Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Eugene“, seufzte Reyna schwer atmend und drehte sich auf den Rücken. Die Hitze ihrer Körper wärmte den Raum in den Zwischenwänden. Das Geheimzimmer war gerademal einen knappen Meter breit, reichte dafür vom ersten Stock bis unters Dach und wand sich hinter der Bibliothek entlang bis zur Küche. „Ach, Eugene, ich wünschte wir müssten nie weg.“ Der Angesprochene wischte sich zufrieden murrend Schweiß von Hals und Brust. Ihre Liebelei hielt schon einige Wochen an und Eugene hoffte, dass daraus eine ernsthafte Beziehung werden könnte.
„Ja“, murmelte er schließlich und strich ihr eine erdbeerrote Locke aus dem Gesicht. „Ja, das wäre schön. Zu schön.“ In der Regel blieb die Gruppe maximal zwei Wochen an einem Ort, wer den Biestern entkommen wollte, konnte es sich nirgends gemütlich machen. Das Nomadenleben setzte ihnen zu, Herbert kränkelte und die Villa, die auf einer einsamen Stelle im Wald stand, war ihnen gelegen gekommen. „Wer das wohl gebaut hat?“ Ihm war das lose Brett im Furnier aufgefallen, als er am Vortag mit Attila einige Vorräte aus dem Keller hochgetragen hatte, einer der Balken im Flur ragte um wenige Millimeter weiter vor. Schade, war der Durchgang zu diesem Schlupfloch so lange unentdeckt, denn sie planten übermorgen abzureisen, sich weiter oben in die Berge zurückzuziehen.
„Bestimmt wohnte eine große Familie hier, so riesig wie das Haus ist.“ Reyna streckte sich ausgiebig, setzte sich dann auf und streifte sich ihren Slip über, der zwischen die Decken geraten war.
„Familie klingt plausibel.“ Eugene gähnte. „Wer auch immer diese Kammer gebaut hat, hatte einen guten Grund sich zu verstecken.“ Er schmunzelte sie an, sie grinste und beide kicherten halbherzig, bevor sie verstummten und wegsahen. Am Anfang waren sie viele gewesen, doch die Biester hatten sich einen nach dem anderen geholt, bis nur Eugene, Reyna, Herbert, Galiana, Annika und Attila übrig waren. Jeder von ihnen wünschte sich, noch eine Familie zu haben, vor der sie sich verstecken könnten.
„Glaubst du“, unterbrach Reyna die betretene Stille, „die anderen haben den Truck fertig beladen?“
„Bezweifle ich. Mensch, warst du eigentlich mal im Keller?“
„Nein, in der Speisekammer bei der Personalküche“, erwiderte sie in die Richtung deutend, in der sie den Vorratsraum vermutete.
„Die Leute waren auf das Ende der Welt vorbereitet, da unten gibt es echt alles“, meinte er anerkennend. „Dosen, Eingemachtes, Milchpulver, Decken, Medikamente, Zigaretten, alte Modehefte, Büchlein für Kinder … einfach alles. Wir bräuchten einen Gabelstapler, um das Zeug in den Nissan zu bekommen.“
„Was ist mit Batterien?“, fragte Reyna und schlüpfte in ihren Sport-BH. „Könnten wir gut gebrauchen.“
„Alle abgelaufen. Länger als zehn Jahre hält sowas nicht.“ Ab und zu wunderte er sich über Reynas Arglosigkeit.
„Kann man die aufladen?“, schlug sie vor und er schüttelte den Kopf. Der erste Kontakt mit diesen Bestien lag nun über zwei Dekaden zurück, wer nicht schnell lernte, wie man auf der Flucht überlebte, war chancenlos. Natürlich gab es unzählige Möglichkeiten – einige wurden zu Meister der Tarnung, andere blutrünstige Kämpfer – außer Reyna kannte er allerdings niemanden, der sich ein Stück kindliche Naivität bewahrt hatte. Die anderen meinten, sie sei nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen, aber Eugene liebte sie dafür, selbst wenn es bedeutete, dass er und die anderen ein Auge auf sie werfen mussten, damit sie auf keine gefährlichen Ideen kam. So wie neulich, an der Tankstelle …
„Was war das?“, flüsterte sie und kroch zu Eugene, der sie fest an sich drückte. Ein leises Surren drang zu ihnen, wenig später polterte es auf dem Dach, als die ersten Biester aus ihren Transportpods hüpften. „Sie sind es. Oh nein. Nein, nein, nein.“ Die Stimmung war in einem Sekundenbruchteil gekippt, Panik überkam sie und Eugene ermahnte: „Ruhig, ruhig. Wir müssen ruhig sein.“ So sehr es zur Routine geworden war, jede Begegnung mit den Biestern wurde zum Spiel mit ungewissem Ausgang.
„Nein, oh nein“, stammelte Reyna, kroch auf allen Vieren in die hinterste Ecke des Zimmers und wimmerte.
„Reyna, bitte, beruhige dich“, beschwor er sie ihr folgend. Bei ihr angekommen, kauerte er vor sie hin und hielt sie bei den Schultern. „Reyna, hier drin sind wir sicher, solange wir still sind, werden sie uns nicht finden. Okay?“ Zaghaft nickte sie, da begann es.
Galiana war die erste, die schrie, wahrscheinlich war sie damit beschäftigt gewesen, die Wäsche von den Leinen zu sammeln und hatte es nicht rechtzeitig in einen Unterschlupf geschafft. Ihr Klagen kam gedämpft durch die Mauern der Villa, formte ein verzerrtes Bild von dem, was gerade geschah. Reyna wippte vor und zurück, hielt ihre Knie umschlungen und schluchzte erstickt. Indes richtete Eugene sich auf, blickte von Reyna zur Tür, dann wieder zu Reyna, die ihn verängstigt anschaute. Jeder der Gruppe brachte Fähigkeiten mit, die das Überleben der anderen sicherte. Galiana zu verlieren, war ein besonders harter Schlag, sie war die einzige mit medizinischen Kenntnissen. Sie würden die Krankenschwester nie wieder sehen, ihre Stimme war zu einem Krächzen verklungen, die Biester hatten sie eingefangen, sie in ihre langen dürren Beinchen gewickelt und ihren Stachel Galianas Rachen hinunter gestoßen. Sie legten ihre Eier in die Menschenhüllen, hatten auch Eugenes Mutter als Inkubator missbraucht, Reynas Schwester …
„Reyna“, holte er aus und starrte sie dabei eindringlich an. „Reyna, kannst du hier bleiben, mucksmäuschenstill? Reyna?“ Sie zuckte zusammen, wollte antworten, als jemand durch den Flur rannte. Schwere Stiefel schlugen auf die verrottenden Bodendielen, das Klimpern von Schlüsseln verriet ihnen, dass es Attila war. „Reyna!“ Schritte einer zweiten Person waren zu hören, die klangen leichter, kürzer. „Annika“, sagte Eugene zur Tür schielend, bevor er seine Geliebte sanft schüttelte und erklärte: „Ich gehe raus. Du wartest, bis alles vorbei ist und…“
„Nein, lass mich nicht allein“, flehte sie ihn an, krallte sich regelrecht an ihn. „Bitte, bitte lass mich nicht alleine!“
„Schatz. Schatz, ich kann Attila nicht im Stich lassen, Annika und Herbert sind ihm keine Hilfe, wenn … ich muss gehen.“ Er wurde schlaff, innerlich zerrissen lehnte er seine Stirn gegen ihre, bis ein Gurgeln ertönte, ein kehliges Keuchen, das eindeutig von Attila stammte, begleitet von einem schleifenden Geräusch, als die Biester seine Hülle abtransportierten.