ariel, hörst du mir überhaupt zu?“ Der Angesprochene tätschelte sein Stofftier, Miriam eilte ihrer Schwester zu Hilfe, indes war Jonathan damit beschäftigt, einen Lachkrampf zu unterdrücken. „Ein frecher Bengel bist du, es nicht zum aushal…“, holte Francine aus, als ihr Bubbie Esther ins Wort fiel.
„Lass den Jungen in Ruhe, Liebes. Es ist nicht seine Schuld, wenn du ständig auf dieses Telefon glotzt und nicht schaust, wo du hinläufst.“ Sie gestikulierte zum Esstisch, dabei wippten ihre zu einem festen Päckchen geschnürten Brüste auf und ab. „Und nu hockt euch hin, seid still und esst!“
Niemand hatte den Mut, der Matriarchin zu widersprechen. Sie war es sich gewohnt, das Sagen zu haben, daran änderte auch ihr ansteigendes Alter wenig. Esther hatte ihren Mann früh verloren, da waren ihre beiden Töchter noch in die Grundschule gegangen. Francine und Miriam erinnerten sich kaum an ihren Vater. Er war kein freundlicher Mann gewesen und sein frühes Ableben war eine überraschende und zugleich glückliche Wendung gewesen.
„Adam Zeugnis ist gestern gekommen“, brach Miriam nach einer Weile das Schweigen. „Er hat sich in jedem Fach verbessert.“ Sie steckte sich einen Happen in den Mund, legte die Gabel ab und rubbelte ihrem Sohn über den Rücken. „Wir sind sehr stolz auf ihn.“
„Viel schlechter hätte es auch nicht werden können“, meinte Jonathan zwischen zwei Bissen. Seine Frau boxte ihm auf den Oberarm, Francine verdrehte genervt die Augen und drehte sich Adam zu, der seit geraumer Zeit beinahe apathisch in seinem Abendessen herumstocherte.
„Was? Ist doch wahr.“ Adam hatte nicht mit einer überschwänglichen Reaktion seines Vaters gerechnet, dennoch verletzte ihn dessen Spötteln. „Wir sind schon froh, wenn der Junge seinen Namen richtig schreibt.“
„Du bist ein …“, keifte Tante Francine los, stützte sich mit beiden Fäusten ab und stand energisch auf, sodass ihr Stuhl umkippte. „Arschloch!“
„Arschloch“, echote Ariel kichernd und Miriam fuchtelte beschwichtigend, lehnte sich nach vorne, um ihren Mann von Francines wütenden Blicken abzuschirmen: „Francine, bitte.“
„Arschloch“, wiederholte Ariel heiter und kickte mit den Füssen gegen ein Tischbein. Keiner kümmerte sich um sein unflätiges Benehmen, die Stimmung war zu angespannt.
„Er meint es nicht so“, ereiferte sich Miriam weiter. „Er macht nur Witze. Nicht wahr, Schatz, du machst nur Witze.“
„Natürlich.“ Jonathans Grinsen verriet ihn. „Natürlich. Ich mache nur Witze. Wir sind sehr stolz auf ihn. Stimmt’s, Adam?“
„Wen willst du verarschen, Jona? Wir ertragen deine Scheiße lange genug und ich für meinen Teil habe echt die Schnauze voll von deinem dummen Gelab…“
„Francie“, unterbrach Bubbie Esther das Geschrei. „Setz dich wieder hin und beruhige dich.“
„Ich soll mich beruhig…“
„Francie! Setz dich.“ Die Stimme der alten Dame donnerte durch ihre mit Kram vollgestellte Wohnung, Francine plumpste auf ihren Stuhl, sogar Ariel verstummte. „Gut“, sagte Bubbie Esther zufrieden, pausierte und atmete betont langsam ein und aus. „Gut. Sehr gut.“ Sie zeigte auf eine Schüssel. „Adam, gibst du mir bitte die Bohnen?“ Zum ersten Mal, seit sie bei Tisch waren, hob er den Kopf, streckte sich und schob die Schale zu seiner Großmutter. „Danke dir.“ Gemächlich löffelte sie Bohnen auf ihren Teller, beäugte dabei ihre Familie. „Also, Jonathan“, begann sie auffällig leise. „Wir genießen unser Abendessen und wenn du dein Stracciatella Eis aufgemacht hast, gehst du nach Hause und packst deine Sachen. Ich empfehle dir das Hotel neben der Zoohandlung, die Preise sind in Ordnung.“
„Das ist nicht dein Ernst?“, lachte er und wartete darauf, dass seine Frau sich einmischte, ihn verteidigte. Es kam anders.
„Das Frühstück dort soll gut sein“, flüsterte Miriam, Adam schluckte leer und Francine schmunzelte triumphierend.
„Spinnt ihr?“ Die Ader an seiner Schläfe trat hervor, seine Nackenmuskulatur verspannte sich. An Bubbie gewandt brüllte er: „Wie kommst du auf die Idee, mich aus meinem Haus werfen zu können, wie stellst du dir das vor?!“
„Ach, Liebchen, das ist ein Pappenstiel. Du wärst nicht der erste Mann, den ich verschwinden lasse.“