Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es war einmal eine große dicke Hexe. So begann sie, die Gutenachtgeschichte, die meine Urgroßmutter meiner Großmutter, meine Großmutter meiner Mutter, dann meine Mutter mir erzählte. Das Märchen um die große dicke Hexe, die am Stadtrand in einem schiefen Häuschen mit etlichen Tieren zusammenwohnte, war immer mein liebstes gewesen. Jeden Tag stand die große dicke Hexe auf, streckte sich und turnte einige Übungen, bevor sie in den Stall ging, ihre sieben Hühner, die beiden Ponys und die Hundemeute fütterte. Nach all den Jahren kann ich mich kaum an den Rest der Geschichte erinnern. Ich weiß bloß, dass die große dicke Hexe, anders als andere Hexen, weder eine bösartige Figur war, die im Verborgenen ihre Tränke braute, noch eine engelsgleiche Erscheinung, mit dem Ziel, das Gute in die Welt zu tragen. Nein, die große dicke Hexe war, das ist mir bis heute geblieben, eine schlichte Person, die sich rührend um ihre Viecher kümmerte und wenig Geduld für menschliche Besucher übrighatte. Wahrscheinlich war die große dicke Hexe gar keine Hexe, sondern viel eher ein großes dickes Frauenzimmer, das sich ihren Flecken Erde so eingerichtet hatte, wie es ihr eben gefiel.
Schon als ich noch ein kleines dünnes Mädchen gewesen war, hatte ich mir nichts inständiger gewünscht, als irgendwann selbst ein kaputtes Haus am Ende einer Einbahnstraße zu kaufen und dort mit einer Menagerie aus Hühnern, Pferden, Hunden und einem alten Schwein namens Karlheinz zu leben.
Doch es kam, wie es meistens komme musste mit Kinderträumen. Mein Pfad führte mich Schritt für Schritt in eine andere Richtung, eine, in der keine Hühner, keine Hunde und keine Hexen auf mich warteten. Je älter ich wurde, desto seltener dachte ich an die große dicke Hexe, nur hin und wieder fiel sie mir ein. Wenn ich einen besonders anstrengenden Schultag, ein langweiliges Meeting oder einen ganz fürchterlichen Streit mit meinem Mann hinter mir hatte, da sinnierte ich manchmal, wie es der großen dicken Hexe in ihrer Märchenwelt so ginge. Ja, das waren die Momente, in denen ich mich in die Zeit zurück sehnte, in mein Kinderbett mit dem Sessel nebendran, in dem meine Mutter jeweils in eine Decke eingehüllt gesessen war und mir vorgelesen hatte. Wahrscheinlich hätte ich das ebenfalls getan, meinen Kindern von der großen dicken Hexe berichtet und vielleicht wäre eine weitere Generation dem Charme der einsamen Hütte außerhalb des normalen Alltags verfallen. Aber auch das war nicht zu meinem Weg geworden. Nach meiner Urgroßmutter, Großmutter und meiner Mutter endete die Linie aus Gutenachtgeschichtenerzählerinnen mit mir.
Wir hatten es lange probiert, getan, was in unserer Macht stand, dabei jede erdenkliche Prozedur über uns ergehen lassen und unter Tränen drei farbenfrohe Urnen auf den Kaminsims gestellt. Bis mein Mann eines Abends die perfekte Lösung für sich gefunden und mit einer anderen Frau ein Kind bekommen hatte. Zu gerne nähme ich ihm übel, was ich selbst genauso getan hätte, hätte sich mir die Möglichkeit geboten. In meinem Fall gab es kein glückliches Ende, Vorfreude war zu Hoffnung, Hoffnung zu Verzweiflung und Verzweiflung schließlich zu Resignation geworden. Nach mir käme keiner, der zum Einschlafen die Fabel von der großen dicken Hexe lauschte. Und während um mich herum Familien entstanden, lächelnde Gesichter fröhliche Botschaften überbrachten und stapelweise Karten mit Fotos winziger Menschen in meinem Briefkasten landeten, packte er endgültig seine Sachen. Mit dem Abbau der Babykrippe im überflüssig gewordenen Zimmer verabschiedete ich mich von einem weiteren meiner Träume. Übrig blieb nichts weiter als die Wut, Ohnmacht und Trauer gegen mich selbst zu richten, also fraß ich. Ja, ich fraß und fraß mit vom kleinen dünnen Mädchen zum kleinen dicken Weib, wuchs heran zu einer gar krummen Gestalt, die sich das Träumen verbot und stetig weniger Nachsicht für ihresgleichen aufbrachte.
Um den leeren Raum im marode gewordenen Kleinfamilienhaus nahe des Waldrands besser zu ertragen, zog ein inkontinenter Border Collie ein, der seine Dienste beim Schäfer getan hatte. Ein Weilchen später folgte ein stummer Kanarienvogel, die zum Mausen zu alt gewordenen Katzen, zwei ausrangierte Springpferde und bald schon wurde mein Reich von allerlei Geschöpfen bereichert, die eine Bleibe brauchten. Zu Anfang hatte es sich halt so ergeben, keinen einzigen Gedanken hatte ich daran verschwendet, in welche Bahnen ich mein Leben lenkte. Im Hinterkopf brodelten die Gefühle, die Scham, die Enttäuschung und der Zorn kochten in mir; erst heiß, dann warm, schließlich kühlten sie ab und schwappten lauwarm vor sich hin. Trotzdem gelang es mir nie, meinen Frieden zu finden, ich suchte unentwegt nach etwas, das meinen Schmerz linderte, einem Zeichen, das mir sagte, ich wäre endlich angekommen. Als ich dann eines morgens in aller Herrgottsfrüh vor dem Hühnerstall wischte, lachte ich auf, drückte den Besenstil an die Brust und wirbelte herum, weil mir gerade danach war. Ich entdeckte mein Spiegelbild im verstaubten Glas des Schuppenfensters, winkte mir selbst mit dem Besen in der Hand zu und da sah ich sie, die kleine dicke Hexe. Die kleine dicke Hexe, die in Wirklichkeit gar keine Hexe war, sondern einfach eine kleine dicke Frau, die sich ihren Flecken Erde so eingerichtet hatte, wie es ihr eben gefiel.