Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Durchgeknallt, das bist du!“, schimpfte Heinz mit seiner Liebsten. „Ehrlich, Gudrun. Das ist schwachsinnig.“ Die Angesprochene zuckte mit den Schultern, zog Schnodder die Nase hoch, ehe sie sich entspannt an die bröckelige Wand lehnte und meinte: „I wo, so schlimm ist das alles gar nicht.“ Dann beugte sie sich ein wenig vor, um ihre Stützstrümpfe zurechtzuzupfen und tippelte vorsichtig weiter den Schacht hinunter. Heinz folgte ihr mit einem knappen Meter Abstand, hielt dabei seine Rechte so ausgestreckt, dass er sie auffangen könnte, sollte sie stürzen.
Gudrun war seine dritte große Liebe, obschon er zu gerne behauptete, sie sei die erste und letzte. Vor ihr waren Karin und die zweite Karin seine Angetrauten gewesen. Wobei die zweite Karin, das war ihm mittlerweile klar, eine eher schlechte als rechte Lückenbüßerin für die erste gewesen war; böse Absichten hatten keine dahinter gesteckt, sondern Bequemlichkeit. Die Ärmste, schrecklichst verliebt in Heinz, war nach dem Tod ihrer Vorgängerin sogleich zur Stelle gewesen und er hatte ihre Fürsorge dankbar angenommen. Erst vorigen Monat hatte er von gemeinsamen Bekannten erfahren, wie sie zwölf Jahre nach der Scheidung noch um die Ehe trauerte, wohingegen Heinz sein Leben mit Gudrun in vollen Zügen genoss. Nun ja, meistens jedenfalls. Hin und wieder verschleppte seine rüstige Gefährtin ihn nämlich auf gar sonderbare Abenteuer, die er allein deshalb mitmachte, um auf sie aufzupassen. Selbstverständlich hatte er etliche Male versucht, sie von ihren Spinnereien abzubringen, das war allerdings noch unmöglicher, als einem Esel das Lesen beizubringen. Gudrun hatte eine Menge gute Eigenschaften; sie kochte wunderbar, hatte einen fabelhaft düsteren Humor und war eine durchweg kluge sowie mutige Frau. Bloß war sie eben auch das sturste Wesen auf Gottes schöner Erde und ihr Wissensdurst war bis ins hohe Alter ungebremst geblieben.
„Heinz“, klang ihre kratzige Stimme dumpf durch die unterirdischen Gänge. „Ist es das da vorne?“ Im Kegel der Taschenlampe wurde eine schmale Öffnung sichtbar. Zwar kamen ihm die Stollen bekannt vor, jede Abzweigung rief vage Erinnerungen hervor, welche hinter den Nebelschwaden der vergangenen Dekaden aber kaum zu dechiffrieren waren.
„Kann sein“, murmelte Heinz grüblerisch. „Vielleicht.“
„Wie, ‚kann sein‘?“ So schwungvoll es mit ihren schweren Wanderstiefeln ging, drehte sich Gudrun um die eigene Achse, steckte ihre Hände in die Rocktaschen und fixierte ihren Mann mit einem eindringlichen Blick. „Wie kannst du dir nicht sicher sein? Du hast hier unten fast dreißig Jahre geschuftet.“ Er nickte betroffen, sah sich erneut um und verteidigte sich: „Es hat sich viel verändert, Gudrun. Die Schächte sind marode, einige sind eingestürzt und überhaupt haben wir immer den Lift beim Haupteingang benutzt.“ Insgeheim nahm er niedergeschlagen zur Kenntnis, wie sehr sein Gedächtnis bereits gelitten hatte. Statt ihn in die Zange zu nehmen, akzeptierte Gudrun diese Auslegung schweigend und machte sich daran, den Durchgang genauestens zu inspizieren. Bestimmt hatte sie die Beunruhigung aus seinem Tonfall herausgehört, denn Wortlosigkeit war normalerweise weniger ihr Ding.
Nach langem Hin und Her waren sie durch die Öffnung geklettert und hatten dahinter eine winzige Kammer gefunden, in der sich zwei weitere Tunnel abzweigten. Endlich waren Heinz die Windungen im Gestein bekannt vorgekommen, also hatte er sich für den mittleren Schacht entschieden; ein Fehler, ein ganz fürchterlicher Fehler.
„Nimm einen Schluck“, forderte ihn Gudrun auf. „Es ist Minze, dein Lieblingstee.“ Sie schraubte den Deckel der Thermosflasche ab und er ließ es zu, dass sie ihm einen kleinen Schluck einflößte. Er lag auf dem Rücken, ein spitzer Stein bohrte sich in sein linkes Schulterblatt und im Lichtstrahl der Taschenlampe waren Spinnen auszumachen, die auf der bröckeligen Decke herumkrabbelten. „Ich probiere es nochmal“, nuschelte Gudrun seufzend und Heinz hatte es nicht in sich, ihr zu erklären, ihre Bemühungen, jemanden zu erreichen, seien aussichtslos; sie sollte an der Hoffnung festhalten dürfen, das Mobilfunknetz reichte bis in den verlassenen Stollen. „Und Konrad wird uns sowieso vermissen, er holt uns bald nach Hause.“ Gudruns Sturheit war wirklich bemerkenswert, selbst in ausweglosen Situationen blieb sie optimistisch, weigerte sich schlicht und ergreifend, das Ende zu tolerieren.
„Gudrun, wir müssen …“, flüsterte Heinz und begann daraufhin angeekelt zu prusten. Eine Spinne hatte den Halt verloren und war auf seine Oberlippe gefallen. Seine Gefährtin wischte das Tier schmunzelnd beiseite, bevor sie ihm gutmütig auf die Brust klopfte. Heinz hatte Spinnen nie gemocht und auch wenn er nicht gerade Panik vor den Biestern hatte, war es trotzdem stets Gudrun, welche sie aus der Garage in den Garten brachte.
„Sie ist weg, Schatz.“ Natürlich war es ihre Idee gewesen, in die stillgelegte Mine zu steigen und Heinz hatte sich nur zu schnell überreden lassen. Seit Pauls Tod vor drei Wochen war er der letzte verbleibende Kumpel, eine Tatsache, die ordentlich an ihm nagte. Die Stadt war nicht bereit, einen Trupp in den Stollen zu schicken, man hatte besseres zu tun als Jubiläumstafeln zu bergen. Heinz konnte das nachvollziehen, dennoch war es ihm wichtig, die Messingplatte zu finden; all ihre Namen waren darauf eingraviert, sie war sozusagen das Jahrbuch der Kumpel und das durfte keinesfalls mitsamt den weitläufigen Gängen in Vergessenheit geraten.
„Gudrun“, holte Heinz erneut Anlauf. „Pass auf, es wird niemand kommen, deswegen …“
Sie hatten sich eine Weile gestritten, schlussendlich hatte sie doch eingewilligt, alleine zum Ausgang zu gehen. Zumal der Schacht, durch den sie gekommen waren, kurz nachdem sie ihn passiert hatten, in sich zusammengefallen war, blieb Gudrun keine andere Wahl, als sich zum Haupteingang durchzukämpfen. Heinz‘ Wegbeschreibung ließ derweil zu wünschen übrig und bestand aus vielen Spekulationen. „Ich vermute, danach musst du dich links halten“, hatte er ihr mehr als einmal gesagt. Das war um die drei Tag her, zumindest glaubte Heinz, in etwa so lange auf dem harten Boden zu liegen; untertage war Zeit selbst für erfahrene Mineure wie ihn ein schwer fassbares Konzept. „Ach, Erwin“, klönte er heiser, während sich Erwin, eine besonders dicke Assel, mit welcher er sich angefreundet hatte, unter seiner Achsel verkroch. „Du hast es gut, Erwin, weißt du das?“ Das Insekt kitzelte ihn zur Bestätigung und Heinz lachte auf, ja, er hörte nicht auf zu lachen. Es war aber auch zum Lachen; Da hatte er zahlreiche Einstürze, die alltäglichen Gefahren im Stollen und sogar eine Flut überstanden, bloß um mit Dreiundachtzig bei der sinnlosen Suche nach einem Andenken doch der Düsternis zum Opfer zu fallen. „So eine Scheiße!“, hustete Heinz, schnappte eine vorbeihuschende Spinne und stopfte sie sich in den Mund. Angewidert auf dem Vieh herumkauend, schüttelte er seine Taschenlampe einige Male halbherzig und gab auf; was nützte ihm das Licht schon, er brauchte Wasser und Nahrung und viel mehr noch brauchte er Gudrun. Gudrun, die ihm Leckereien kochte. Gudrun, die böse Witze über ihre verstorbene Mutter riss. Gudrun, die ihm Sirup in den Weißwein goss, damit er ihn trinken konnte. Gudrun, die beim Aufwachen wie eine Katze roch. Gudrun, die nie locker ließ und sich jeder Herausforderung couragiert stellte. Gudrun, die alleine durch das endlose Labyrinth wanderte, um Hilfe zu holen. Gudrun, die wahrscheinlich vom Weg abgekommen, irgendwo gestolpert, hingefallen und gestorben war.
Erwin weckte ihn mit seinen Fühlern, er saß direkt auf seiner Nasenspitze. Schade eigentlich, dachte sich Heinz, zu gerne hätte er einfach weitergeschlafen, so wie man sich das eben wünscht, wenn der Tod vor der Tür steht. Stattdessen wartete er nun wach darauf, dass der Durst ihn zur Strecke brachte, etwas anderes hatte er ja nicht zu tun.
„Heinz“, brüllte jemand. „Heinz, wenn Sie mich hören können, pfeifen Sie.“ Erwin rannte aufgebracht weg, als Heinz tief einatmete und lauter als jemals zuvor pfiff. „Gott sei Dank“, rief der Fremde. „Wir sind da, Heinz, wir bohren uns zu Ihnen durch, keine Angst.“ Seine Gedanken überschlugen sich regelrecht; Rettung war gekommen und das musste bedeuten, Gudrun hatte es aus dem Schacht in Sicherheit geschafft. In der Nähe heulte ein Bohrer auf, es krachte heftig und Heinz keuchte unter Schmerzen. Vor seinen Augen erschien Gudruns Gesicht in der Dunkelheit. Gudrun, wie sie unerschrocken durch die tiefschwarzen Tunnel kriecht. Gudrun, wie sie unten am Lift den Notruf wählt. Gudrun, wie sie mit einem Seil zu Tage geschleppt wird. Gudrun, wie sie die Rettungskräfte drängt, ihren Mann zu finden. Gudrun, wie sie in eine silberne Decke gehüllt ausharrt, bis auch er gerettet wird. Und schließlich Gudrun, wie sie die schreckliche Nachricht erhält und untröstlich um ihn weint. Dann drückt der Geröllbrocken das letzte Bisschen Luft aus seinen Lungen.