Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Vor mehreren Stunden war Maria ins Untergeschoß hinab gestrauchelt. Zumindest vermutet sie das, denn ihr Smartphone liegt auf dem Nachttisch im ersten Stock und Armbanduhren waren einfach nicht ihr Stil. Maria lehnt sich mit dem Rücken gegen die feuchte Fundamentmauer und starrt durch das Kellerabteil. Vor und rechts von ihr trennt ein modriges Kantholzgitter den Raum vom Rest des Kellers, ein großer Schrank und ein massiver Schreibtisch bieten ihr ein wenig Sichtschutz und über ihr hängt eine Lampe mit Emailleschirm. Aus Angst davor, gefunden zu werden, hat sie die Birne herausgedreht, nur das Licht der beiden anderen, weiter entfernten Funzeln dringt durch die Lücken in den Trennwänden zu ihr, wirft bizarre Schatten auf den Lehmboden.
Im Ferienhaus über ihr ist es ruhig, Maria deutet das positiv, trotzdem hat sie nicht vor hochzugehen, aus gutem Grund. Die Gruppe von sechs Studienkollegen, ihre Freunde, sind tot und sie fürchtet, die nächste zu sein. Bei der Vorstellung umklammert sie das rostige Setzholz, das sie auf einer Krimskramskiste in einem zerschlagenen Blumentopf entdeckt hat. Sie verflucht sich selbst für ihre Passivität, nur ist ihr auch klar, wie dumm es wäre, sich mit Gartenwerkzeug mit einem Killer anzulegen.
Angefangen hatte alles mit locker ausgelassener Stimmung am Vorabend. Sie feierten, aßen Fondue und genossen mit zu viel Alkohol die Aussicht auf die nächtlichen Berge. Ein Lawinenniedergang hatte die Straße abgeschnitten und die Telefonleitungen gekappt, was allerdings niemanden störte, zumal es noch Strom gab und sie ihre Ferienwoche mit sämtlichen Annehmlichkeiten genießen konnte. Alles war normal, bis Marc, der Sexualforscher in ihrer Gruppe, einen Spaziergang im Schnee machte …
Maria erschauert, zittert regelrecht am ganzen Körper. Zwar hatten sie für ihre kleine Party keinen Dresscode vereinbart, dennoch bemühte man sich, einigermaßen präsentabel auszusehen. Jetzt verflucht sie sich für ihre Eitelkeit, dafür, ein dünnes Kleid zu tragen, das dermaßen kurz ist, dass sie mit den Strümpfen auf dem eisigen Lehm hockt. So leise sie kann, pirscht sie zu einem kniehohen Stapel ein Jahrzehnt alter Wochenzeitungen und setzt sich darauf, bei jeder Bewegung bedacht, kein Geräusch zu machen. Wer wohl in einer abgelegenen Ferienhütte ein Abonnement für Zeitungen benötigt, sinniert sie und grinste ob der Banalität ihrer Überlegung. Sie sollte lieber über wichtigere Dinge nachdenken.
Es hatte ewig gedauert, bis sie Marc draußen im Schnee fanden. Thermojacke und Bauchdecke waren aufgerissen, seine Organe hingen tiefgefroren aus ihm heraus. Erst meinten sie, es sei ein Bär gewesen und suchten im Neuschnee vergeblich nach Spuren. Ohne Telefonanschluss und Handyempfang waren sie gezwungen, abzuwarten.
Über ihr knarrt es. Maria unterdrückt ein panisches Keuchen, wahrscheinlich ist es der Wind oder das morsche Gebälk. Gerne riefe sie um Hilfe, doch wer sollte schon kommen? Niemand ist in diesem Haus noch am Leben, niemand außer dem Monster, dieser Bestie, die all ihre Freunde ermordet hat. Anders als Marc, starben sie in ihren Schafzimmern. Paul, Mario und Karin, die Soziologen in ihrer Gruppe, gingen still, erst Lisas und Kurts Schreie haben Maria aufgeweckt, sie vor dem Ungeheuer gewarnt. Also war sie in den Keller geflüchtet, in der Hoffnung, ihr Versteck könnte sie retten.
Mittlerweile muss der nächste Tag herangebrochen sein, schätzt sie und fragt sich, warum ihnen das widerfährt. Der Killer wird wohl noch im Haus sein, wo soll er sonst hingehen, wenn es weit und breit keine andere Unterkunft gibt? Bei dem Gedanken umfasst sie das Setzholz stärker, fixiert gebannt den zerkratzen Schreibtisch an der Vorderwand, auf dem sich leere Aktenkartons mit Wasserflecken stapeln. Sie muss sich auf irgendwas konzentrieren, egal was, also bleibt sie reglos sitzen und mustert das Möbelstück. Ihr Blick fällt auf einen Hubbel daran – hat jemand einen Kaugummi darunter geklebt? Dann versteht sie: Es ist eine der Plastikabdeckungen, die man über Schrauben macht – eine Schreibtischnoppe, wie sie ihre Mutter beim Umzug vor einem Jahr genannt hat. Mit dieser absurden Erinnerung wird sie ihre letzten Stunden verbringen, denkt sich Maria und hätte beinahe trocken gelacht. Dann fällt ihr ein, wie alleine ihre verwitwete Mutter sein wird, wenn auch noch ihr einziges Kind stirbt. Nein, Maria darf nicht aufgeben, sie hat schon fast alles verloren in dieser Nacht, alles bis auf ihre Familie.
In diesem Moment erklingt über ihr die Haustür, gefolgt von Schritten im Wohnzimmer. Eine männliche Stimme ruft etwas, das sie hier unten nicht verstehen kann. Innerlich fleht sie, gleich einen uniformierten Polizisten zu sehen, doch sie weiß es besser: Niemand kommt zur Hütte hoch, sie sind abgeschnitten. Erneut ruft die Stimme und die Schritte werden leiser, vermutlich geht der Fremde in den ersten Stock hoch. Für mehrere Minuten bleibt Maria absolut still, wagt kaum zu atmen, als die Schritte zurückkehren. Nun sind sie vor der Kellertür angelangt, daran hegt sie keine Zweifel. Es ist so weit. Entschlossen verspricht sich Maria, bis zum bitteren Ende um ihr Leben zu kämpfen, koste es, was es wolle. Erst mehrere Atemzüge später wird die schwere Tür aufgestoßen.
„Maria?“, hallt es die alte Stiege herunter und Erleichterung überkommt sie. Das ist nicht ein Fremder, das ist Paul, er hat überlebt! „Maria, bist du hier?“
„Paul?“ krächzt sie, erhebt sich, lässt die improvisierte Waffe fallen und kämpft gegen die Tränen an, während sie auf den Freund zu rennt. „Du lebst noch!“
Im Gang begegnen sie sich, er sieht erschöpft und abgekämpft aus, aber unverletzt. „Hast du gesehen, wer das war?“, will sie wissen, als er sie in die Arme schließt.
„Nein, keine Ahnung.“ Langsam führt er sie die Kellertreppe hoch und ins Wohnzimmer. „Im Haus ist keiner, nur wir beide. Ich habe gemeint, alle sind tot und habe mich auf den Weg ins Dorf gemacht. Keine Chance, alles verschüttet, also kam ich zurück. Das kann Tage dauern, bis die Straße wieder offen ist.“
„Ich weiß nicht, wer … was …“ stammelt sie, unterbricht sich und setzt sich aufs Sofa. Paul lässt sich neben ihr nieder, legt ihr einen Arm um die Schulter und beruhigt sie: „Wir können die Fensterläden und die Tür verrammeln. Keine Angst, wir haben einander, wir stehen das durch.“
„Danke, ich weiß nicht, wie lange ich ohne dich da unten geblieben wäre.“ Seine Zuversicht steckt sie an, gibt ihr Mut. Maria ist noch nie so froh um Paul gewesen, wie jetzt. Um Paul, dessen Annäherungsversuche sie jahrelang abgewehrt hatte, bevor sie gute Freunde geworden waren. Um Paul, der in ihrer Freundschaft weiterhin ziemlich besitzergreifend und eifersüchtig sein konnte. Um Paul, der jetzt ihre letzte Hoffnung ist, aus diesem Grauen zu entkommen … von dem sie, ihr Leben nun abhängen. Endlich begreift Maria und seine Umarmung fühlt sich mit einem Mal kalt an. Ihr Albtraum hat gerade erst angefangen.
„Wir schaffen das“, flüstert Paul in ihr Ohr und gibt ihr ein Kuss auf die Wange. „In einer Woche sind wir beide wieder zuhause, niemand wird es wagen, dir was anzutun.“