Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Konrad, genannt Koni, Keller kaute scheinbar teilnahmslos seit einer Viertelstunde auf derselben getrockneten Pflaume herum. In ihm rumorte es, nervös beäugte das Display seiner seniorenfreundlichen Digitaluhr mit Alarmknopf. Es war Schichtwechsel, bald konnte es losgehen. Die Griffe seines Rollators umklammernd machte er sich darauf gefasst, das Unmögliche möglich zu machen. Am anderen Ende des Flurs erkannte er einen verschwommenen Schatten. Es musste Benjamin, genannt Benni, Burch sein, der gegenüber des Aufzugs auf seinen Einsatz wartete. Als einziger der Truppe, der sich über immerhin dreißig Prozent Sehleistung freuen konnte (womit er bei jeder Gelegenheit prahlte), fiel ihm die Späher-Position zu. Etwas neidisch war Koni Keller ja schon, wobei er, anders als Benni Burch, zumindest nicht taub wie eine Pobacke war und daher das vereinbarte Warnsignal hören würde. Seine Uhr vibrierte und er hoffte, Hans, genannt Gefreiter Hansi, Hensen saß bereits auf seinem Posten in der Wohnecke.
„Ich wünsche dir eine gute Nacht“, verabschiedete sich die Schwester beim Verlassen des Stationszimmers. Eine zweite folgte dicht hinter ihr und schulterte ihre Handtasche. „Bis morgen, Herr Keller“, sagte sie zu ihm.
„Bis morgen“, erwiderte er und spuckte das Pflaumenhäutchen aus. Ohne ein Wort über sein unziemliches Verhalten zu verlieren, schlenderten die Pflegerinnen der Spätschicht in Richtung des Lifts davon. Wenig später brüllte Benni Burch „Ich wünsche den Damen einen schönen Feierabend.“ Die Operation „Adieu“ konnte beginnen!
Sofort drehte er sich um, rempelte mit dem Rad seiner Gehhilfe einen auf Metallbeinen stehenden Pflanzkübel (welcher Innendekorateur sich diesen Blödsinn mit dem Grünzeug im fensterlosen Gang ausgedacht hatte, wusste keiner) an und klopfte bei Greta, genannt Greti, Graber an. Ungeduldig kratzte er mit den Fingernägeln über den Gummigriff seiner Gehhilfe, bis die Tür endlich aufging.
„Koni?“, stellte sie verwundert fest. Greti Graber war gleichzeitig die Schwachstelle sowie der Schlüssel fürs Gelingen ihres Plans. „Koni, was mach…“
„Komm“, unterbrach er sie, packte sie an der Hand und zog sie auf den Flur. „Komm, wir gehen ins Stationszimmer.“
„Ach so“, überspielte sie ihre Verwirrung. Natürlich waren Benni Burch, der Gefreite Hansi Hensen und Koni Keller jeden Schritt der Operation „Adieu“ mit ihr durchgegangen, ja, hatten ihr alles mehrfach erklärt, es allerdings aufgegeben. So beweglich sie war, so adlerscharf sie mit ihren gelaserten Augen sah, so schusselig war die Gute leider auch. „Ach so, ja.“
Benni Burch hustete gekünstelt, woraufhin der Gefreite Hansi Hensen losschrie: „Oh, Herrgott! Herrje, geh weg, herrjemine, lass mich. Wah, waaaah!“
Die Nachtschwester verließ geschwind das Stationszimmer, um herauszufinden, weshalb der Gefreite grölte, als käme die Apokalypse über ihn herein. „Herr Hensen? Herr Hensen, beruhigen Sie sich!“, rief sie im Vorbeigehen. „Herr Hensen, ich komme.“ Das war sein Stichwort.
In atemberaubender Geschwindigkeit schob Koni Keller seine Hausschuhe jeweils eine halbe Fußlänge nach vorne, stets das für ihn grell leuchtende Loch, das ins Stationszimmer führte, fixierend.
„Komm, Greti. Wir müssen uns beeilen“, drängte er seine ahnungslose Komplizin, die ihn flink überholte, zum Bücherregal tippelte und einen beliebigen Wälzer aussuchte (sie war eine belesene Frau gewesen, früher, als sie nicht nach der ersten Zeile vergaß, was sie gerade entziffert hatte). „Nein, Greti!“ Koni Keller kam sich vor wie ein Hundebändiger, der einem zerstreuten Labrador beibringen wollte, ihm ein Stöckchen zu bringen. „Komm hier her.“
Nach einigen missglückten Versuchen gelang es ihm schließlich Greti Graber ins Stationszimmer zu locken, wo sie sogleich wieder den Faden verlor und mit ernster Miene meinte: „Günter, wir müssen die Pferde reinbringen, es schneit heute Abend.“
„Greti, pass gefälli…“, wollte Koni Keller mit der dementen Frau schimpfen, da fiel ihm eine bessere Lösung ein. „Ja, unbedingt“, holte er auf sie hinzuschlurfend aus. „Unbedingt. Gibst du mir die Stallschlüssel?“
„Schlüssel?“, fragte Greti Graber und steckte sich aus der Schale auf dem Sitzungstisch eine Praline mitsamt Verpackung in den Mund.
„Ja, Greti, die Schlüssel für den Stall. Die müssen hier irgendwo sein. Siehst du sie?“ Draußen zeterte und wetterte der Gefreite Hansi Hensen weiter: „Himmelherrgott, was tust du da? Hau ab, mir fliegt der Hut vom Kopf! Eine Unverschämtheit ist das, ich sagte, eine Unverschämtheit, eine saufreche Unverschämtheit!“
„Herr Hensen, ich tue Ihnen nichts. Herr Hensen, beruhi… Herr Hensen!“
Beinahe hatte sich Koni Keller selbst von ihrem Ablenkungsmanöver ablenken lassen (neben seinem Sehvermögen hatte im das Alter auch ein ganzes Stück seiner Aufmerksamkeit genomm…) „Da!“, stieß er auf einen dunklen, viereckigen Umriss an der hellgrünen Wand deutend aus. „Da. Greti, da sind sie, da, guck, da!“
„Meine Güte, Günter“, nuschelte Greti Graber zu Koni Keller, in dessen Gesicht sie ihren längst verstorbenen Ehemann zu erkennen glaubte. „Was hast du denn?“ Gemütlich stopfte sie eine zweite Schokoladenkugel zwischen ihre Dritten, dieses Mal ohne Plastikpapierchen.
„Die Schlüssel, Greti, die Schlüssel“, blaffte er gestresst und streckte seinen krummen Rücken soweit es ihm möglich war, um an das Ding neben der Tür, das er für ein Schlüsselbrett hielt, heranzukommen.
„Was willst du jetzt mit Schlüsseln, das Abendessen ist auf dem Tisch.“ Sie griff sich einen schmutzigen Löffel aus dem Spülbecken, legte ihn neben die Pralinenschale und flötete: „Kinder, Essen ist fertig.“
„Verflucht noch eins, Greti!“ Um Fassung ringend rieb sich Koni Keller über die Schläfen. Just in dem Moment schepperte es draußen (wahrscheinlich war einer der unsinnigen Pflanzkübel umgefallen), Flüche der Nachtschwester und ein Quiecken des Gefreiten Hansi Hensen waren zu vernehmen.
„Ach Gottchen, Günter, die Kinder machen Quatsch“, entrüstete sich Greti Graber, ehe sie so laut es ihre neunundneunzigjährigen Lungen ertrugen, schrie: „Kinder, macht mir bloß keinen Quatsch!“ Daraufhin ging der Alarm los (vermutlich nicht als Reaktion auf ihr Tadeln, sondern auf was auch immer das Scheppern vorhin verursacht hatte) und die Nachtschwester der benachbarten Station rannte auf quietschenden Sohlen am Stationszimmer vorbei. Mit einiger Verzögerung schlug Benni Burch Alarm und krähte wie ein Rabe.
„Greti, schnell.“ Der Verzweiflung nahe fasste er sie am Unterarm und bugsierte sie zur Tür. „Nimm alle Schlüssel, die du siehst. Alle, hast du kapiert?“ Operation „Adieu“ sah selbstverständlich eine weniger auffällige Strategie vor. Lediglich den Aufzugschlüssel (ihre Karte in die Freiheit, raus aus dieser geschlossenen Station, zurück zu ihren Liebsten, die sie bestimmt schon fürchterlich vermissten), sollte sie klauen, doch um die vergessliche Greti Graber dazu zu bewegen, sich jeden Schlüssel einzeln anzusehen, reichte die Zeit niemals aus. „Greti, nimm sie!“
„Was soll ich nehmen? Günt…“ Sie starrte Koni Keller erschrocken an, riss sich los und strauchelte rückwärts, bis sie gegen den Tisch stieß und die Pralinenschale auf dem Boden aufschlug. „Sie sind nicht Günter!“
„Nein, ich bin Koni, Koni Keller. Jetzt nimm die Schlüssel, Greti, damit wir …“ Weiter kam er nicht, Greti Graber holte tief Luft und kreischte: „Sie sind nicht Günter!“ Ihm blieb nur die Flucht, Operation „Adieu“ war gescheitert. Hektisch wandte er sich einmal um die eigene Achse, verhedderte sich dabei in den Kabeln eines abgestellten Infusionsständers (die Pflegerinnen regten sich des Öfteren über Platzmangel im Lager auf), was er ignorierte und nun mit dem rollbaren Ständer im Schlepptau zur Tür schlappte. Indes wurde Benni Burchs Krähen heiser. Ein Schemen baute sich über Koni Keller auf, einer mit lockiger Krone, der nach Desinfektionsmittel und Blümchenparfüm roch.
„Herr Keller, guten Abend. Ist Operation „Adieu“ mal wieder im Gange?“
„Mist!“