Die zwei Ananasse des Stefan Müller

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Ich möchte euch heute auf den Wochenmarkt mitnehmen, wo wir einen ganz normalen Protagonist in einer ganz normalen Situation beobachten können. Na ja, fast normal. Dies ist die Geschichte von dem Mann, der mich eben versehentlich angerempelt hat, nennen wir ihn mal Stefan.

Stefan hatte ein Problem: Zwei Drittel der Leute männlichen Geschlechts in seinem Freundeskreis hießen ebenfalls Stefan. Das war jedoch verglichen mit Stefans Homosexualität bei weitem nicht das größte Problem, dem er sich stellen musste – zugegeben, Stefan hatte kein einziges negatives Erlebnis bei seinem Coming-Out gehabt, nur hatte er sich dummerweise in einen anderen Stefan verliebt, etwas, das Heteros (wenn man mal von Andreas und Simones absah) kaum je widerfahren konnte. Als der klassische Romantiker, der er war, wollte Stefan natürlich bei der Heirat den Namen seines Mannes annehmen, sodass der Frischvermählte nun einer von zwei Stefan Müllers war, bei denen die Floskel „wir teilen uns alles“ besser zutraf als bei jedem anderen, immerhin war sämtliche Korrespondenz an „Herrn Stefan Müller“ adressiert, was die Partner, die beide nicht dazu geneigt waren, ihre Bank zu wechseln, zu gemeinsamer Kontoführung genötigt hatte. Selbstverständlich nahm da der Spaß erst seinen Anfang, denn wenn man zusammenlebte, besaß man ein Partnerticket für den öffentlichen Verkehr, verfügte über eine gemeinsame Hausratsversicherung und viele andere Dinge, die eine Fehlerquelle par excellence darstellten.

Über diese administrative Katastrophe thermonuklearen Ausmaßes grübelnd schlenderte Stefan (also unser Stefan) durch den am Vormittag stets mit Hausfrauen und ihre Arbeit schwänzenden Büroleuten verstopften Wochenmarkt seines Stadtquartiers. Stefan gehörte zur teilzeit-berufstätigen Untergruppe der ersten Kategorie, wenn auch die Bezeichnung in Bezug auf sein Geschlecht angepasst werden müsste. Solche Nebensächlichkeiten beschäftigten unseren Stefan kaum, er war ganz und gar auf sein Ziel fixiert: Frische Ananas. Aus seiner Sicht war alles andere den Weg zum Marktplatz kaum wert, obgleich er mit vielen weiteren Produkten heimkehrte; die lokal im Gewächshaus gezüchteten Tropenfrüchte waren etwas ganz Besonderes, frischer als alles, was sich Stefan erträumen konnte. Die Regentropfen tanzten auf seinem farbenfrohen Schirm, während der gutgelaunte Einkäufer, der wegen der seit Tagen anhaltenden Sintflut gelbe Gummistiefel angezogen hatte, über die abgetretenen Pflastersteine schlenderte.
Nun mag sich der geneigte, das Drama gewohnte Leser fragen, wieso wir ausgerechnet unserem höchst gutbürgerlichen und bis auf sein leuchtendes Schuhwerk eher langweilig wirkenden Stefan auf seiner Ananas-Jagd folgen. Also habt Geduld, alles hat seinen guten Grund, der am Ende offenbart werden soll.
Mittlerweile hatte Stefan seine Jutetasche mit zwei Ananassen gefüllt und schritt nun weiter durch den Trubel. Eine dunkle Vorahnung befiel ihn, heute musste etwas schieflaufen, nur wollte es ihm nicht gelingen, einen Grund dafür zu finden. So oder so freute er sich darauf, bald wieder zuhause zu sein, barfuß über den grauen Flauschteppich im Eingangsbereich gehen zu können, der seine Zehen kitzelte,  und diesen vermaledeiten Dauerregen hinter sich zu lassen. Was war denn bloß mit ihm passiert? Gerade noch eben hatte er die beste Laune gehabt und jetzt war er unruhig, nahezu missmutig. Normalerweise gab es für einen derartigen Stimmungswechsel einen guten Grund, sei es nun, dass er sich über etwas aufregte oder sich die deprimierenden Fernsehnachrichten ansah, ihr wisst schon, die Berichterstattung über diesen aktuellen Konflikt, der die ganze Welt bewegt. Nur, nichts dergleichen war geschehen, an der Oberfläche hatte sich nichts verändert. Auch wenn Stefan der Ursache nicht auf den Grund kam, so entschloss er sich trotzdem, vorzeitig heimzukehren. Den allerwichtigsten Teil seines Einkaufs hatte er ohnehin erledigt und den dazu passenden Bergkäse konnte er gut auf seinen Weg zur Tramhaltestelle noch kaufen.

Das Klingeln seines Handys ließ Stefan aus seinen Überlegungen aufschrecken und ungewohnt umständlich nestelte er das Gerät aus der Tasche seines Parkas. „Stefan Müller ruft an“, verriet ihm das Display und mit einer routinierten Daumenbewegung wischte er darüber, um den Anruf anzunehmen. Da er in Anbetracht der Himmelsnässe seinen Schirm nicht der Kommunikationsfreude opfern wollte, hob Stefan das Handy mit der Hand zu Ohr, in der auch seine Einkaufstasche baumelte. Während die Ananasse gegen seine Seite drückten, sagte er seinen Lieblingsspruch auf, der seinem Mann sicherlich eines Tages die Zornesröte ins Gesicht triebe: „Stefan und Stefan, hier spricht Stefan. Hallo Stefan.“
Der andere Stefan seufzte in gespielter Resignation: „Stefan, bitte!“ Er wurde aber sehr schnell wieder ernst: „Sag mal, bist du noch auf dem Wochenmarkt?“
„Ja, wieso?“, erkundigte sich Stefan, nun leicht beunruhigt – normalerweise rief ihn sein Mann selten aus dem Büro an. War irgendetwas geschehen?
„Der Damm, Stefan, der Damm wird nicht halten!“, plärrte die Stimme leicht panisch, durch Statik verzerrt aus dem Telefon. „Sie evakuieren angeblich gleich die Stadt, versuch vor der Massenpanik da wegzukommen!“
„Aber die Ananasse …“, begann Stefan, besann sich dann sogleich eines Besseren. „Vergiss die, ich versuche …“
Das Freizeichen unterbrach ihn und erstaunt sah Stefan auf das Display: Alle Striche genauso wie das kleine „4G“ waren verschwunden.

Eine angenehme Ruhe herrschte in Stefans Kopf, gepaart mit einer tiefen, allumfassenden Leere – hätte Stefan (ja, es handelt sich um unseren Stefan) in seinem Zustand halbwegs vernünftig denken können, hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gedacht, er sei dem Nirwana so nahe war wie sonst nie. Nur, wie bei den meisten religiösen Konzepten, so verhielt es sich auch mit Stefans aktuellem Geisteszustand: Das Denken fiel gerade ausnehmend schwer, alles was blieb, war ein angenehmes Gefühl der Ruhe.
Endlich, ganz langsam, begann sich die Realität in seinem Gesichtsfeld zu materialisieren und er konnte zuerst die weiße Decke erkennen, gefolgt von dem gleichmäßigen Piepsen eines EKG-Geräts; offenbar war er in einem Spital, kombinierte er messerscharf. „Hallo?“, röchelte er, während die Erinnerung an die Flutwelle zurückkehrte, welche die Stadt verschüttet hatte. Wieso hatte es keine richtige Vorwarnung gegeben, fragte er sich, wie hatte so etwas geschehen können. Natürlich gibt es auch darauf eine Antwort, bloß spielt diese für unsere Geschichte keine Rolle, da er sie sicherlich bald in einer Katastrophen-Doku auf dem Discovery-Channel sehen wird.
Stefan konnte die Stimme seines Mannes vernehmen, die erstaunlich nahe an seinem Bett erklang. Er wandte ihm seinen Kopf zu, ohne dabei Schmerzen zu verspüren, offenbar war er am Nacken unverletzt oder hatte genug Morphium erhalten. Der Schrecken überkam ihn erst, als er seinen Partner sehen konnte, der in einem Rollstuhl saß und … Nein, das konnte nicht sein, versuchte Stefan (einigen wir uns darauf, dass „Stefan“ unser Stefan ist, ja?) sich zu überzeugen, sein Verstand spielte ihm keinen Streich: Das rechte Bein des anderen Stefans fehlte.
„Was ist passiert?“, wollte Stefan ängstlich wissen. „Wie lange war ich …?“
Erst nach mehrmaligen Drängen und unzähligen Fragen ließ sich sein Mann überzeugen, davon abzulassen, ihn zu beruhigen und stattdessen mit der Wahrheit herauszurücken. Wie jedes Mal, wenn Stefan ihn erstmal dazu gebracht hatte, das Herumzudrucksen aufzugeben, war er sehr direkt: „Okay, du warst dreieinhalb Tage bewusstlos, doch nie in Lebensgefahr. Ich habe eine schlechte, eine sehr schlechte und eine gute Nachricht. Welche willst du zuerst hören?“
„Zuletzt die gute, um die Laune zu heben“, meinte Stefan matt. „Hauptsache, wir leben noch.“
„Also“, begann der Stefan im Rollstuhl, „die schlechte Nachricht: Ich wurde bei der Evakuierung in einen Verkehrsunfall verwickelt und im Spital musste mein Bein amputiert werden.“
Damit hatte Stefan bereits gerechnet, immerhin hatte er das Fehlen bereits bemerkt, vermutlich blieb er deshalb verhältnismäßig ruhig. „Die sehr schlechte Nachricht“, fuhr der besorgte Gatte fort, „ist, dass auch dein Bein amputiert werden musste, weil du in der Flutwelle unter einem Marktstand begraben wurdest.“
Stefan wusste, der Schock müsste bald einsetzen, nur, unter dem Einfluss der starken Medikamente war das erste, was ihm einfiel, der administrative Albtraum mit der Invalidenversicherung, die sicherlich Betrug witterte, wenn zwei Stefan Müllers an derselben Adresse … Alles außer das! „Schnell, was ist die gute Nachricht?“
„Deine beiden verdammten Ananasse haben eine Flutwelle überlebt, welche die halbe Stadt ausgelöscht hat!“, rief Stefan aus und hob die beiden Früchte hoch. „Siehst du?“

Und was ist meine Rolle in der ganzen Geschichte, mögt ihr euch nun fragen – zu Recht. Eigentlich habe ich gar keine Rolle, denn meine einzige Aufgabe war es, euch dabei zu helfen, all die Stefans auseinanderzuhalten. Ob mein Name Stefan ist (er ist es), tut dabei kaum etwas zu Sache. Ich werde euch nicht einmal mit absoluter Sicherheit sagen, ob ich noch beide Beine habe, geschweige denn, ob es sich dabei um ein Lehrstück gehandelt hat – solltet ihr wider Erwarten etwas gelernt haben, so ließe sich ich das zweifelsohne behaupten. Vermutlich ist die einzige lernbare Lektion, wie erfreuend frisches Obst sein kann.
Wie auch immer, ich sollte aufhören, mir Kurzgeschichten über meine Mitmenschen hier auf dem Wochenmarkt auszudenken und in mein Handy zu tippen, mich stattdessen endlich an meine Einkäufe machen. Hauptsache ich erwerbe nicht plötzlich eine Ananas, das wäre für meine Allergie schlecht.

Autorin: Sarah
Setting: Wochenmarkt
Clues: Ananas, Gummistiefel, Zornesröte, Katastrophe, Flauschteppich
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4 Gedanken zu „Die zwei Ananasse des Stefan Müller“

  1. Wow. Klasse, was du draus gemacht hast. Ganz anders als mein Traum, aber der war auch sehr konfus, wie Träume halt oft so sind.
    Grob zusammengefasst: Ich schwebte auf einem Flauschteppich über einem Wochenmarkt, verlor einen Gummistiefel, der in einen riesigen Suppentopf fiel und dem Verkäufer steig die Zornesröte ins Gesicht. Er schrie den Gemüseverkäufer an, weil er glaubte der Gummistiefel kam von ihm und der bewarf ich daraufhin mit Ananas. Eine davon fing ich auf und biss rein. In die Schale. Davon musste ich husten, der Teppich stürzte ab und landete mitten im Käsestand. Die Verkauferin rief daraufhin: „Katastrophe, Katastrophe!“, und ich wachte auf.
    Meine Traum ist zwar skurriler, aber deine Geschichte gefällt mir besser. :)
    LG Lexa

    1. Hallo liebe Lexa,
      erstmal danke für’s Kompliment, ich habe ja auch etwas ziemlich wirres produziert hier :D
      Aber … aber, ganz offen: Ich kann nicht mehr vor Lachen – ich bin gerade von der Couch runtergefallen und ich möchte betonen, dass ich auf der Couch lag, nicht etwa sass! Ganz offen: Diesen Traum musst du unbedingt zu einer Story verarbeiten, das würde sowas von megalotastisch, glaub mir. Meine Träume sind dagegen schon realtiv langweilig, normalerweise sind es halb-luzide Zugfahrten oder actionfilmartige Apokalypse-Szenarien, in denen ich die Anführerin einer kleinen Gruppe Überlebender bin und Zomibes abschlachte ;)

      P.S.: Die Story mit deinen nächsten Clues wird von Rahel geschrieben werden und zwar am 19. September – wir freuen uns schon, „keep up the cool clue donations“ ;)

      Einen megalotastischen Abend wünscht dir
      Für die Clue Writer
      Sarah

    2. Hallo,
      ich habe tatsächlich versucht den Traum als Kurzgeschichte aufzuschreiben, sollte dann heute erscheinen, aber irgendwie ist nichts brauchbares bei rausgekommen.
      Vielleicht klappt es ja später nochmal.
      Ich mein, wenn die Kurzschilderung dich schon vom Sofa haut, dann kann ich ja theoretisch gar nicht so viel falsch machen ;)

    3. Hallo liebe Lexa,
      oh ja, das musst du unbedingt später noch einmal versuchen, ich fände die Idee für eine Kurzgeschichte grandiotastisch und sehr witzig :) Und ich werde sie auf jeden Fall lesen wollen :)
      Vielleicht wäre sie ja sogar was für unseren Literaturwettbewerb :)
      Mit lieben Grüssen und den besten Wüsnchen
      Für die Clue Writer
      Sarah

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