Advents-Special | Ausgrabung

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Die Eiszapfen glitzerten in dieser kalten Nacht, schimmerten im Licht der Halogenstrahler, die gar lange nach Mitternacht den Kirchturm des Dorfes beleuchteten. Nichts regte sich auf dem an das Gotteshaus  grenzenden Friedhof, nichts außer zwei Gestalten in dunklen, dicken Kapuzenmänteln, die mit geschulterten Schaufeln neben einem Grab Halt machten.
„Ist es das?“, erkundigte sich der Gehilfe schwer schnaufend, ließ seine Schaufel mit einem lauten Geräusch auf die Waschbetonplatten aufkommen, schlug die Kapuze zurück und zeigte auf den schlichten Grabstein.
Sein Begleiter, der Professor, (der in Wirklichkeit kein Professor war) stützte sich auf seinem Werkzeug auf und seufzte: „Ja, das ist es. Das erste Mal ist immer am schwersten, doch keine Angst.“
Ehrfürchtig beugte der Gehilfe sich vor und las die Inschrift am Monument, entzifferte die ihm fremde Sprache mühselig: „Hier ruht in Frieden: J. Zimmermann.“ Es dauerte eine Weile, bis er sich erneut zu sprechen wagte. „Und Sie sind sich sicher, dass es sich hierbei um das Grab von … ihm handelt?“
„Freilich, freilich“, brummte der Professor, hob die Schaufel auf und stach sie mit Hilfe seiner Schuhsohle in den gefrorenen Boden. „Komm, Eile ist geboten, wir müssen vor dem Morgengrauen das Loch wieder aufgeschüttet haben!“
Der Gehilfe wachte umgehend aus seiner Andacht auf und begann mit jugendlichem Eifer zu buddeln, als ginge es um sein Leben. Wenn man es recht bedachte, so tat es das auch.

Erschöpft schippte der Gehilfe den Rest der mit Eisklümpchen durchsetzten Erde aufs Grab, sein Atem zeichnete Dampfwölkchen in die ansonsten klare Luft. „Ich denke, das war es.“
Der Professor wog den ausgegrabenen Schädel in der Hand, hielt ihn schließlich vor den Scheinwerfer, wo er kristallen funkelte. „Ist er nicht wundervoll?“
Nun kam der müde Handlanger, welcher die ganze Schwerstarbeit für den älteren Mann geleistet hatte, hinzu, um das Resultat ihrer Ausgrabung zu bewundern. „Einzigartig, in der Tat.“ Demütig streifte er die Handschuhe ab und fuhr mit dem Finger über das aus Glas geformte Objekt. „Und was machen wir jetzt damit? Stellen wir es im Hauptquartier unseres Geheimbundes zu den anderen Relikten auf den Kaminsims?“
Vorsichtig setzte sich der Alte auf ein Mäuerchen und pulte ein Sandwich aus seinem Mantel, das er bedächtig aus dem Einwickelpapier schälte. „Junge, dieser Schädel gehört auf keinen Sims, sondern in eine Vitrine! Er ist gleich viel wert die der Prototyp des Gedankenkontroll-Satelliten, das Miniatur-UFO von Rosswell, ja das Leichentuch von Turin zusammen!“
„Manchmal frage ich mich, ob unser Geheimbund ein klein wenig an Größenwahn leidet, zumindest haben wir fast jedes geschichtliche Ereignis vertuscht, das es zu vertuschen gab“, murmelte der Lehrling nachdenklich. „Ich meine ja bloß … hat die Öffentlichkeit kein Recht auf die Wahrheit?“
Der Meister kicherte. „Wahrheit, was heißt das überhaupt?! Wir sind die Auserwählten, die Wissen hüten, die Wissen formen. Du hast die Computersimulationen gesehen, früher oder später endet die Menschheit im Desaster, wenn wir ihr unkontrollierte Freiheit zugestehen.“ Er legte den nahezu transparenten Schädel in einen Jutebeutel, zog seine Kapuze hoch und biss zu guter Letzt herzhaft in sein Sandwich. Erst nach mehreren Happen führte er kauend seine Lektion fort: „Was siehst du hier? Ein Produkt aus Mehl, belegt mit Käse, Gurken und bestrichen mit erlesenem Dijon-Senf?“
„Ich sehe ein Sandwich“, entgegnete der junge Mann verwirrt, während der Professor das letzte Stück hinunterschluckte. „Ich meine, hin und wieder ist ein Brot einfach nur ein Brot – richtig?“
Der Alte legte extra viel Pathos in seine Worte: „Falsch. Wir machen die Welt glauben, Brot sei auch tatsächlich Brot. Alles, was es zu wissen gibt, kontrollieren wir. Brot könnte genauso aus Tausendfüßlern hergestellt werden, niemand würde es je herausfinden.“
Der Lehrling verzog beunruhigt das Gesicht. „Wird es aber nicht, oder?“
„Selbstverständlich, das wäre Blödsinn, Weizen ist viel effizienter.“ Er pausierte, um begierig aus seiner Wasserflasche zu trinken, in der bereits kleine Eisberge schwammen. „Hackbraten hingegen, der wird aus Küchenschaben hergestellt.“
Der junge Mann rümpfte die Nase. „Wenn wir so mächtig sind, wieso haben wir dann nicht Lakaien, die für uns die anstrengenden Drecksarbeiten erledigen?“
Das Schmunzeln der Professors war unter seiner Kapuze kaum zu erkennen und anstelle einer Antwort beließ er es bei dem bedeutungsschwangeren Schweigen, das zweifellos implizierte, in welchem Ausmaß sein Begleiter der Lakai war. Dieser nuschelte indigniert in seinen imaginären Bart und kickte in den Schnee, wobei sich der Professor seiner erbarmte: „Jeder von uns hat in dieser Position angefangen, es ist stets von Vorteil, einen Lehrling dabei zu haben, der jung und stark ist. Und es tut dem Lehrling gut, selbst etwas zu unserem Geheimbund beizutragen, das über Denken oder Sprechen hinausgeht.“
Versöhnlich stillte der junge Mann seinen Wissensdurst weiter. „Na dann. Ich bin jetzt seit einem Jahr dabei, habe alles hinter mir gelassen, was ich kannte und verstehe diese Mission trotzdem kaum. Weshalb ist es so wichtig, genau diesen Alien-Schädel zu holen?“
„Vor einer Woche“, setzte der Professor an, „hat unsere Aufklärungsabteilung in einem Internetforum einige Posts von einem Verschwörungstheoretiker entdeckt, der behauptet, der Leichnam des Weihnachtsmannes liege auf einem Friedhof begraben. Bevor also irgendwelche von diesen Deppen sich mit Spitzhacken ausrüsten und Leichenschändung begehen, müssen wir sicherstellen, dass an dieser Theorie nichts dran ist.“
Erschüttert deutete der Nachfolger auf den Jutebeutel. „Dann ist dieser Außerirdische … das ist … der echte …?“
„Ja“, gluckste der Professor amüsiert, „wie haben den Schädel des Weihnachtsmanns aus seinem Versteck geholt. Niemand darf je erfahren, dass es ihn wirklich gab!“
„Wieso?“
„Mal dir aus, es käme heraus, dass wir Aliens einfangen und sie für unsere Zwecke umprogrammieren! Was bringt ein Geheimbund, wenn er enttarnt ist? Die Welt würde den Weihnachtsmann wohl kaum als Legende feiern, wenn sie wüssten, wir haben einen gezüchtet. Noch dazu, dass dieses Experiment schiefgelaufen ist.“
„Aber – das ist der Weihnachtsmann, nicht Hackbraten, LSD im Hundefutter oder Wetterkontrolle!“, rief der Jungspund empört aus. „Die Welt hat muss das erfahren!“ Kurz entschlossen zog er ein Messer aus seinem Umhang, rammte es dem Älteren in den Oberschenkel und sprintete los – so konnte ihn der andere keinesfalls einholen. An der Kirche vorbei hastete er in Richtung des Ausgangs, rutschte auf dem eisigen Gehweg aus und landete schmerzhaft auf dem Steißbein. Als der Jutebeutel aufkam, war ein Splittern zu vernehmen. „Nein, nein, nein“, keuchte der Verräter panisch, öffnete den Sack und kippte Kristallstaub auf den Boden. „Scheiße!“
Die Stimme des Professors erklang hinter ihm. „Ja, diese Außerirdischenknochen sind beständiger als Sicherheitsglas, solange sie im Körper sind. Sobald man sie entnimmt und sie nicht mehr in Glibber gehüllt sind, zerbröseln sie bei der kleinsten Erschütterung.“
„Was zum …?!“ Der Gestürzte fuhr herum, starrte zum offenbar unverletzten Lehrmeister auf. „Wie?“
„Du bist erst so kurz bei uns“, meinte dieser gutmütig lächelnd und half ihm auf. „Du hast noch nie von den Geheimnissen der Schmerzlosigkeit, Unverwundbarkeit, Teleportation, geschweige denn ewigem Leben gehört. Das war eine Prüfung, du hast sie bestanden.“
„Eine Prüfung? Bestanden?“, wiederholte er verdutzt – nun machte seine Welt keinen Sinn mehr, immerhin hatte er gerade seinen Vorgesetzten verraten.
„Ja, mein junger Freund. Nur einer, der die Ansicht vertritt, der Weihnachtsmann verdiene absolute Ehrlichkeit und Respekt, ist unseres Zirkels würdig. Jeder liebt den Weihnachtsmann, so auch wir – wer das nicht tut, ist wahrlich ein Psychopath.“
Langsam begriff der Lehrling, wieso er hierher gebracht worden war. „Und … wessen Schädel habe ich dann gestohlen?“
„Hm“, machte der Professor. „Jesus‘. Das Ding sollten wir schon seit langem umplatzieren oder vernichten, das war die perfekte Gelegenheit, deine Charakterintegrität zu prüfen.“ Er legte seinem Begleiter aufmunternd einen Arm um die Schulter, als die beiden Gestalten vom Friedhof schlenderten. „Komm, ich gebe dir einen Eierpunsch aus.“

Autorin: Sarah
Setting: Friedhof
Clues: Messer, Professor, Weizen, Senf, Größenwahn
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Jens van der Kreet. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

2 Gedanken zu „Advents-Special | Ausgrabung“

    1. Hallo lieber Jens,

      es freut mich megalotastisch, dass dir meine bekloppte Idee gefallen hat und du mich gar mit Lorbeeren überschüttest! Ich muss zugeben, dass mit deine Vorgaben im Kontext mit dem Feiertags-Theme herausgefordert haben – ganz so, wie es sein soll! :)
      In diesem Sinne: Ein Bleistiftknicks für deine Clues!

      Mit lieben Grüssen und den besten Wünsche
      Für die Clue Writer
      Sarah

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Clue Writing