Der frisch gefallene Flaum aus Schnee und Eisregen knisterte bei jedem seiner raschen Schritte und die meisten Menschen, die sich am späten Abend zum Schaufensterbummel hatten hinreißen lassen, trugen, vom frühen Frost überrascht, zu dünne Mäntel. Lukas nahm noch immer den Umweg um zu seiner Wohnung in der Gerechtigkeitsgasse zu gelangen, obwohl der Vorfall nun schon einige Monate zurücklag und er sich nicht einmal mehr sicher war, ob er sich das Ganze vielleicht nicht doch bloß eingebildet hatte; selbst die Polizei hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie seine Besorgnis, seine Ex-Freundin würde ihn beschatten, lächerlich fanden. Als er bei der Pavillon-Skulptur, welche die Pelikanstraße von der Bahnhofstraße trennte, vorbeikam rückte er den Schultergurt seiner Aktentasche etwas zurecht, zog seinen Schal über die Nase und blieb einen kurzen Moment stehen. Etwas grimmig entschied er sich trotz seiner Zweifel, auf der belebten Einkaufsmeile zu bleiben, selbst wenn er sich etwas dumm vorkam, sich wegen eines unordentlich hingestellten Esstischstuhls und schief hängender Bilderrahmen so anzustellen. Ein kurzes Aufflackern der Beleuchtung, die liebevoll herbstlich gestaltet die Fassade eines großen Warenhauses verschönerte, ließ ihn vom glitzernden Boden aufblicken – wahrscheinlich vertrug sich der Halbleiter der Steuerelektronik nicht mit den kalten Temperaturen – und just in dem Moment, als er sein Tempo etwas drosselte um die Dekoration zu betrachten, vibrierte der Handchip seines LMDs. Lukas hatte sich noch immer nicht an dieses Life Management Device gewöhnt und vermisste sein altes Smartphone, das zwar ein wenig umständlich war, aber wenigstens keine Gehirnimplantate benötigte. Aber so war es halt mit dem Fortschritt, man konnte sich ihm nicht ewig entziehen und das würde sich in den neuen Zwanzigerjahren sicher auch nicht ändern. Etwas genervt blieb Lukas neben einem der noch jungen Bäume, welche in asphaltierten Quadern auf den Gehweg gepflanzt waren, stehen und drückte auf den fleischigen Teil zwischen seinem linken Daumen und Zeigefinger. „Ja bitte?“
Ein digitales Signal wurde direkt auf seinen Sehnerv geleitet und Lukas blickte blinzelnd auf ein semitransparentes Bild, durch das er seine Umgebung gerade noch genug erkennen konnte, um langsam weiterzugehen. Es dauerte einige Sekundenbruchteile, bis er das Gesicht seiner Mutter erkannte, die ihn mit aufgequollenen Augen anblickte. „Mama? Was ist denn los?“ Das Video wackelte jäh und er konnte für einen Bruchteil einer Sekunde erkennen, dass seine Mutter offensichtlich an einen Holzstuhl gefesselt worden war, bevor die Bildübertragung abgebrochen wurde. Lukas wurde beinahe von einem jungen Mann in einer Bomberjacke und schweren Stiefeln überrannt, als er schockiert stehen blieb und losschrie: „Mama!“ Es raschelte in der Leitung und er konnte hören, dass jemand im Hintergrund flüsterte, bevor das Signal mit einem Klicken umgeleitet wurde und sich eine ihm bekannte Stimme meldete. „Hallo Lukas. Hast du mich vermisst?“ Sein ganzer Körper verkrampfte sich augenblicklich, er zischte ihren Namen zwischen seinen rauen, zusammengepressten Lippen hervor und ihre Stimme dröhnte durch seinen Schädel: „Lauf nicht weg.“ Abwesend sah er zu, wie der Neonazi, mit dem er zusammengestoßen war und dessen Beleidigungen er ausgeblendet hatte, in eine Seitenstraße einbog, aus welcher gerade zwei als Katzen verkleidete Mädchen kamen und wartete darauf, dass sie kommen würde.
Lukas erkannte sie an ihren Schritten und roch ihr penetrantes Parfüm schon, als sie sicherlich noch zwanzig Meter hinter ihm war, dennoch drehte er sich nicht um. „Lukas, Lukas, Lukas!“ Ihr Tonfall klang belustigt und jagte ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunter. „Lukas, du dummer, dummer Junge, du hast doch nicht geglaubt, ich würde dich so einfach davonkommen lassen.“ Ihre Haare waren unter einer schwarzen Baskenmütze versteckt und wie immer trug sie falsche Wimpern und eine feine goldene Halskette. „Wo ist meine Mutter?!“ Sie lachte lauf auf, trat dicht an ihn heran und hakte sich bei ihm ein. „Nana, nur nichts überstürzen. Aber keine Angst, es geht ihr noch gut. Ich bin doch kein Unmensch.“ Lukas starrte sie wütend an, in der Hoffnung, sie würde seine Panik nicht bemerken, doch sie ließ sich davon nicht beeindrucken und befahl ihm, mit ihr durch die festlich beleuchtete Straße zu schlendern, kein Aufsehen zu erregen und den Mund zu halten.
Sie beide schwiegen eine ganze Weile, bevor sie begann ihm dieselben alten Vorwürfe zu machen, die er seit ihrer Trennung schon so oft zu hören bekommen hatte und er konnte sich nur schwer davon ablenken, wie unangenehm es ihm war, dass sie seinen Arm berührte. Plötzlich wurde ihre Stimmlage heiterer und sie lächelte ihn verliebt, ja beinahe übermütig, an, löste sich von ihm und wirbelte einige Male um die eigene Achse. Irritiert und verängstigt blieb Lukas auf der Stelle stehen und wartete darauf, dass ihre Stimmung wieder ins Schwanken kam. Doch anstelle davon wurden ihre Züge weicher als sie den Inhalt der Vitrinen im Schaufenster eines Juweliers begutachtete und zum ersten Mal seit langer Zeit konnte er sich wieder daran erinnern, warum er sich einst für sie interessiert hatte. Wiederwillig und über sich selbst verärgert schüttelte er seinen Kopf, als wollte er den Gedanken endgültig loswerden und er fragte sich, ob sein dämliches LMD ihm vielleicht einen Tumor beschert hatte; wie sonst wollte er sich diese flüchtige, aber dennoch liebevolle Empfindung erklären?
„Was willst du, Monique?“ Er wusste, dass ihre gute Laune sofort brechen würde, sobald er etwas sagte, aber er wollte endlich wissen was er tun konnte, um diese unerträgliche Begegnung beenden zu können und im besten Fall herauszufinden, wie er diese Irre aus seinem Leben vertreiben würde können. Sie starrte noch einige Sekunden in das funkelnde Schaufenster, bevor sie ruhig zu ihm zurückging und sichtlich um Beherrschung bemüht zu erklären begann: „Lukas, ich will doch nur, dass wir quitt sind, nichts weiter.“ Ein orangenes Licht umgab ihre zierliche Silhouette, von weitem konnte man das Läuten einer Kirchenglocke und das Gelächter einiger Halloween-Partygänger hören und dem Angesprochenen wurde es speiübel, als er sich ausmalte, was dieses wahnsinnige Biest seiner Mutter wohl antun könnte. „Was hast du vor?“
Sie streichelte sanft seinen Unterarm und jagte ihm damit einen Schauer durch den durchfrorenen Körper und sah ihn mitleidig an. „Aber nicht doch, Lukas. Deiner Mutter muss nichts passieren, nicht wenn du jetzt mitkommst und mich dir nehmen lässt, was du mir genommen hast.“ Sein Handchip vibrierte erneut und offenbar hatte sie damit gerechnet, denn sie griff zielstrebig nach seiner Hand und das Bild der älteren Blondine erschien wieder vor seinen Augen, jedoch war sie nicht mehr alleine. Ein etwas heruntergekommener Typ stand neben ihr und hielt einen Notizzettel in seinen Fingern, den er nun direkt vor das Aufnahmegerät streckte. „Quid pro Quo!“ Noch bevor Lukas etwas hätte sagen können, bracht die Übertragung ab und seine Stalkerin strich ihm behutsam über seine Wange, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Was willst du von mir? Ich tue alles was du willst, aber bitte lass sie gehen!“ Er klang verzweifelt und konnte das leise Schluchzen nicht mehr unterdrücken, welches ihm seit einigen Minuten die Kehle zugeschnürt hatte.
Moniques Gesicht strahlte auf und sie tanzte kurz mit einem freudigen Blitzen in den Augen um seine zur Salzsäule erstarrten Gestalt herum. „Es ist einfach, Lukas, sehr einfach. Dein Leben für das deiner Mutter. Meine Liebe für deine Zukunft.“ Er fühlte einen brennenden Schmerz in seinen Lungen, als er versuchte die kalte Luft tief einzuatmen, zog den Trageriemen über den Kopf und stellte die schwere Ledertasche auf den Fenstersims des Juweliers. „Du versprichst mir, dass ihr nichts passiert?“ Ein helles Quietschen entwich ihr, bevor sie ihm versicherte, dass das Wohlergehen seiner Mutter nicht in Gefahr war, solange er sein Ende der Abmachung einhalten würde. Es begann zu schneien, als die beiden die Bahnhofstraße verließen.