Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Siehst du? Ich sagte doch, in der Nacht ist es viel schöner. Touristenfrei.“ Anita balancierte auf einer zerfallenen Mauer, direkt auf die triste Eingangspforte des alten Gefängnisses zu. Als hätten sie sich abgesprochen, trabte Nelson über den Zugangsweg, kam auf ihrer Höhe zum Stehen und reichte ihr die Hand, sodass sie unbeschadet herunterhüpfen konnte. „Zwei Touristen sind hier“, stellte er nüchtern fest. Seine ergraute Gattin brauchte eine Weile, um zu verstehen, wen er meinte, dann kicherte sie: „Blödsinn, wir sind keine Touristen, wir sind Glücksjäger!“ In ihrer Vorstellung war Anita stets eine waghalsige Draufgängerin gewesen und Nelson hatte es einst gefallen, sie in diesem Glauben zu bestärken, selbst wenn ihre Abenteuer meist in einem Fünfsternhotel begannen und einem vollgepackten Reiseflieger endeten. Ihre Abwege von den üblichen Touristenattraktionen blieben ungefährlich, ereignisarm, bestenfalls medioker, eine Tatsache, die ihn früher beruhigt hatte, inzwischen aber eher nervte. Nicht die Ausflüge selbst, sondern ihr verzerrter Eindruck der Realität war es, was ihm die Tristesse ihres gemeinsamen Lebens regelrecht aufdrängte. Sie war verzückt von der eigenen Außergewöhnlichkeit, er sah indessen auf eine Frau verstrickt in Fantasie, jemanden, den er aller Freundlichkeit zum Trotz immer weniger ernstnehmen konnte. „Komm, wir gehen rein“, säuselte sie verschwörerisch, als sie ihn unter den Torbogen der Gefängnisruine lockte.
„Das ist wie ein Labyrinth“, behauptete Anita, während sie fasziniert durch die dunklen, lediglich vom schwachen Mondlicht beleuchteten Gänge spazierte, jede Zelle einzeln beäugend. Der Bau war in Wahrheit sehr geradlinig angelegt, übersichtlich, wie ein Gefängnis eben zu sein hatte. Anita dachte sich die Dinge gerne mysteriöser als sie waren und Nelson hatte für heute genug davon, sie zu korrigieren. Um es genau zu nehmen, plante er, das nie wieder tun zu müssen. „So eingesperrt zu sein muss bestimmt fürchterlich gewesen sein“, tönte sie aus einer der schätzungsweise vierzig identischen Zellen im unteren Stockwerk des Trakts. „Weißt du, irgendwo in diesem Gefängnis hat man den Schlächter von Rom gefangen gehalten. Ich frage mich, wo. Es wird gemunkelt, er habe für seinen Fluchtversuch mutwillig eine Maßenpanik ausgelö…“ Nelson blendete ihre Erzählung aus, er hatte die Geschichte vom notorischsten Serienmörder des letzten Jahrhunderts bereits mehrfach über sich ergehen lassen und absolut keine Lust, noch mehr grausige Details zu erfahren.
Im hinteren Teil des langen Flurs führte eine breite, steinerne Treppe ins obere Geschoß, allerdings wirkte sie unbegehbar. Nelson beschloss, sie nicht aufzuhalten, wenn sie aus reinem Übermut über die zerfallenen Stiegen rennen wollte. Vielleicht nähme ihm das desolate Gebäude Arbeit ab, wenn er der Sache auf die Sprünge half. „Schau mal, Anita. Was wohl da oben ist?“
„Oh, meinst du, wir finden ein Wärte…“ Sie hielt abrupt inne und schien angestrengt zu lauschen. „Hast du das gehört?“ Nelson seufzte ob dem neuerlichen Versuch Anitas, eine mysteriöse Stimmung zu kreieren. „Nein, ernsthaft. Da war wirklich etwas!“, versicherte sie ihm und gab damit unabsichtlich zu, dass zuvor so manches Geräusch ihrer Einbildung entsprungen war. Widerwillig stieß er sich von der feuchtkalten Wand ab, an welcher er diese öde Exkursion hatte fristen wollen und schlenderte zu seiner Frau, die mit ihren Fingern angespannt den Saum ihres hellblauen Pullovers knetete, in eine der Zellen.
„Wir sind in einer Ruine. Ich bin überzeugt, seltsames Knarren gehört zum Gesamtpaket“, beschwichtigte er sie halbherzig, kratzte sich durchs schüttere Haar, ehe er eifrig hinzufügte: „Wir können im oberen Stockwerk ansehen, ob…“ Sie unterbrach ihn mit einer energischen Geste und bedeutete ihm zu lauschen. Tatsächlich, ein ein fauchendes Rauschen war zu vernehmen. Nein, es war kein Rauschen. Es klang anders, wie ein kehliges Raunen, beinahe klagend. „Hast du es jetzt gehört?“, wollte Anita wissen und Nelson blieb bloß übrig, zu nicken. Die Denkerfalten verschwanden von ihrer Stirn, machten einem triumphalen Ausdruck Platz, der sogleich einem ängstlichen wich. „War das ein Schrei?“
„Quatsch“, erwiderte er just in dem Moment, als das Geräusch lauter durch die düstere Ruine hallte. Anita krallte ihn am Unterarm und zog ihn dicht an sich. Es war eindeutig ein Schrei, das musste sich auch Nelson eingestehen, dennoch war er wenig alarmiert und vermutete dahinter einen Grund, auf den er einfach noch nicht gekommen war. Zudem wurde sein Angstempfinden von einem anderen, weitaus stärkeren Gefühl überschattet, von einer diebischen Befriedigung, die er sich selbst äußerst ungern eingestand. Nelson gefiel es, seine Frau dermaßen zitterig zu erleben. Zum ersten Mal war ihr Spiel vom Abenteuer keine uninspirierte Farce, ihre Furcht war so echt wie die Urlaubsrechnungen, welche grundsätzlich auf seinem statt ihrem Schreibtisch landeten.
„Es wäre wahrscheinlich besser, wenn wir zurück ins Hotel gehen, einen Schlummertrunk nehmen und uns anschließend Schlafen legen“, schlug sie sichtlich beunruhigt vor. Nelson verkniff sich ein Lachen, löste sich aus ihrer Umklammerung und säuselte: „Ach, Schatz. Ich dachte wir sind Glücksjäger. Hier gibt es eindeutig ein Geheimnis zu lüften und du willst im Hotel einen Korn heben?“ Das vorwurfsvolle Flüstern zeigte sofort Wirkung, denn Anitas schockgeweitete Augen verzogen sich zu Schlitzen. „Du hast recht!“, stieß sie aus, schnappte sich ihren Jutesack vom verrosteten Gefängnisbett und stapfte aus der Zelle. „Lass uns alles erkunden!“
Egal wie oft er sie dazu aufforderte, Anita hatte sich partout geweigert, die baufällige Treppe zu betreten. Anstelle davon war sie erst ziellos durch den Zellentrakt geschlichen und hatte ihn dann plötzlich lautstark gerufen. Das bizarre Raunen war in der Zwischenzeit verstummt, oder so leise, dass sie es nicht hörten. „Nelson!“, drängelte sie nervös und er beschleunigte seinen Gang mit einer ekelhaft aufregenden Vorfreude in der Magengrube. „Da ist ein Tunnel.“ Sie kauerte in einer Ecke der hintersten sowie finstersten Zelle und zu seinem Leidwesen war ihre Neugier entfacht. „Klettere rein!“
„Was? Wieso ich?“, prustete er entgeistert, verstand jedoch, weshalb sein drahtiger Körper besser für die Aufgabe geeignet war, als ihr wohlgenährter Leib. „Rutsch beiseite“, wies er sie an, da starrte er in zwei milchig weiße Augen.
Anita strauchelte rückwärts und schrie lauthals los, sodass er sich instinktiv die Ohren zuhielt. „Oh mein Gott!“, brachte er stammelnd heraus. „Was ist das?!“ Vor ihnen materialisierte sich eine graue Gestalt, sie erschien sozusagen aus der Wand über dem Tunnel, trat aus ihr, als wäre sie bloß eine Fata Morgana aus massivem Stein und türmte sich über dem Ehepaar auf.
„D… Das… Das ist er!“, stotterte Anita, unfähig, sich zu bewegen. „Der Schlächter!“ Nelson glaubte ihr, das graue Wesen konnte nur ein Geist sein, wie sonst sollte er diese wabernde Erscheinung erklären, welche ihn stechend ansah? Schier unendliche Sekunden verstrichen, bis er seine Gliedmaßen wieder halbwegs unter Kontrolle hatte und rückwärtstaumelte. Der Schlächter hob seinen Kopf, verzerrte seine Fratze zu einem hinterlistigen Grinsen und die Zellentür schlug mit einem eisernen Dröhnen ins Schloss, als die schaurige Figur ihre Hand hob.
„Anita!“, brüllte Nelson aus vollen Lungen, aber es war zu spät. Mit einem kraftvollen Hieb lag seine Frau zusammengesunken unter dem Waschbecken. „Nein! Nein, bitte ni…“ Nelson entdeckte ein stählernes Blitzen, wurde von einem gewaltsamen Krampf überfallen, dann verlor er das Bewusstsein.
Der graue Schlächter steckte das spitze Messer in die Tasche seines Umhangs, bevor er mit dem ausgeschalteten Taser an Nelsons Brust tippte und murmelte etwas außer Atem: „Scheiße, er ist ohnmächtig.“
„Wenn du ein wenig härter zugeschlagen hättest, ginge es mir genauso“, nörgelte Anita, während sie sich aufrappelte. „Der ist übrigens nicht ohnmächtig, sondern tot.“
„Bitte was?“, empörte sich der vermeintliche Schlächter. Anita schmunzelte, klopfte sich Staub vom Pullover und marschierte schließlich auf den am Boden liegenden Nelson hinzu, um seinen Puls zu prüfen. „Ja, Nelson hat einen Herzschrittmacher. Der ist mausetot.“
„Aber du …“ Nun entledigte sich der Geist seines grauen Gewands und zum Vorschein kam ein älterer Herr, dessen Gesicht mit Kohle und grünem Fettstift verschmiert war. „Du hast gesagt, du willst ihm bloß einen Schrecken einjagen!“, meinte er aufgeregt.
„Klar, ansonsten hättest du kaum mitgemacht.“ Ihre Stimme war kühl, belustigt. „Oder wärst du begeistert von der Idee gewesen, meinen Ehemann umzubringen, Karl?“
„Um Himmels Willen, Anita. Nein, nein, natürlich nicht!“, ereiferte sich der Angesprochene. „Wir müssen einen Krankenwagen rufen, möglicherweise … Anita? Was hast du vor?!“
„Entschuldige, Karl. Es geht nicht anders“, verkündete sie, einen langen, metallenen Gegenstand unter dem Waschbecken hervorziehend. „Ich brauche einen Sündenbock und du, mein Liebhaber, passt wunderbar zu dieser Rolle.“
„Das war die ganze Zeit über dein Plan?“, fragte Karl entrüstet, wich einige Schritte zurück an die falsche Wand aus bedrucktem Stoff und deutete auf die sorgfältig vorbereitete Kulisse. „Wieso dann all das hier?“
„Oh Karl, ich weiß, was ich tue, hab ruhig Vertrauen in meine Fähigkeiten“, wandte sie noch immer schmunzelnd ein. „Der Gatte verstirbt auf tragische Weise, bevor irgendjemand die Scheidungspapiere gesehen hat, die Frau ist untröstlich, sitzt in der Klemme, bedroht vom teuflischen Mann, der ihr einst die Liebe schwor. Fehlt eigentlich nur der letzte Akt meines Spiels.“ Mit den Worten festigte sie ihren Griff um die Eisenstange und holte zum Schlag aus. „Der Tod des Schurken.“