Unter dem Esszimmertisch sitzend betrachte ich die Duftkerze auf der gegenüberliegenden Kommode. Das Flämmchen wackelt ein wenig, dann heftiger, danach pendelt es sich wieder ein, züngelt gemütlich vor sich hin, als hätte die Erde eben nicht gezittert. Ich hasse Erdbeben, so richtig und mit Leidenschaft, gleichwohl bin ich nach San Francisco gezogen, der Liebe wegen, wie ich behaupte. In Wahrheit war mir die entfernte Liebe gerade richtig gekommen, daher blieb mein Optimismus ungetrübt, als sie nach kurzem Glück spektakulär zerbrach. Durch sie habe ich bekommen was ich wollte: Einen Grund, ans andere Ende der Erde auszuwandern. Das mit den Erdbeben ist allerdings eindeutig überflüssig. Selbstverständlich galt das ebenso für anderes, aber ich sollte das mit dem Jammern lassen, habe kaum Anlass dazu und die wenigen Dinge, die meinem absolut perfekten Leben im Weg stehen, sind prinzipiell keine Rede wert. Das sage ich mir beinahe jeden Tag, wenn ich aufstehe, mittagesse, auf der Arbeit bin, beim Sport, vor dem Fernseher und vor allem, wenn ich spätabends wach im Bett liege. Obschon der kümmerliche Tremor vorüber ist, ich meine Festung unter dem Esszimmertisch verlassen könnte, bleibe ich dort. Der Teppich ist flauschig, ich habe ihn mir extra wegen dieser leidigen Beben angeschafft, denn in meinem Apartment soll weich gestorben werden. Das ist keine generelle Regel, wer möchte, darf von mir aus auf dem Gitter der Feuertreppe sterben, neben meinem kränkelnden Thymian. Ich war nie jemand gewesen, der anderen vorschreibt, was sie zu tun oder zu lassen haben, mit Ausnahme meiner Assistenzärzte, die müssen gehorchen und zwar aufs Wort. Deshalb ist es seltsam, wie sich so einige aus meinem Bekanntenkreis an mir orientieren, mir nachhecheln wie kleine Hündchen, gezogen von einer unsichtbaren Leine. Quatsch! Der Vergleich hinkt, sie laufen mir keinesfalls hinterher, lassen sich bestenfalls inspirieren. Ja, so wird es sein.
Ein Schwall künstlichen Mandarinendufts schlägt mir entgegen, die Kerze flackert lustig und gibt ein knackendes Geräusch von sich, als sie eine in Wachs gegossene Zitrusrinde anzündelt. Ich mag Mandarinen, das weiß das gesamte Krankenhaus, sogar die OP-Schwester, die seit Monaten scheu den Wunsch eines gemeinsamen Abendessens äußert und damit bei mir gegen Wände rennt. Es ist in Ordnung, wenn alle meine Mandarinenvorliebe kennen, unter anderem, weil sie mir ständig welche mitbringen. Hingegen bin ich mittlerweile vorsichtiger geworden, wem ich von meinen Ideen, meinen Problemen oder selbst alltäglichen Gedanken erzähle. Es nervt mich, wenn andere sie für sich beanspruchen. Mir ist bewusst, wie egoistisch, schlimmer, lächerlich es ist, sich wegen derartigen Nebensächlichkeiten aufzuregen. Ich sollte alt genug sein, über solchem Blödsinn zu stehen und häufig tue ich das auch. Häufig ist jedoch nicht immer und genau dieses Versagen treibt mich regelmäßig dazu, meinen Ärger über unbedeutende Fehltritte anderer schlussendlich auf mich selbst zu übertragen. Zu Recht! Ich sollte mich tatsächlich schämen.
Das Display meines überteuerten Handys eines Herstellers, der unverhältnismäßig großen Fokus auf Design legt, leuchtet auf und lenkt mich von meiner nörgeligen Stimmung ab. Melissa, meine beste Freundin, lässt mich wissen, sie habe wegen des Bebens einige Minuten Verspätung und ginge auf dem Weg zu mir im Tankstellenshop vorbei. „Null Problem-o. Bringst du mir Zigaretten mit“, bitte ich sie mit einem freundlichen Emoticon anstelle eines Fragezeichens. „Wird gemacht. Bis gleich“, erhalte ich prompt Antwort. Ich mag Melissa sehr, sie ist die einzige, mit der ich offen sprechen möchte. Können täte ich das mit anderen genauso, bloß das mit dem Wollen ist so eine Sache. Kürzlich hat sie angefangen, Blusen mit Peter Pan Krägen zu tragen, die stehen ihr, im Gegensatz zu ihren üblichen Polohemden, wunderbar, unterstreichen ihren schlanken Hals. Ich würde ihr gerne Komplimente machen oder wenigstens mit Gleichgültigkeit darauf reagieren. Aber nein, weil ich ein kindisches Biest bin, rümpfe ich heimlich die Nase, denn nicht sie, sondern ich war es, die vor zwei Jahren mit der ersten Peter Pan Bluse zur Arbeit kam. Ich erinnere mich gut daran, es war eine royalblaue Seidenbluse von irgendeinem Designer, dessen Name mir einerlei ist. Zuerst war ich unschlüssig gewesen, ob ich das Stück überhaupt kaufen wollte, es entsprach damals nämlich keineswegs meinem Stil. Dennoch wurde die Bluse rasch zu einem meiner Lieblinge. Ich gebe zu, hin und wieder habe ich das Waschen hinausgezögert, damit ich sie einen weiteren Tag anziehen konnte, bevor sie im Zyklus des Gewaschenwerdens, Nassseins und ungebügelt Herumhängens verschwand. Also zog ich kurze Zeit später los und bestückte meinen Kleiderschrank mit mehr und mehr Peter Pan Blusen. Angesichts der Tatsache, dass dieser Stil eher unmodisch war, verbrachte ich für meinen Geschmack viel zu lange in düsteren, nach Altdamenparfüm reichenden Warenhäusern, nur um diese Blusen aufzuspüren. Ich war entschlossen, diesen vermaledeiten Peter Pan Kragen für mich zu beanspruchen, ihn zu meinem dezenten Markenzeichen zu machen. Das klappte eine Weile, ich gefiel mir in meinen Blusen und an schlechten Tagen gaben sie mir Selbstvertrauen, wenn auch bloß oberflächliches. So ist es manchmal mit Kleinigkeiten, man projiziert Wert in sie hinein, den sie eigentlich nicht besitzen, trotzdem sind sie wichtig. Das Glück dauerte allerdings kaum länger, als bei meine Beziehungen. Bald entdeckte ich meine Blusen an anderen Frauen in meinem Umfeld. Zum einen waren da die OP-Schwester, die mir ernsthaft auf die Nerven fällt, die Administratorin und dann Melissa. Natürlich kam sofort der Verdacht auf, sie hätten die Blusen an mir gesehen, sie für hübsch befunden und waren anschließend ihrerseits durch muffige Warenhäuser getrottet, um Peter Pan zu fangen. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt und wenn, sollte es mich freuen, dass ich meinen zufälligen Fund der royalblauen Bluse mit anderen teilen kann. Stattdessen kämpfe ich gegen alberne Missgunst an.
Erneut meldet sich mein Handy, diesmal grinst mir Melissa von einem Selfie in einem überfüllten Tankstellenshop entgegen, darunter schreibt sie: „Könnte dauern. Da erledigen einige ihre Wocheneinkäufe in der Tanke. Stell dir vor, die Trulle vor mir kauft ernsthaft kiloweise Katzenfutter, Abschminktücher, Klopapier und Rucola.“ Ihrem Blick sowie dem vor lauter Lachen weinenden Smiley ist anzusehen, wie amüsiert Melissa über die vollgestopften Verhältnisse im Shop ist. Ich ziehe eine Schnute und lehne mich voller Selbsthass an ein Tischbein. Dank meiner Miniaturstatur lümmelt es sich für mich unter dem Esszimmertisch ganz bequem. Sie trägt eine Peter Pan Bluse, noch dazu eine in Royalblau. Es ist etwas her, seit ich sie das letzte Mal in ihren Polokrägen gesehen habe. Mitunter deshalb haben meine Blusen ihren besonderen Zauber verloren. Nun sind es nicht mehr meine Blusen, sondern einfach irgendwelche Blusen.
Freilich geht es bei diesem inneren Zwist nicht im Geringsten um Kleidung, zumindest das will ich mir eingestehen, denn wäre es so, hätte ich für solch hirnverbrannten Groll eine Tracht Prügel verdient. Nein, eher geht es um alles andere, das ich schlichtweg nie für mich alleine haben darf. Egal um was es geht, kaum habe ich es für mich eingenommen, kommt jemand daher und nimmt sich sein Stück davon. Wobei, das ist inkorrekt, schließlich ist es kein Verlust, ich kann meine Blusen, Gedanken, Ideen und Probleme bei Trost behalten, hätte sogar die Möglichkeit, mich in guter Gesellschaft zu wissen. Leider gelingt mir das zu selten. Oftmals überspiele ich meinen Frust lediglich mit einem gutwilligen Lächeln, wenn wieder jemand glaubt, mein Leben sei ein Selbstbedienungsbuffet. Das war schon so, als ich ein Kind gewesen war. Ich liebte meine Gummiente, also musste mein Bruder dieselbe haben, ich wurde vom Schulpsychiater als hochbegabt gelobt, dementsprechend behaupteten meine Freunde das ebenfalls. Nachdem mein bester Freund wegen seiner Epilepsie in der Nacht an seiner eigenen Zunge erstickt war, besaßen einige die Frechheit, mich umgehend mit Geschichten über ihre verlorenen Freunde übertrumpfen zu wollen, erlogen diese zuweilen, sofern es ihnen an eigenen Stories über Verlust und Trauer mangelte. Sicher war das ihr Versuch, Anteilnahme und Nähe zu signalisieren, mich über seinen Tod hinwegzutrösten, das weiß ich heute. In der sechsten Klasse fühlte ich mich davon bestohlen. Das war mein Freund, meine Erinnerung, mein Schmerz und das durfte man mir nicht wegnehmen! Vermutlich neide ich deshalb Peter Pan Krägen an anderen Frauen, bin wenig begeistert davon, wenn die OP-Schwester mir mitfühlend versichert, sie leide auch unter starken Migräneanfällen und verabscheue es, wenn Melissa ihre Karrierepläne ein halbes Jahr nach mir in dieselbe Richtung steuert.
Wie aufs Wort, klingelt es an der Tür. Seufzend rapple ich mich auf, greife mit meinen nackten Zehen in den zum Sterben geeigneten Teppich und trödle zur Eingangstür. Melissa hat sich bereits selbst hereingelassen und hält mir strahlend einen Sack Mandarinen entgegen. Ich kann quengeln so viel ich will, am Ende ist es grundsätzlich vorteilhaft, wenn meine Liebsten mich gut kennen, selbst wenn das bedeutet, dass ich niemals etwas für mich alleine haben kann. Und die Peter Pan Bluse steht dem Miststück wirklich fabelhaft.