Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist ein lose verbundener Prolog zur Fortsetzungsgeschichte „Road Trip“.
Gelb ist der Sonnenuntergang, als der riesige Feuerball sich in dem Smog über den schier endlos aneinandergereihten Hausdächern senkt. Alte VHF-Antennen, Satellitenschüsseln und Klimaaggregate werden zu einem bizarren, industriell-charmanten Wald aus Silhouetten, vermengen sich mit der flirrenden Luft. Das Hupen von der Kreuzung der 135th mit dieser anderen Straße, deren Namen ich stets vergesse, die vierundzwanzig Stockwerke unter mir liegt, wirkt unendlich fern, als käme es aus einer fremden Galaxis. Die letzten lichten Boten des Hochsommertages kitzeln mein nacktes Bein, lassen den roten Nagellack an den Zehen in der Farbe einer Erdbeere erstrahlen. Die rotbraunen, schmutzigen Ziegel der Mauer sind in dem Licht warm, haben den Sommer in sich aufgesogen und werden ihn frühestens im September wieder hergeben. Ich strecke das Bein, lasse es nonchalant in den Abgrund baumeln, beobachte die wippende Wellenbewegung des türkisfarben gestreiften Rocks. Der Fenstersims fühlt sich an meinem Hintern langsam unangenehm an, harte Knochen auf hartem Stein, dazwischen zarte Haut, er wird jedoch so lange ignoriert werden, bis der leichte Schmerz nachlässt, denn hier draußen erstreckt sich mein Reich, die Freiheit des urbanen Luftraumes.
Die Stimmen aus dem Innern schwellen zu einer Crescendo an, dessen Brandung über mich hinwegzieht, wirkungslos in der dampfenden Luft vergeht und dabei das Bellen aus der 23-B verschluckt. Mein Blick wandert, entlang der Feuertreppe, die mich im Zweifelsfalle vor einem Sturz in den Tod bewahren würde, im Zickzack, Stockwerk für Stockwerk nach unten. Im Zweiundzwanzigsten steht eine kläglich verwelke Palme auf dem rostigen Eisengitterboden, vermeintlich beseitigtes Beweismaterial dafür, dass ein Grüner Daumen nicht die Stärke des alten Mannes aus der 22-F sein kann. In Kaskaden springt mein Auge weiter, sieht Mülltüte, Katzenklo, Besen, diese Feuerleiter ist ein wahrer Fundus an Dingen, die niemanden mehr kümmern, vernachlässigt, weggeworfen.
Die Großstadtsuppe kocht, Verkehrslärm, noch immer fern, Chaos, eilende Menschen, 135th und diese andere Straße, deren Namen ich stets vergesse, hundert Eindrücke, hingegen ich bin hier oben ganz alleine in meiner eigenen Welt, eine isolierte Entität, herabblickend aber ohne Handlungsfähigkeit, das menschliche Äquivalent einer Überwachungskamera. Ein Vogel quert die Häuserschlucht, gleitet auf Nahrungssuche elegant dahin, Grazie der Ratte der Lüfte.
Die Abfallprodukte der postmodernen Gesellschaft im Innern werden lauter, ein Vorbote des drohenden, nicht mehr verhinderbaren Verderbens. Niemand will sie hören, jeder ignoriert sie, denn hier ist die Paralleldimension der gescheiterten Existenzen, der verarmt sterbenden Alten, der mit unlimitierter Kinderzahl gesegneten Zuwandererfamilien, die fürchten, die Ordnungshüter zu rufen, Deportation stets im Hinterkopf. Meine Hand umklammert das Smartphone, die drei Ziffern habe ich schon lange nicht mehr gewählt, werde sie nach heute wohl nie wieder wählen müssen. Freiheit zum Greifen nahe, ein Versprechen der Metropole und meines jugendlichen Alters, eine Zukunft zu haben, einen besseren Ort in diesem monolithischen Bienenstock zu finden. Für mich. Wie diese Worte klingen, süß, verlockend, eine Zukunft, von der es kein Zurück mehr geben wird, meine Zukunft, Freiheit.
Eine einsame, getrocknete Kichererbse, welche ich mir zum Spaß zwischen den großen und den zweiten Zeh geklemmt habe, wird herausgepult und gemustert. Die Hand hält auf dem Weg zum Mund inne, als die Vernunft siegt und das tragische Schicksal der wehrlosen Hülsenfrucht ist besiegelt, als ich sie auf die Kreuzung der 135th mit der Straße, deren Namen ich stets vergesse, fallen lasse. Was wird ihr Weg sein, wo wird sie enden? Ohne GPS-Tracker werden wir es nie erfahren, die Kichererbse tritt ihre spektakuläre letzte Reise durch Harlem alleine an. Ich schließe die Augen, genieße die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf meinem Gesicht, das satte Rot hinter meinen Augenlidern, das alles erfüllt. Was für ein Abschied von Apartment 24-F, nicht großartig, doch farbenfroh. Angemessen.
Eine Hand schneidet wie ein Schwert durch die Luft, klatscht auf eine ohne Gegenwehr bereitgehaltene Wange, die gar einen Märtyrer wie Jesus mit innbrünstigem Stolz erfüllt hätte. Kein Schrei, kein Wimmern. Angewidert verzieht sich meine Miene, durch Jahre des Beobachtens und Teilnehmens an der vertrauten Szenerie abgestumpft, habe Ekel und Verachtung als letzten Ausweg gewählt. Gerade mal ein Sechstel der gelben Scheibe steht über dem Flachdach der Jahrhundertwende-Blocks mit der abbröselnden Werbeaufschrift gegenüber, flimmert in der davon aufsteigenden Hitze wie ein stellarer Wackelpudding, dem sich täglich widerholenden und objektiv betrachtet inakkurat bezeichneten Untergang geweiht. Repetition, das, was den Alltag ausmacht, Absurdität kondensiert an der kalten Fensterfront der Realität zu den Tropfen des Alltags, wird zur unhinterfragten Normalität. Ich wackle mit meinen Zehen, links, rechts, links, frage mich, wie viel Gewalt nötig ist, um die metaphorische Fensterfront zum Splittern zu bringen, barfuß durch die Scherben zu schreiten, erhobenen Hauptes, ohne je wieder der Verlockung des Trotts und der Selbstverleugnung zu verfallen. So wie Mom. Dumm, gleich einem Schaf, das dem Leittier verfallen ist, gepaart mit der menschlichen Schwäche, den Bock vor das Wohl ihrer Kleinen zu stellen. So wie Dad. Aggressiv, nie aufgehalten, einer Abwärtsspirale des Hasses verfallen, deren einziges Ende durch einen Polizisten herbeigerufen wird, welcher mit gezogener Waffe neben der Leiche meiner naiven Mutter stehen und den Mörder erschießen wird. So wie ich, sinnlos trotzig, machtlos der Situation verfallen, gleichgültig, apathisch. Das alles war einmal, denn heute wird die Zukunft neu geschrieben, das Glas wird splittern, Gomorra wird brennen.
Der oberste Rand der gelben Scheibe verschwindet, der Himmel glimmt in einem ausgewaschenen Hellblau mit Rotstich, die Lichter der Autos auf der Kreuzung der 135th mit dieser anderen Straße, deren Namen ich stets vergesse, werden wie kleine Glühwürmchen erkennbar. Es ist Zeit.
Durch jahrelange Gewöhnung ziehe ich rasch mein festes Schuhwerk an, nur diesmal in dem Bewusstsein, dass es künftig mein einziges Paar sein wird, der Wandel hat begonnen. Behände landen meine Füße auf der Plattform der Feuerleiter, wird der bereits gepackte, ausgeblasste, rote Rucksack geschultert, einmal nach unten gesehen, glücklicherweise bin ich schwindelfrei. Das Fenster mit der auf dem Glas aufgedruckten Datierung „2002“ ist bloß so weit hochgeschoben, dass nur ein möglichst kleiner Schlitz bleibt, gerade genug, um das Streichholz auf den benzingetränkten, schäbigen Teppich zu werfen. Die Flammen wachsen geschwind, versperren den Fluchtweg, verschlingen meine Kindheit, machen mir die Endlichkeit alles Seienden bewusst. Schade, eigentlich, aber jeder bezahlt seinen Preis, meine gescheiterten Erzeuger den ihren, ich den meinen – bereitwillig oder willenlos.
Die Feuerwehrautos blockieren die Straße, Sirenen plärren durch den lauen Sommerabend, als meine braunen, klobigen Schuhe den Boden berühren. Die Kreuzung der 135th mit dieser anderen Straße, deren Namen ich stets vergesse, gleicht einem Ameisenhaufen aus durcheinanderwuselnden Rettungskräften, ist in blaurotes Blinken getaucht, nervös, chaotisch. Die behandschuhten, großen Pranken eines Feuerwehrmannes packen mich. Als er mich über den Asphalt, dessen Steinchen ich anstarre, zerrt, kann ich durch das Rufen vernehmen: „Alles wird gut, Mädchen …“ Der Rest wird von dem wütenden Pandämonium verschluckt und sobald er mich, von einer Explosion im Gebäude abgelenkt, absetzt, huschte ich ungesehen von dannen. Bald beschwingt, in Schlenkern gehend, berühre die Parkuhren, die wie Cops in immergleichen Abständen am Straßenrand stehen, eine, zwei, drei …
Mit einem Knirschen trete ich auf eine getrocknete Kichererbse, mein Mund verzieht sich traurig – ihre Geschichte hatte mir besser gefallen, als ich ihr Ende nicht gekannt habe, das sich jetzt als deprimierend, unspektakulär herausstellt. Ganz anders als der Ausgang meiner Story, noch ungeschrieben, spannend. Ich schlendere der Straße lang, deren Namen ich stets vergesse, immer in Richtung Süden, auf die glitzernden Türme und steinernen Obelisken zu, welche alles von Aufstieg bis Untergang versprechen. Zurück sehe ich kein einziges Mal, wieso auch? Meine Reise beginnt hier und die Vorfreude lässt eine längst vergessen geglaubte Glückseligkeit durch meinen Körper strömen.