Mit einem Seufzen bestieg Ferdinand die Leiter, die am Dachfenster lehnte und steckte den Kopf heraus in die kühle Frühlingsluft. Die Mittagssonne blendete den Gipser, als er sich eine Zigarette anzündete und er beschattete die Augen. Von hier oben genoss er die perfekte Aussicht über die Baustelle, auf der er seit letztem Herbst arbeitete. „Wo ist er?“, murmelte Ferdinand und suchte mit zusammengekniffenen Augen die Zufahrtsstraße ab. Unter ihm verstummte die Schleifmaschine, mit welcher der Schreiner Amir sich an der Dachbalkenkonstruktion zu schaffen gemacht hatte und er brüllte hoch: „Was hast du gesagt, Ferdi?“
„Der Held, unser aller Erlösung, er kommt nicht“, beschwerte sich der Gipser mit pathosgeladener Stimme. „Wir warten seit Dezember auf ihn, den mysteriösen Mann mit dem gelben Wagen.“
Amir stöhnte und brummte: „Nicht schon wieder das, kann der Typ nicht mal aufhören, so zu tun, als sei er in einem Fantasy-Roman?“ Schließlich rang er sich zu einer Antwort durch: „Mir ist auch klar, kannst du nicht alle Wände zugipsen, wenn der Elektriker noch nicht da war. Sag es der Bauleiterin Isabella? Immerhin ist die die Tochter des Besitzers, die kann denen sicher Dampf machen.“
„Die Prinzessin des Firmenimperiums, hach, sie ist gefangen in einem Büroturm in der Innenstadt, bereits seit Tagen belagert vom Drachen des Denkmalschutzes. Sie zu befreien würde unser alle Anstrengung benötigen.“
Amir kratzte sich am Dreitagebart. „Mann, wie kommst du nur auf diesen Blödsinn? Schaust du etwa die ganze Nacht ‚Herr der Ringe‘ oder liest Märchen, Alter?“
Kaum etwas konnte Ferdinand aus dem Konzept bringen, sicher nicht Amirs Beschwerden. „Wie du weißt, hat sich dein Lehrbursche Fred am Heldenwerk versucht und ist als gebrochener Mann von dannen getrottet, geschlagen von der unsichtbaren Magie. Schweig, mein Freund, so lange du nicht selbst den Mut aufbringst, die Magie der unsichtbaren Blitze zu erlernen – du bist ein Meister des Holzes, kein Magier!“
„Und du ein Holzkopf“, lachte Amir. „Fred sitzt im Keller und dreht sich einen Joint, nachdem er einen Stromschlag gekriegt hat. Immerhin hatte der Junge die Finger an einem Zweihundertzwanziger und nicht einem Fünfhundert-Volt-Kabel. Hoffe mal, die Hohlbirne kann mir auch bekifft zur Hand gehen. Jedes Mal, wenn man mir ’nen Lehrling aufs Auge drückt, ist es so eine Nullnummer. Sogar in die Topfpflanzen des Nachbars gepinkelt hat er.“
„Nicht jeder Mann ist für Heldentaten geschaffen, nicht jeder auf der großen Baustelle des Lebens beherrscht die Magie der unsichtbaren Blitze“, sagte Ferdinand und kraxelte die Leiter herunter ins Dachgeschoss. Neben seinem Kumpel angekommen, klopfte er diesem auf die Schulter. „Nur, wenn wir in unserer Stunde der größten Not einen Magier brauchen, ist er abwesend.“
„Och, hör auf, man könnte ja meinen, du seiest bekifft und nicht der Junge! Nichts ist schlimmer als ein gelangweilter Gipser ohne Arbeit – hol dir ein Sandwich von der Tanke, dann habe ich meine Ruhe für ein paar Minuten.“
Das Prasseln von Kies und Motorengeräusche auf der Zufahrtsstraße unterbrachen die Stille. Eilig erklomm Ferdinand die Leiter wieder in der Hoffnung, nach wochenlangem Auf-sich-warten-lassen würde der Elektriker endlich auftauchen. „Heureka!“, rief er aus, als er den gelben FIAT-Lieferwagen mit dem schwarzen Blitz auf der Seitenwand erspähte. „Der Magier ist da, um mich aus der Langeweile zu erretten. Das Schicksal meint es gut mit uns.“
Amir seufzte resigniert, schaltete die Schleifmaschine ein und machte sich wieder an den Dachbalken zu schaffen, während Ferdinand heruntersprang, losrannte und die bereits abgeschliffene Treppe heruntersprintete. Nach einigen Sekunden siegte Amirs Neugier über seinen Arbeitswillen und er folgte dem Kameraden nach unten.
„Da ist er also endlich, unser langersehnter Held, der uns aus unserer Misere befreit“, wurde Kurt vom Gipser begrüßt. Der Elektriker machte einen Knicks vor dem Duo, schnappte sich seine Ausrüstung vom Beifahrersitz und erwiderte: „In eurer dunkelsten Stunde bin ich gekommen, euch aus der Misere zu erretten. Meine LED-Strahler werden euren Weg erhellen und in Kürze sind wir bereit, diese Sache zu einem glorreichen Abschluss zu bringen.“
„Oh Gott, noch einer von der Sorte“, stöhnte Amir leise und fuhr lauter fort: „Ich wünsche euch beiden viel Spaß, ich bin wieder bei meiner Schleifmaschine. Schickt mir Fred hoch, wenn ihr ihn findet.“
Kaum war Amir verschwunden, erkundigte sich Kurt skeptisch: „Was ist das Problem dieses Miesepeters? Hat ihn ein Goblin erwischt oder hat er zu viele Winter gesehen, um noch Hoffnung nach einem besseren Morgen zu hegen?“
„Nein, mein werter Freund, das liegt in der Natur von Schreinermeistern“, lachte Ferdinand. „Allesamt glauben sie, auf dem Boden der Tatsachen zu stehen – nur, weil sie den Boden verlegen.“ Damit beugte er sich zum Kellerfenster, aus dem nach Marihuana duftender Rauch stieg, und brüllte: „Jungchen, wenn du deinen wohlverdienten Schönheitsschlaf zu Ende gebracht hast, geh nach oben, dein Meister sucht dich! Niemand wird kommen, dich wachzuküssen!“
Fred brummte etwas, was Ferdinand mit einem Schulterzucken quittierte, bevor er sich wieder an Kurt wandte: „Ach ja, die Flegeljahre. Nun denn, wollen wir, oh edler Herr der Blitze?“
„Selbstverständlich, mein Freund der Wände und des meisterlichen Verputzes. Auf dass wir dieses Projekt zur perfekten Vollendung bringen.“
„Diesmal aber bitte keine Dracheneier im Verteilerkasten ausbrüten, ja?“, flüsterte Ferdinand, während sie das Haus betraten, nun ganz ohne Pathos. „Auf der letzten Baustelle hätte Fred die beinahe in die Pfanne gehauen.“
„Ah, stimmt, der große Hunger der Kiffer ist wahrlich zu fürchten“, gluckste Kurt, ehe er ebenfalls ernst wurde. „Und keine Bange, die drei Jungs sind mittlerweile geschlüpft. Sobald sie ausgewachsen sind, kann ich den FIAT in der Garage lassen.“