Müde sitze ich im beinahe leeren Intercity-Wagen, strecke mich und mache mich dann daran, meinen Laptop zusammenzuklappen und in der Umhängetasche zu verstauen. Nur mit halbem Ohr lausche ich der Durchsage des Zugbegleiters, dass wir gleich pünktlich in Zürich eintreffen werden und dies der Endbahnhof sei, bevor er mit einer unendlich scheinenden Geduld alle Nacht-S-Bahn-Anschlüsse aufzählt. Ich habe es nicht eilig, muss keinen Anschluss mehr erwischen und werde gleich zuhause sein. Während Weiche um Weiche einen mehr oder weniger sanften Stoß durch den Wagenkasten schickt und ich unfreiwillig hin- und herwippe, schaue ich abwesend aus dem Fenster. Gerade überquert der Zug die Langstraße, eine helle und beinahe schnurgerade Schlucht quer durch die Stadt, die unzählige Clubs, Take-Aways und Bars in allen erdenklichen Farben erstrahlen lassen. Es ist Freitagnacht, oder besser Samstagmorgen um zwei Uhr und zumindest in dieser Ecke wirkt die sonst eher ruhige Stadt, als ob sie niemals schlafen würde.
Noch während ich aussteige plärrt der Lautsprecher, dass man bitte die Gleisänderung und die Verspätung der SN5 beachten solle, doch ich kümmere mich nicht weiter darum. Der Hauptbahnhof wirkt nicht mehr sonderlich belebt, jedenfalls nicht hier hinten beim Ausgang zur Sihlpost. Ich trete hinaus auf die Europaallee, die noch keine Allee sondern eine große Baumaschinen-Ausstellung ist, und gehe den Seitenwänden mit den farbigen Leuchtröhren entlang, welche dieser Ecke der Stadt einen kleinen Lichttupfer verleihen und die Straße dezent beleuchten, aber leider wohl bald verschwinden werden. Wenn ich offen sein soll, mag ich meinen Heimweg durchs Stadtviertel und hinein ins Bermudadreieck. Viele meiner Bekannten sind beunruhigt, wenn sie spät abends alleine zum Bahnhof gehen müssen und ihre Nerven scheinen spätestens bei der Abkürzung durch die schlecht beleuchtete Parkanlage blankzuliegen. Meistens habe ich dafür nur ein schwaches Grinsen übrig, denn das Langstraßenquartier ist nicht, oder nicht nur, was offenbar viele Besucher aus dem Rest des Landes sich darunter vorstellen und fürchten. Zürich ist eine sichere Stadt, und nein, man wird auch in diesem Quartier nicht an jeder Ecke von einem verrückten Messerstecher angegriffen, das kann ich als langjährige Beobachterin des Geschehens auf jeden Fall bezeugen, denn bisher wären mir keine mysteriösen Stichwunden in meinem Torso aufgefallen.
Ich bin bei der Militärstraße angelangt und warte an der roten Ampel, um eine skurril anmutende Karawane aus Hybrid-Taxen durchzulassen, die sich bei ihrer verzweifelten Suche nach Fahrgästen im Schritttempo bewegt, einem Raubtier gleichend, stets bereit, sich auf Beute zu stürzen. Mein Blick fällt auf einen Typen, der sich wohl unbeobachtet fühlt, während er wenige Meter neben einer öffentlichen Toilette auf den Bürgersteig uriniert. Ich krame in meiner Tasche nach Abfällen, mit denen ich ihn bewerfen könnte, finde jedoch nichts und gehe weiter, da die Ampel ohnehin grün geworden ist. Eine der Kehrseiten davon, in einem Ausgehviertel zu wohnen ist, dass manche Menschen ihren Anstand vergessen und in extremeren Fällen gar ihre Idiotie feiern. Doch ich habe gelernt, damit zu leben und mittlerweile hat sich sogar meine Zielgenauigkeit stark verbessert, da ich von meinem Wohnzimmerfenster aus Hinterhofpinkler zuweilen mit einer Gießkanne vertreibe und mir bei meinen Treffern die Geräuschkulisse und Grafik-Effekte von „Super Mario“ dazudenke.
Während ich mich auf die Hohlstraße zubewege, werden die Leute zahlreicher und betrunkener – das berühmte Bermudadreieck naht, das seinen Namen angeblich daher hat, weil dort immer wieder Kriminelle spurlos verschwanden. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die meisten von ihnen in einem der hellblauen Lieferwagen der Polizei gelandet sind und danach aus offensichtlichen Gründen für einige Zeit nicht mehr in der Lage waren, ihren dubiosen Geschäften nachzugehen. Aber ich habe es längst aufgegeben, mir über alte Quartierlegenden die Stirn zu zerfurchen und amüsiere mich stattdessen dabei, die Leute zu beobachten, denn die meisten sind durchaus unterhaltsam. Junge, halbstarke Männer, die trotz ihres erhöhten Alkoholpegels krampfhaft versuchen, cool zu wirken, schlendern oder stolpern über den Bürgersteig und ebenso junge Frauen, die so laut kichern wie in einer Sitcom, vervollständigen diese Stereotypenparodie. Diese Leute rotten sich zu oft geschlechtergetrennten Gruppen zusammen, die sich wie Schafherden vor den Nachtclubs ansammeln und dort den Türsteher wie einen allmächtigen Richter behandeln, der ein- für allemal klären wird, ob sie nun cool genug sind oder nicht. Natürlich gibt es auch die etwas älteren Barbesucher, die jedoch häufiger männlich und nicht selten sturzbetrunken sind und so auf irgendeiner Parkbank enden und den Tagesanbruch abwarten.
Doch nicht alle Besucher des Langstraßenquartiers kommen zum Trinken oder Tanzen her. Manche müssen ihre Zuckervorräte aufstocken und versuchen die damit verbundenen Geschäfte möglichst unauffällig und von den häufigen Polizeistreifen versteckt, in dunklen Seitengassen oder Hinterhöfen abzuwickeln. Eine etwas andere Form von Party suchen die meist nicht ganz so jungen Herren, die mit Damen in sehr kurzen Röcken verhandeln, nachdem sie ewig so getan haben, als würden sie nur der Straße entlangschlendern oder sich sinnlos an eine Hauswand lehnen und das bunte Treiben beobachten – das übertrieben inszenierte Paarungsverhalten der Freier würde sicher den einen oder anderen Hobbypsychologen zum Schmunzeln bringen. Manche dieser Männer haben aber doch gar schwarzweiße Vorstellungen von dem Quartier und so mag es nicht verwundern, dass auch ich schon das eine oder andere Mal zweideutige Angebote von Freiern bekommen habe. Die Frage, wie man darauf kommen kann, dass eine in Geschäftsklamotten, die eine Labtoptasche bei sich trägt, im Rotlichtmillieu arbeitet, liefert mir bis heute Stoff für den einen oder anderen Witz.
Natürlich ist die Artenvielfalt der Langstraße damit noch bei weitem nicht abgedeckt, denn als temporäres, nächtliches Ökosystem gleicht sie eher einem multikulturellen und generationenübergreifenden Mix, man sollte nicht die Motorradgangs oder die Gruppen von Einwanderern vergessen, genauso wenig wie die Geschäftsleute, deren Abendessen ein klein wenig länger gedauert hat als geplant. Und dazwischen, schon fast zum Erstaunen dieser turbulenten Meute, gibt es einige Individuen wie mich, die ihren Hund spazieren führen, ihre Einkäufe spätabends machen oder eben vom Bahnhof nach Hause gehen. Denn ja, liebe Freunde, so schockierend das jetzt klingen mag: In diesem Quartier wohnen tatsächlich Menschen!
Als ich endlich die Tür zu meiner Wohnung aufschließe wächst die Vorfreude, nach der langen Zugfahrt endlich duschen zu können. Ich trete in mein trautes Heim, das an eine Mischung aus einem Katalogbild eines schwedischen Möbelhauses und der Ausstellungsfläche eines Elektronik-Fachmarkts erinnert und öffne das Fenster zum Hof. Hier drinnen, inmitten des ganzen nächtlichen Trubels ist es meist ruhig, das Auge des Sturms. Solange bis frühmorgens eine Flotte Straßenputzmaschinen kommen wird, um den Dreck einer durchzechten Nacht und vielleicht auch noch die eine oder andere liegengebliebene Alkoholleiche wegzukehren und so die Straßen für ein anderes Publikum freizumachen. Und während die Betrunkenen sich langsam verkrümeln und später über ihren Kater jammern werden, werden wieder Galerie-Besucher, Geschäftsleute und Familien das Bild des Stadtviertels prägen, in dem nie vollständige Ruhe einkehrt.
Seit ich mit mehr Glück als Verstand in diesem Quartier, das von den Behörden nüchtern Aussersihl genannt wird, gelandet war, habe ich einiges über die Stadt gelernt. Ohne die Langstraße wäre die selbsternannt kleineste Metropole der Welt wohl keine echte Weltstadt und Worte wie „kosmopolitisch“ oder „global“ in diesem Zusammenhang bestenfalls eine Farce, wenn wir nicht gerade vom Bankwesen sprächen. Nachts und Sonntags sind bekannte Orte wie die Bahnhofstraße und der Paradeplatz teilweise derart leergefegt, dass man glauben könnte, jederzeit einer Horde gefräßiger Zombies gegenüberzustehen, die durch die postapokalyptisch anmutenden Straßen wandert, ein Bild, das erst durch ein verirrtes Taxi oder ein beinahe leeres Tram zunichte gemacht wird. Und gerade deshalb kann sich Zürich glücklich schätzen, dass die (eigentlich nicht besonders lange) Langstraße, vor der sich der eine oder andere fürchten mag, existiert und der Stadt auch da Leben verleiht, wo sie sonst keines hätte. Ich dagegen bin für den Moment froh, inmitten des Trubels etwas Ruhe zu haben und haste voller Vorfreude und unbändiger Gier zur Kaffeemaschine.
Hallo liebe fruehstuecksflocke,
Vielen Dank fürs Kompliment, das freut mich natürlich riesig :) Und ja, ich denke auch, wenn man den Lokalkolorit weglässt, kann man das Prinzip quasi auf jedes „Kietz“ anwenden, die sind ja eigentlich überall sehr ähnlich :) Aber ich musste fast etwas über mein „Bermudareieck“ schreiben, als ich die Titelvorgabe gesehen habe :)
Liebe Grüsse von den Clue Writern,
Sarah
Das ist wirklich eine Menge Lokalkolorit :O
Die Beschreibung des nächtlichen Wegs vom Bahnhof nach Hause ist aber gelungen – ich bin selbst oft nachts vom Bahnhof heim unterwegs. Zwar nicht in Zürich, aber ein ähnliches Bild bietet sich mir auch immer :)