Liam war einer jener Bauarbeiter, die ihren Job liebten. Er genoss die Vorstellung, Teil von etwas Großem zu sein, ein Bauwerk entstehen zu sehen, das künftig die Stadt veränderte, ihre Grenzen unermüdlich verschob. Zurzeit arbeitete er auf der Baustelle für die U-Bahn-Linie, die den alten Hafen mit dem Zentrum der Metropole verband. Einen Pop-Hit summend schlenderte er durch das im Rohbau fertiggestellte Segment des U-Bahn-Tunnels, lauschte den Baggern und dem Warnhorn. Erst, als er die Station der 62nd Street betrat, oder besser, die von wenigen Scheinwerfern erhellten Halle, in der die Station errichtet wurde, unterbrach er seinen Song, glücklich, bald bei der Toilette zu sein.
Der Gang zum Klo trübte seine Laune, ihm bekamen die Bohnen, die er vor Schichtbeginn zum Abendessen hatte, schlecht. Er hätte lieber Blumenkohl gehabt, allerdings bestand seine Frau selbstverständlich wieder auf Bohnen, eine Tatsache, die ihn kaum noch überraschte. Seufzend krabbelte er auf die Plattform und ging in das hellblaue Baustellenklo. Gleichmütig zerrte er die Hose runter und setzte sich hin, aus seiner Sicht war Stoizismus die richtige Reaktion auf Verdauungsbeschwerden.
Als Liam die Spülung betätigte, donnerte ein tiefes Grollen durch den Tunnel und verschluckte den entfernten Baulärm.
„Was zum Teufel …?“, nuschelte er und wunderte sich, weshalb gesprengt wurde, wo doch die ganze Linie bereits seit Wochen fertig ausgebrochen war. Neugierig streckte er die Hand nach dem Knauf aus, um nachzuschauen, was draußen vor sich ging. Weit kam er nicht, denn das Klohäuschen wurde von einer Druckwelle erfasst, rutschte über den Boden und kam in einer Ecke der Halle zum Stehen. Seine Dankbarkeit dafür, dass der fast bis zum Rand mit Fäkalien gefüllte Container nicht kippte, hielt nicht lange. Ein metallisches Scheppern erschreckte ihn, Staub drang durch die Ritzen und Liam fürchtete, verschüttet zu werden. Verängstigt fasste er erneut nach der Klinke und probierte, die Tür aufzustoßen. Sie gab lediglich seinen Spaltbreit nach, wurde von einer umgekippten Abschrankung verbarrikadiert. Ein Schweinwerfer war auf einem Trümmerhaufen zu liegen gekommen und strahlte direkt in das Dixie-Klo.
„Scheiße!“, wetterte er, verfluchte sein Leben und kämpfte gegen die aufkeimende Panik, in dem engen Raum gefangen zu sein. Mit mehr Schwung warf er sich abermals gegen die die Tür, die keinen Zentimeter nachgab. „Da hat man so viele Muskeln unterm Speckmantel und wenn man sie braucht, sind sie für’n Arsch!“ Mit einem letzten frustrierten Tritt gegen die Plastiktür gab er vorerst auf und machte es sich auf der Klobrille bequem.
Weil er sonst nichts zu tun hatte, überlegte Liam, was überhaupt passiert war. Weder eine Explosion noch ein Einsturz waren wahrscheinlich, seine Kollegen waren kompetent und umsichtig. Ganz anders als die Dumpfbacken, die drüben bei der 53rd Street bohrten und ständig ihre Helme vergaßen. Wenigstens stand sein Klogefängnis nur wenige Meter abseits vom Sammelpunkt, früher oder später käme jemand vorbei. Zuversichtlich rief er: „Hallo? Ist da einer? Mark? Josh!“
Stille, einzig begleitet vom Rieseln von Staub oder Mörtel, war alles, was er hörte. Plötzlich hallte ein spitzes, angsterfülltes Kreischen durch den Tunnel. Liam zuckte zusammen, das hatte nicht wie ein Hilferuf geklungen, sondern wir ein überdramatischer Todesschrei aus einem Hollywood-Blockbuster.
„Was ist hier los?“, brummte er und schloss impulsiv das Klo. Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren, die Hitze des Halogenstrahlers brannte sich geradezu in ihn, der Schweiß auf seinen Lippen schmeckte grauenhaft. Er war ein Literaturliebhaber, dummerweise machte sich seine Freude am Horror-Genre jetzt alles andere als bezahlt. Nervös lehnte er sich zurück, mochte sich nicht ausmalen, was gerade geschehen war. Hatten sie beim Tunnelbau ein schlafendes Unterweltmonster geweckt, irgendein nukleares Militärgeheimnis freigelegt, hatte einer seiner Kumpels Zombies freigelassen?
„Deine Fantasie spielt dir einen Streich“, versuchte sich Liam zu beruhigen, leider erfolglos. Seine Optionen waren erschöpft und das Handy hatte unter dem Boden keinen Empfang, also brüllte er nochmal: „Hallo, ist da jemand? Hat einer überlebt?“
Als wollte er ihm antworten, flackerte der Scheinwerfer einige Male und erlosch. Kurz sah Liam den orange glimmenden Glühdraht, dann erstarb die Lampe. Sehr zur Erleichterung des Bauarbeiters wurde es nicht komplett dunkel, ein weiter weg montierter Halogenstrahler war offenbar umgekippt und zeichnete durch ein Armierungseisen skurrile Schatten auf die Decke. „Hallo?“
Nichts. „Na, immerhin bin ich auf dem Scheißhaus, sollte der Rest der Bohnen raus wollen“, stöhnte Liam und dachte an seine Frau, die sich in einigen Stunden bestimmt sorgen würde, wenn seine Guten-Morgen-SMS ausblieb. „Ach“, keuchte er. Bis dahin wären längst Feuerwehrleute im Tunnel, so ein Desaster konnte niemals unentdeckt bleiben. Oder?
Liam war sich unsicher, wie lange die Explosion her war. Er hatte sich abgeregt und damit abgefunden, eine ganze Weile zu warten, als ein Rumpeln das Gewölbe erfüllte. Das musste es sein, freute er sich. Ein Bagger, irgendein Fahrzeug, das sie zur Rettung benutzten. Der Schall näherte sich erstaunlich schnell, zu seiner Überraschung vernahm er bloß Knirschen von etwas Großem, vielleicht Rädern, auf dem losen Boden, keinerlei Motorgeräusche. „Was zum …?“, murmelte er, ehe er wiederholt „Hallo?“ rief. Sofort stoppte es und Anspannung legte sich über die Haltestelle. Keine menschlichen Laute, nichts, was … Liam unterdrückte einen entsetzten Aufschrei, als er durch den schmalen Spalt eine Kreatur erspähte, die scheinbar gemächlich die Plattform in seine Richtung hochkroch, und wie ein Tentakel aussah. Hurtig und vorsichtig zog er die Tür des Klos zu und verharrte reglos. Nein, nein, das war unmöglich, absolut unmöglich!
Es, was es auch war, berührte die Gitter-Abschrankung. Darauf folgte ein scharrendes Kratzen an der Außenwand seines Baustellenklos, anfangs an der Tür, dann am Dach. Liam gab keinen Mucks von sich, hielt den Atem an und hoffte inständig, aus diesem Albtraum aufzuwachen. Sein Herz schlug so laut, er befürchtete es könnte dem … dem Ding verraten, wo er war und er betete, die Bestie möge weiterziehen. Als hätte das Vieh seine Gedanken gelesen, hielt es inne und zog sich langsam zurück. Befreit ächzte Liam und stützte den Hinterkopf an der Rückwand ab. Nur, egal, wie froh er war, das Ding konnte jederzeit zurückkommen, also schwor er sich, keinen Mucks zu machen, bevor er gerettet wurde.
Es mussten Stunden vergangen sein, als Liam Bergungstrupps bemerkt und zu sich gelotst hatte. Nun waren sie dabei, sich durch den Schutt zu wühlen, ihre Stimmen und die Pressluftbohrer kamen stetig näher. Zwar blieb noch ein Stück Anspannung, das Monster könnte sich die Retter holen, doch nach der langen Stille war er hoffnungsvoll und unsäglich froh darüber, Menschen hier zu wissen. Derweil dämmerte dem Bauarbeiter: Niemand würde glauben, was er gesehen hatte. Egal, was auf ihn zukam, von nun an würde er ausschließlich im Hochbau arbeiten.