Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Betty, hey“, wurde diese trällernd begrüßt, da tauchte Marianne auch schon hinter einem Stapel Stoffrollen auf und winkte ihrer Angestellten zu. „Du bist früh dran.“
Betty hatte sich nach anfänglichen Schwierigkeiten gut im Stoffladen eingelebt. Sicher, dieser Job war keineswegs das, was sie sich als Teenager für ihre Zukunft vorgestellt hatte, selbst als desillusionierte Mittdreißigerin hatte sie von einer magischen Wendung geträumt, die sie von der Hausfrau zur gefeierten Künstlerin oder Vorreiterin auf dem Feld der Quantenmechanik verwandeln könnte. Natürlich war dieses Wunder nicht geschehen und im Alter von achtundvierzig Jahren schloss sie langsam ihren Frieden damit.
„Ja, zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf“, erklärte sie ihr überpünktliches Erscheinen und deutete auf einen Ordner. „Sind das die neuen Muster?“
„M-hm.“ Marianne nickte ihren wild gelockten Kopf, bevor sie wieder hinter den Textilien verschwand. „Hab sie gestern Abend auf dem Heimweg abgeholt. Wie findest du sie?“
„Gut, gut“, murmelte Betty ohne in den dicken Hefter zu sehen. Bloß weil sie sich in ihr Schicksal fügte, als alternde, geschiedene Frau in einem schlecht besuchten Hobbyladen gestrandet zu sein, interessierte sie sich noch lange nicht für Stofffetzen. „Du“, holte sie ein wenig lebhafter aus, „geht Freitag in Ordnung?“
Marianne hievte fünf volle Stoffrollen auf die Arbeitsplatte, die mitten im Raum stand und kräuselte nachdenklich die Lippen. „Hm“, machte sie, Betty eindringlich betrachtend. „Was ist freitags noch gleich?“ Dass sich die Inhaberin des Lädchens mit dem wohlklingenden Namen „Der stoffgebende Woll-Strick-Bau“ nicht daran erinnern konnte, lag an Bettys Verschwiegenheit, denn ihr Privatleben hielt sie von Marianne fern. Über Termine bei der Kosmetikerin für ein übers Internet vereinbarte Blinddate sprach sie erst recht mit niemandem. „Ich muss zum Arzt“, log sie ihre Chefin routiniert an. Wenn es darum ging sich neben ihrem ohnehin geringen Arbeitspensum mehr Freizeit zu gönnen, war Betty skrupellos. „Zur Kontrolle“, erläuterte sie und griff sich einen Karton voller unsortierter Fadenspulen, um sie ins Regal zu räumen.
„Ja, also dann ist das kein Problem, die Gesundheit geht vor.“ Es gab viele Gründe, Marianne zu mögen, ihre Gutmütigkeit war ganz gewiss einer der offensichtlichsten.
Das Glöckchen über der Tür klingelte und Frau Brechthold trat ein, wie üblich adrett gekleidet, eine Designer-Handtasche am Arm baumelnd. „Guten Tag, die Damen.“
„Ach, Frau Brechthold, schön, Sie hier zu sehen. Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sich Marianne, kletterte aus dem Schaufenster und wischte sich die Hände am Rock ab.
„Es muss, Frau Singer, es muss“, erwiderte die Kundin lächelnd und marschierte zum Ständer mit den Schnittmusterheften. „Es bleibt viel vorzubereiten, wissen Sie, Greta ist ja bald soweit“, strahlte sie und fragte: „Habt ihr Häkelanleitungen für Babykleidchen?“ Das war Bettys Stichwort, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Hastig klaubte sie zwei Kuverts vom Tisch in der Büroecke und sagte: „Ich geh zur Post, soll ich dir was mitbringen?“
Eine knappe halbe Stunde später wog sich Betty in Sicherheit vor Gesprächen über Babys, also stopfte sie den Rest Croissant in den Mund, schluckte ihn unzerkaut hinunter und öffnete die Ladentür. Ihre Schätzung ging nicht auf, die beiden Frauen standen weiterhin neben dem Heftständer und diskutierten angeregt über Kreuzgitter, Picotnetz, Flechtmuster und … Babys. Betty wunderte sich oft, wie lange postnatale Depressionen eigentlich anhielten. Ihre Älteste war jetzt fünfundzwanzig, trotzdem hatte sich nichts geändert. Anfänglich hatte sie geglaubt, diese Phase früher oder später zu überwinden. Es folgte das zweite, dann das dritte Wunschkind und das Mutterglück blieb aus, obwohl sie sich genau nach diesem Leben gesehnt, es sich sorgfältig ausgewählt hatte. Anders als mit ihren verhinderten Träumen von Ruhm, Ehre und dem großen Geld hingegen, gelang es Betty nie, sich mit ihrer Rolle als Mutter zufriedenzugeben. Die bedingungslose Liebe, die Erfüllung, die Ehrfurcht, Betty lernte sie nie kennen, stattdessen funktionierte sie einfach in ihrer Rolle, führte apathisch ihre mütterlichen Pflichten aus und hoffte während jeder Sekunde, vielleicht eines Tages doch noch eine Beziehung zu ihren Sprösslingen zu entwickeln. Jedenfalls war ihr die Unterhaltung zwischen Marianne und Frau Brechthold ein Grauen, da diese vor lauter Baby-Vorfreude regelrecht sprühten und ihr einmal mehr ins Gedächtnis riefen, wie sie als Mutter versagte, sie wohl die einzige Frau auf Erden war, die es zutiefst bereute, Kinder zu haben.
„Betty, schau.“ Zögerlich schlenderte die Angesprochene zu ihrer Chefin hinüber, welche ihr zwei völlig unterschiedliche Häkelmuster unter die Nase hielt und wissen wollte: „Welches gefällt dir besser?“
„Leider reicht es nicht für beide, es geht bald los“, wandte Frau Brechthold von einem Fuß auf den anderen tippelnd ein.
„Äh, das hier ist verspielter.“ Sie deutete auf das linke Design. „Für Bernhard hatte ich sowas ähnliches, den Leuten gefiel es.“ Insbesondere ihr Exmann war von dem Strampelanzug richtig angetan gewesen, so sehr sogar, dass er ihn bei seinem Nacht-und-Nebel-Auszug mitgenommen hatte, als Andenken an bessere Zeiten, wie er meinte. Im Nachhinein war Betty klargeworden, die Affäre mit Fabio war ein Fehler gewesen, aber er hatte sie mit Versprechungen von Romantik und Abenteuer in Wallungen gebracht. Er schenkte ihr Blumen, eine Flasche mit Sand und Steinchen aus seiner Heimat, ging mit ihr schick essen und behandelte sie im und neben dem Bett wie die Göttin, die sie sein wollte. Kurz darauf war Fabio zur nächsten frustrierten Hausfrau und Leon, Bettys Mann, ins Hotel gegangen.
„Genau das dachte ich auch“, kicherte Marianne und just in dem Moment plärrte Bettys Klingelton aus der Handtasche.
„Mist. Entschuldigt bitte, ich mache es gleich aus“, flüsterte sie peinlich berührt sowie froh, dem Geschwätz über Babykleidung zu entkommen. Mit einem überaus neidischen Seitenblick auf Frau Brechtholds teure Louis Vuitton Handtasche, kramte Betty das scheppernde Gerät aus ihrem Designerimitat und witterte ihre Chance, sich ins Lager verziehen zu können. „Es ist Bianca. Darf ich?“
„Selbstverständlich, Liebes. Richte ihr einen Gruß aus.“ Marianne, zuvorkommend wie immer.
„Was willst du?“, brummte sie, eine langweilige Geschichte über den Beruf ihrer Tochter erwartend. Bianca war Lektorin bei einem winzigen Verlag und erzählte ständig irgendetwas über Tautologie, Korrigenda, Ligatur und den anderen unnützen Kram, mit dem sie kaum mehr Geld verdiente als eine Kellnerin im hiesigen Pub. Sie hätte Leons Alimente wahrscheinlich besser für eine hübsche Tasche ausgegeben, statt für Biancas Germanistikstudium.
„Hallo Mama“, tönte es kleinlaut aus dem Handy. „Du, hör mal, Mama. Laurent und ich haben Neuigkeiten.“ Laurent, der ewige Hippie-Student und Biancas langjähriger Freund, war Betty ein furchtbarer Dorn im Auge und es war nur soweit gekommen, weil sie Betty auf diese Abschlussreise hatte fahren lassen, wo es zwischen den zweien gefunkt hatte.
„Was ist denn?“, stöhnte sich lustlos. „Hat der Idiot endlich seinen Abschluss gemacht?“
„N… Nein, Mama. Wir sind schwanger!“
„Ach, wie schön“, gab Betty zurück und bereute es sofort.