Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Hm“, brummte James und klopfte sich Staub vom Mantel. „Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Was du nicht sagst“, kommentierte Gwyn sarkastisch. „Ich dachte du wolltest mir unbedingt diese … diese …“ Sich auf den Sohlen ihrer Turnschuhe im Kreis drehend versuchte sie auszumachen, wie man diesen Ort bezeichnen könnte. Ihr kam die Landschaft bekannt vor, erinnerte sie an all die Filmabende, die sie als Kind mit ihrem Vater verbracht hatte – er war vollkommen verrückt nach Spagettiwestern, war sogar zu der Titelmelodie von „The Good, the Bad and the Ugly“ verstorben. „Was ist das hier überhaupt?“, fand Gwyn ihre Sprache wieder.
„Genaugenommen eine simulierte Spieleumgebung“, konterte James, die eigentliche Frage ignorierend. „Soweit ich informiert bin, läuft diese Welt hier auf einer ‚PhyreEngine‘, komplett mit spezifischen Extensions und ‚Havoc‘ verdanken wir es, dass physikalisch alles rundläuft. Das Design- und Developer-Team hat …“
„James“, unterbrach sie ihn. „Lass den Quatsch und sag mir, wo zum Teufel wir sind!“
„Auf einer Eselsfarm, natürlich.“ Er deutete auf die Koppel neben der Scheune, wo mindestens vierzig Esel gelangweilt auf jemanden warteten, der ihnen das Tor zur Steppenweide öffnete. Gwyn atmete gut hörbar aus. Es bestand kein Zweifel daran, wie sehr sie sich über diese Mission ärgerte und James‘ Nonchalance trug zum wachsenden Ärger bei. Seit Wochen jagten sie einen entflohenen Alien hinterher, welches aus ihnen unbekannten Gründen auf der Erde gestrandet war und sich nun munter an der Obdachlosenpopulation sattfraß. Die wohl größte Schande war, wie lange es gedauert hatte, bis jemand es bemerkte. Es einzufangen war ihnen zwar gelungen, leider hatten sie den dreisten Fresssack kurz darauf wieder verloren, oder besser gesagt, sie hatten vergessen sich zu notieren, wo auf dem Harddrive sein Persönlichkeitsbackup gespeichert war, weshalb die Suche nun von neuem begann.
„Eselsfarm“, plapperte Gwyn abwesend nach. Ein metallisches Quietschen lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihrem Vorgesetzten auf den kleinen Durchgang zwischen der Scheune und dem Bauernhof. „Was war das?“, fragte sie niemanden im Speziellen, ehe sie flüsternd feststellte: „Da, im Johannisbeerstrauch!“
Sich den Finger auf die Lippen legend, deutete James über seine Schulter auf die Zufahrt. Gwyn verstand sofort, wandte sich um, rannte den schmalen Kiesweg entlang und positionierte sich schließlich. Füße schulterbreit, Knie leicht gebeugt und der wachsame Blick auf James gerichtet. Dieser schmunzelte und zeigte ihr einen erhobenen Daumen. Einmal mehr war er zufrieden mit seiner Wahl, Gwyn war in der Tat eine fantastische Ergänzung für sein Team, sie lernte rasch, kannte keine Scheu und, am wichtigsten, hatte sich blitzschnell mit dem Gedanken angefreundet, dass im Universum weit mehr Leben regierte, als den Menschen bewusst war. Sein Freund hielt ihm vor, er habe eine Schwäche für übereifrige, furchtlose Frauen und das mochte stimmen, trotzdem missverstand Iwan seine Vorliebe. Diese war nämlich keineswegs eine Charakterschwäche, ganz bestimmt keine sexuelle Präferenz, das wäre albern. Nein, Frauen wie Gwyn faszinierten ihn und er glaubte, durch ihre Anwesenheit so etwas wie Sicherheit zu fühlen, was in einem gefährlichen Metier wie dem Alien-Jäger-Business durchaus seine Vorzüge hatte. Behände überwand er die wenigen Meter zum Johannisbeerstrauch, bedeutete seiner Kameradin sich für eine Auseinandersetzung zu wappnen und donnerte: „Komm raus, Woovel!“
Gwyn beobachtete gespannt, was als nächstes geschehen mochte, beide Hände fest um ihren Narkosestrahler gelegt, die Augen starr geradeaus, um keine von James‘ Bewegungen zu verpassen. Der Wind verfing sich im schweren Stoff von James‘ Mantel, doch nichts passierte. „Komm raus, Arschloch!“, wurde die Aufforderung unfreundlicher wiederholt, ansonsten blieb weiterhin alles ruhig. Sogar die Esel hielten sich still, was entweder ein Fehler im Rendering war (das kam hin und wieder vor, Tiere froren ein, Autos blieben in Straßen stecken und NPCs fielen vom Himmel) oder die stinkenden Biester hatten etwas gesehen, das sie in Angst und Schrecken versetzte. Endlich setzte James der Spannung ein Ende und riss entschlossen an einem Blätterbüschel. Mit einem Angriff rechnend, bereitete sich Gwyns Muskulatur auf einen Kampf vor, lockerte sich allerdings geschwind, als sie außer einer winzigen Spitzmaus niemanden aus dem Gebüsch huschen sah.
„Oh“, machte James amüsiert. „Tut mir leid, kleiner Freund, da habe ich dich wohl erschrocken.“ Mit einem süffisanten Lächeln winkte er Gwyn zu sich, bevor er an die Maus gerichtet hüstelte: „Das mit dem ‚Arschloch‘ war nicht für dich bestimmt.“
„Kein Woovel?“, meinte Gwyn rhetorisch.
„Kein Woovel“, gab James geknickt zurück, dann ächzten sie beide unisono. Die digitalen Archive der Institution, welche offiziell nie existiert hatte und nie existieren würde, waren unfassbar riesig und trotz ihres Life-Form-Scanners könnte es Jahre dauern, den flüchtigen Alien ausfindig zu machen. Ihn einfach seinem Schicksal zu überlassen, war keine Option, zumal dieses Exemplar so gefräßig wie unberechenbar war. Kaum auszudenken, was geschähe, fände er das Backup der ehemaligen Mitarbeiter oder, schlimmer noch, der Wissenschaftler.
„Mist.“ Gwyn schielte irritiert zu ihrem Boss. Es war eine Seltenheit, den fröhlichen Mann niedergeschlagen zu erleben. „Na gut, ich hole mal einen Schlafsack“, seufzte James, fuhr sich durchs dichte Haar und wirbelte herum. „Da wir ohnehin weitersuchen müssen, macht es keinen Sinn, nach Hause zu gehen.“
„Einen Schlafsack?“ Gwyn funkelte böse, konnte die Scharade aber nicht aufrechthalten und lachte laut. „Bring zwei und wenn du schon dabei bist, mach ein Bett draus, ein ganz weich…“
Mit einem gewagten Sprung vom Scheunendach stürzte sich der Woovel auf James, begrub ihn unter seinem knochigen Körper und grub lange, nadelartige Zähne in dessen Hals. Einen schockierten Schrei ausstoßend ergriff Gwyn ihre Waffe, machte zwei Schritte rückwärts und feuerte ohne zu zögern direkt auf den von grünlichen Linien zerfurchten Schädel des Aliens. Es sackte augenblicklich in sich zusammen, zuckte krampfartig und verlor danach das Bewusstsein.
„Fuck!“, protestierte die junge Frau gegen die Geschehnisse der vergangenen drei Sekunden. Sie atmete tief durch, sammelte sich und feuerte gleich noch eine Ladung Narkosemittel ab, bevor sie nähertrat, um sich die Misere anzusehen. Der Woovel lag regungslos neben James und es sah ein wenig so aus, als würden die beiden friedlich miteinander kuscheln, wäre da nicht die klaffende Fleischwunde über James rechter Schulter und die sich langsam ausbreitende Blutlache. „So eine verfluchte Scheiße!“, meckerte Gwyn, stieß den Übeltäter mit dem Fuß und bemerkte in dem Moment, dass etwas nicht stimmte. „Du bist so hässlich und giftig wie mein Schwiegermonster, nur … Du bist jemand anderes, stimmt‘s?“ Eine Antwort war weder vom bewusstlosen Woovel, noch vom toten James zu erwarten, also fotografierte Gwyn das schlafende Ungetier und sandte das Bild sogleich an die Zentrale. Diese bestätigte ihren Verdacht. „Wie viele von euch haben wir denn verloren?“, murmelte sie erstaunt und ihr dämmerte, dies war keinesfalls ihr letzter Ausflug in die Archivwelt. „James, du Bastard“, beschwerte sie sich. Den leblosen Körper vor sich anbrüllend, malte sie sich aus, wie lange es wohl dauern wird, bis sie ihre Wohnung und ihren Verlobten wiedersehen könnte, doch bevor sie endgültig verzweifeln konnte, fuhr ihr James ins Wort.
„Wie meinst du das?“, wollte er wissen, während er sich steif aufsetzte, sich erneut Staub vom Mantel klopfte und argwöhnisch sein Blut sowie den Woovel beäugte.
„Das ist ein anderer Woovel“, murrte Gwyn ihm ein Taschentuch reichend. „Sag mal, wer hat eigentlich die Archivaufsicht?“ James streckte sich, nuschelte einen Fluch über die Gebühren von Textilsonderreinigungen und gab dann kleinlaut zu: „Ich.“
„Oh, das machst du grandios, James, wirklich grandios!“ Sie rollte ihre Augen so weit nach hinten, bis es schmerzte, half James danach aber bereitwillig auf die Beine. „Weißt du wenigstens, wie viele Woovel du verlegt hast?“ Der Angesprochene legte seinen Kopf in den Nacken und schien zu zählen. „Zwei, vielleicht drei. Es könnten auch vier oder fünf sein.“
„Großartig“, war alles, was Gwyn dazu kommentierte.
„Gotta catch ‘em all“, lachte James, packte die Arme des Bewusstlosen und schleppte ihn einige Meter in Richtung des Kieswegs.
„Pokemon, ernsthaft? Bist du nicht zu alt dafür?“, mokierte sich Gwyn und war wieder einmal froh darum, mit ihrem Boss so locker umgehen zu könne, bei der Polizei wäre das niemals möglich gewesen.
„He!“ James‘ Entrüstung war gespielt, wer ein so langes Leben hinter sich hatte, musste in der Lage sein, über sich selbst zu lachen. „Sterben hält jung, das wirst du schon noch lernen.”