Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Entnervt lausche ich der Stimme in meinem Kopf, die verkündet, ich solle aufstehen. Ich habe Wecker schon zu jenen Zeiten gehasst, als ich keine bioelektronischen Implantate hatte, aber die telepathische Version ist tatsächlich schlimmer. „Ist gut, bin wach“, murre ich gedanklich und richte mich auf – wenigstens ist der impertinente Piepston, der zusätzlich durch meinen Schädel hallte, endlich verstummt. Die erste halbe Stunde des Tages ist für mich bis heute seltsam: Während die Cyborg-Teile vollständig hochgefahren sind, kommt der organische Teil meines Körpers gerade erst zu sich. Nach über zweihundertfünfzig Jahren habe ich aufgegeben jemals ein Morgenmensch zu werden. Glücklicherweise ist die Erde ein Ort, der nie schläft und meinem Jobs als Schriftstellerin und Designerin virtueller Realitäten kann ich rund um die Uhr nachkommen.
„Spiegel. Kaffee“, ordere ich mein Apartment und an der Wand materialisiert sich der Spiegel, vor dem ich mich halbwegs passabel frisiere. Nur noch selten fällt mir auf, wie sehr ich, im Gegensatz zur Zeit meiner ersten Modifikationen, beinahe menschlich aussehe – Cyborg-Technologie hat sich wirklich rasant weiterentwickelt, stelle ich zufrieden fest, steuere meine mechanischen Sprunggelenke und katapultiere mich im Salto, der meine Frisur ruiniert, in die Küche, wo bereits der Kaffee auf mich wartet. Ich hoffe, die Brühe tut rasch ihre Wirkung und weckt auch den Rest meines Körpers, schließlich muss ich mich bald auf den Weg zum Raumhafen machen.
Nachdem ich meinen Reisekoffer gepackt habe, schaue ich aus dem großen Panoramafenster, vor dem sich die Stadt unter und über mir ausbreitet. Ich werde die Erde vermissen, dennoch freue ich mich darauf, Rahel zu besuchen. Laut meinem integrierten Kalender habe ich sie vor achtundzwanzig Jahren und einhundertzehn Tagen zum letzten Mal gesehen. Entgegen meiner Gewohnheit packe ich vorwiegend praktische Kleidung ein, auf Alteram Vicem herrscht trotz Terraforming ein raues Klima – etwas wehmütig lasse ich die meisten meiner geliebten Kleidchen im Schrank. Naja, eigentlich ist das Klima auf der Erde ein ebenso rau, obschon das hier nicht wetterbedingt, sondern politischer Natur ist.
Die Regierung wollte Cyborgs als Maschinen deklarieren und sie damit von den Wahlen ausschließen, was mich dazu bewegte, einige kritische Artikel für den „Virtual Informer“ und Clue Writing zu veröffentlichen. Und plötzlich fiel mir auf, dass mir die Überwachungsroboter häufiger folgten als anderen Bürgern und meine Post, statt wie üblich zehn Sekunden nach der Bestellung, Minuten später ankam. Als erste Regierungskritiker verschwanden, begann ich, ernsthaft übers Auswandern nachzudenken.
„Bestellung: Pizza“, diktiere ich dem System, denn niemand verlässt seinen Heimatplaneten gern mit leerem Magen. Früher hätte ich erwartet, auf meine alten Tage ein bisschen weniger zu essen, dank Biotechnologie bin ich quasi wieder fünfundzwanzig und die Cyborg-Komponenten brauchen unfassbar viel Energie. „Das kann ja heiter werden, auf einer Welt, die kaum Ressourcen hat“, brumme ich, den Koffer verschließend, ehe ich seine Antigravitationseinheiten einschalte und ihm einen Schubser in Richtung Tür gebe. Entschlossen gehe ich in die Küche, wo meine dampfende Pizza im Warmhalter eingetroffen ist.
Die Herbstsonne blendet mich, als ich auf den Platz des Weltfriedens hinaustrete, also tönt mein Hauptrechner die Augen ab, damit ich einigermaßen sehen kann. Aus purer Faulheit setze ich mich seitwärts auf den schwebenden Koffer und stoße mich mit dem Fuß vom Boden ab, sodass ich auf die nächste Bahnstation zu gleite. Obwohl ich bestimmt eines Tages, wenn sich die politische Lage verändert hat, zurückkehren werde, kommt mir alles endgültig vor. Ein letztes Mal blicke ich den Wolkenkratzern entlang hoch, deren Fassaden den stahlblauen Himmel sowie vereinzelte Wolken spiegeln. Ich betrachte die unzähligen Flitzer, die durch Häuserschluchten rasen … Du meine Güte, da ist schon wieder eines dieser Scheiß-Überwachungsdinger! Ich brauche kurz, um mir sicher zu sein: Der kugelförmige Roboter verfolgt mich. Ja gut, bald müsste ich diese vermaledeiten Maschinen nie mehr sehen, was, nebst meiner Vorfreude auf das Wiedersehen mit Rahel, wohl meine liebste Aussicht für die nahe Zukunft ist. Bei der Treppe angelangt, springe ich vom Koffer, um nicht unkontrolliert in die Unterführung zu stürzen. Beschwingt aktiviere ich mein Com-Implantat und befehle ihm, Rahel anzurufen. Unverzüglich erklingt die Systemstimme: „Der Benutzer Rahel1461981328 ist unerreichbar, eine Verbindung kann nicht hergestellt werden.“ Erstaunt trenne ich den Anruf und frage mich, was los ist. Diese Fehlermeldung ohne die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen, gab es bislang bloß einmal, als die interplanetare Verbindung komplett zusammengebrochen war – hat die Regierung etwa mein Com blockiert? Mich von meiner aufkeimenden Nervosität ablenkend, konzentriere mich auf die entgegenkommenden Passanten.
Die Schalterhalle des Raumhafens ist gut gefüllt, viele Ausflügler, Geschäftsreisende und andere Gestalten stehen herum und warten auf ihre Sternenschiffe. Betont ruhig marschiere ich auf die Schlange vor der Ausreisekontrolle zu, wo Beamte die ID-Chips der Passagiere prüfen. Im Prinzip muss ich mir keine Sorgen machen, mein Visum für Alteram Vicem ist mehrere Wochen gültig. Auf Rahels kleiner Staubkugel, wie ich den Planeten insgeheim nenne, wird sich sowieso keiner kümmern, wenn ich bleibe und die Behörden der Erde werden davon nichts erfahren.
Langsam schiebt sich die Schlange voran, Schritt für Schritt komme ich dem Schiff näher, das mich weit weg von der Zivilisation bringen wird – weit weg von einem Regime, das es auf mich abgesehen hat. Ich werde die Annehmlichkeiten des Lebens hier vermissen, vor allem die Pizza, ich freue mich allerdings mehr, wieder mit einer alten Freundin vereint zu sein. Mal sehen, ob ich mich in der Wildnis durchschlagen kann. Meine Modifikationen sollten mich zumindest am Leben halten, naja, sofern meine Tollpatschigkeit nicht zu meinem Untergang wird. Da ich meine Umwelt beim Tagträumen von Waldausflügen und eisigen Nächten, die ich mit Rahel durchquatsche, vergessen habe, erschrecke ich, als ein Beamter mich anblafft: „Ihre ID bitte, Ma’am.“
Ich halte mein Handgelenk an den Chipleser und erkenne, wie das Hologramm auf seinem Pult statt grün rot wird – ein schlechtes Zeichen. Höflich deutet der Staatsdiener auf eine Tür, die in ein Hinterzimmer führt. „Kommen Sie bitte kurz mit.“