Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Se-Jin rannte so, als gäbe es kein Morgen; denn wenn er erwischt werden würde, dann gäbe es für ihn tatsächlich kein Morgen mehr. Hastig, überstürzt setzte er einen Fuß vor den anderen und hoffte inständig, dass er es schaffen würde. Hier draußen, im Niemandsland der Demilitarisierten Zone, würde für viele Tage niemand seine Leiche finden, es sei denn, einer seiner Landsleute wäre der Schütze. Er konnte sich nicht sicher sein, dass tatsächlich niemand hier herumstreunte, viel wurde gesagt und nicht alles stimmte. In der verwilderten Landschaft, in der er jederzeit befürchten musste, auf eine Tretmine zu stehen, konnte er in der mondlosen Nacht kaum etwas anderes als gespenstischen Schemen erkennen. Das Seitenstechen machte sich wieder bemerkbar, doch noch gab er nicht auf, denn hinter ihm lagen Gefängnis, Folter und der sichere Tod – vor ihm war die Freiheit, das versprochene Paradies. Bevor Se-Jin den Gedanken weiterverfolgen konnte, verhakte sich sein Fuß in etwas und er klatsche der Länge nach auf den Boden. Eine aufgescheuchte Eidechse huschte panisch davon, während er den Schmerzensschrei unterdrückte und sich im selben Augenblick fragte, ob er sich den Knöchel gebrochen hatte.
Kyu stapfte in düstere Gedanken vertieft durch die verwaiste Gegend und jeder Schritt fühlte sich so endgültig an, als ob es sein letzter wäre. Er hatte eine ziemlich genaue Ahnung davon, was ihn erwarten würde, doch es gab nichts, was ihn jetzt noch von seinem Weg abbringen konnte. Er dachte an den Vortag zurück, als er auf dem Rücken gelegen und die Regentropfen auf dem Dachfenster seiner Wohnung dabei beobachtet hatte, wie sie unablässig nach unten rannen. Sein Leben war sauber, ordentlich gewesen und er hatte alles gehabt, was er sich als moderner Mensch nur hätte wünschen können. Doch alle moderne Technik, die sein Leben vereinfacht hatte, konnte ihn nun nicht mehr davon schützen, versehentlich auf eine dieser vermaledeiten Minen zu treten und in Stücke gerissen zu werden. Doch er ging weiter vorwärts, unaufhaltsam auf den Norden zu, so als gäbe es kein Morgen.
Se-Jin röchelte und versuchte die aufkeimende Panik zu unterdrücken und sein Bein zu bewegen. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Knöchel, doch es gelang ihm – wahrscheinlich war er wenigstens nicht gebrochen. Vorsichtig und das Resultat fürchtend versuchte Se-Jin aufzustehen und er hatte das Gefühl, dass sein Knöchel dabei unglaubliche Schmerzeswellen durch sein Nervensystem sandte, doch er konnte stehen. Er durfte jetzt nicht aufgeben, noch immer lagen zwei Kilometer vor ihm, denn wenn er die Strecke richtig einschätzte, wäre er ziemlich genau auf der Demarkationslinie gestürzt. Mit einer verbissenen Entschlossenheit kämpfte er sich weiter, wenn auch das Fortkommen zu einer Qual wurde. Er konnte und wollte um keinen Preis zurückgehen und die Angst trieb ihn weiter, aufgeben kam nicht in Frage. Se-Jin war noch nicht viel weiter gekommen, als er in der Nähe ein Rascheln hören konnte und sofort erstarrte. Genauso gut hätte das Blut in seinen Adern einfrieren können, er versuchte kein Geräusch zu machen, ja nicht mal richtig zu atmen. Er konnte nicht wissen, wer oder was sich da in den Büschen herumtrieb, es hätte sein Retter oder auch sein Mörder sein können.
Kyu dachte daran zurück, wie er vor einigen Tagen in das Büro seines Vorgesetzten zitiert worden war. Schon der besorgte Blick der Sekretärin hatte ihm verraten, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung sein konnte. Als ihm sein Chef schließlich verraten hatte, was seine Aufgabe war, hatte er ihn für einen Moment mit offenem Mund angestarrt, bevor er sich wieder seiner Manieren besonnen hatte. „Sie verlangen was von mir?“, hatte Kyu entgeistert gefragt. Nichts hatte sich verändert, diese Sache war kein böser Traum. Kyu, ein Programmierer, der keinerlei militärischen Kenntnisse hatte, marschierte nun durch die Demilitarisierte Zone stetig auf den Norden der koreanischen Halbinsel zu, dem letzten Ort auf der Welt, an dem er sein wollte. Sie würden ihn, falls er es denn über die Grenze schaffen sollte, nicht ausfindig machen können, dazu waren seine Papiere gut genug gefälscht worden. Und falls er erwischt werden würde, könnte er noch immer seine Dokumente wegwerfen und behaupten, ein politischer Flüchtling zu sein. Doch wie er schließlich an die Datenbank herankommen sollte, war ihm nach wie vor ein Rätsel. „Ihnen wird schon was einfallen“, hatte sein Vorgesetzter Kyus Skepsis zu zerstreuen versucht. Und das war ihm auch hervorragend gelungen, dachte sich der unfreiwillige Spion sarkastisch, während er weiterging. Etwas machte ihn stutzig – er hätte nicht einmal sagen können, ob es ein Geräusch gewesen war oder nur ein Gefühl, doch Kyu hielt in seinem Marsch inne und lauschte angestrengt.
Se-Jin hatte mehr als eine Minute gewartet, doch er konnte beim besten Willen nichts hören. Wahrscheinlich war es nur ein Tier gewesen, das sich im Unterholz herumgetrieben hatte, überlegte er, doch nichtsdestotrotz rappelte er sich möglichst vorsichtig auf und humpelte so leise er konnte weiter. Er versuchte nur an sein Ziel zu denken, sich darauf zu konzentrieren und nicht stehen zu bleiben, denn jeder Schritt brachte ihn näher an ein Leben in Freiheit. Er glaubte, jeden Augenblick etwas in der Dunkelheit erkennen zu können, etwas das die Ankunft im Paradies versprach, doch es wollte ihm nicht gelingen. Dann, ganz unvermittelt, tauchte der Mond hinter einer Wolke auf und überflutete die Landschaft mit seinem kalten Licht. Se-Jin konnte keine zehn Meter neben sich eine menschliche Silhouette erkennen und Panik ergriff Besitz von ihm. Trotz der unglaublichen Schmerzen rannte er los und schaute nicht mehr zurück.
Kyu harrte schweigend aus, auch wenn er annahm, dass es nur das Rascheln des Windes in den Büschen gewesen war. Doch er wollte kein Risiko eingehen, wollte um keinen Preis entdeckt werden. Erst war nichts zu hören, doch nach einiger Zeit glaubte er das Geräusch von Schuhen auf dem Boden vernehmen zu können, das auf ihn zukam. Er hielt den Atem an, dann konnte er im Mondlicht eine Gestalt erkennen, die ziemlich nahe zu sein schien und eine ruckartige Bewegung machte. Kyus Magen verkrampfte sich und geduckt huschte er voran und hoffte verzweifelt, dass ihn der andere nicht gesehen hatte.