Das Gemälde hing seit ihrer Kindheit an derselben, von Fliegenkot gepunkteten, holzgetäfelten Wand. Trotzdem musste Mara es jedes Mal für eine gefühlte Ewigkeit ansehen, wenn sie ihren Urlaub in der Berghütte ihrer Familie verbrachte, von der sie das letzte noch lebende Mitglied war. Da wanderte sie durch den Wald, über Wiesen und entlang der kühlenden Bergbäche, um der Hitze der Stadt mit ihren verschwitzten Menschenmengen zu entkommen, nur um dann auf ein Bild im Wohnzimmer zu starren. Die Ölfarbe wies längst Altersrisse auf, wirkte ausgebleicht oder von Staub bedeckt, ganz sicher war sie sich nicht. Vor ihr begannen die Linien vom langen Starren zu tanzen und das Gemälde zerfloss zu einem abstrakten, unverständlichen Muster vor einem braun fleckigen Hintergrund.
Entschlossen wandte sich Mara von dem Bild ab, schüttelte den Kopf und schmollte: „Na großartig, jetzt werde ich schon senil.“ Sich einen Ruck gebend schritt die Mittvierzigerin in Richtung der Küche davon, eine Dose Rotkraut und Salzkartoffeln wären jetzt genau das Richtige.
Die Nacht war über dem Gebirge hereingebrochen und ein Gewitter entlud sich lautstark über der Hütte. Blitze erhellten nahezu im Sekundentakt die Schwärze, der Regen hämmerte gegen die alten, einfachverglasten Fenster. Mara hatte es sich auf der Couch unter einer hellblau ausgebleichten Wolldecke bequem gemacht, beobachtete dazu abwesend das im Kamin prasselnde Feuer. Sie befürchtete zwar, der Sturm könnte Glut auf den Teppich wehen und das Haus in Brand setzen, entschloss sich aber dagegen, das Feuer auszumachen, da der Strom vor einer halben Stunde ausgefallen war und sie nicht die geringste Lust hatte, alleine im Dunkeln zu sitzen.
Es fiel Mara schwer, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, all die Intrigen, Liebesgeschichten und Morde zwischen den Buchdeckeln erschienen ihr momentan unverlockend, ja fade, stattdessen wanderte ihr Blick wieder zu dem Gemälde, das an der vom Kamin abgewandten Wand zwischen zwei Fenstern hing. Es fesselte sie, hielt sie fest und erfüllte sie manchmal mit einem leichten Gruseln; bis heute hatte sie nicht festmachen können, woran das lag. Das Portrait zeigte ihren Großvater, der mehrere Jahre vor ihrer Geburt bei einem Arbeitsunfall im Sägewerk ums Leben gekommen war. Mom hatte ihr nie erzählt, was genau passiert war, jedoch ging sie davon aus, es sei ein ziemlich grausamer Tod gewesen. Auf dem alten Bild saß er einfach nur in seinen Sonntagskleidern da, vor einem hölzernen Tisch mit Fruchtschale, er sah die Betrachter seinerseits an. Mara glaubte, in seinen Augen, die vom schummrigen, unsteten Licht des Kamins zu tanzen schienen, Leben zu erkennen und begriff zum ersten Mal, wieso sie dieses Bild derart in seinen Bann zog: Es waren sein Augen, die beängstigend lebensnah wirkten, seine Augen, die sie musterten.
Mara glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod oder an Geister, es war etwas anderes, vielleicht das Wissen darum, mit diesem Mann verwandt zu sein und trotzdem keine seiner Erfahrungen zu teilen. Er hatte sie nie aufwachsen sehen, nie die Chance gehabt, seine Enkelin zu treffen und auch ihr war diese Möglichkeit verwehrt geblieben. Irgendwann war dieses Bild des Großvaters stellvertretend dafür geworden, was hätte sein können oder was sie sich vorstellte, das gewesen war. Sie malte sich aus, was der alte Herr gedacht hatte, ob er ein Morgen- oder Abendmensch gewesen war, was sein Lieblingsgericht gewesen sein mochte, wohl wissend, dass sie nur spekulieren konnte. Es gab so viele Fragen, die sie nie gestellt hatte, die sie nun nicht mehr stellen konnte, weil niemand mehr lebte, der eine Antwort auf sie kannte.
Ein weiterer Blitz zuckte durch die Nacht, abstandslos gefolgt vom Donnerschlag, der zwischen den Felsen widerhallte. Mara fuhr zusammen, begann zu grübeln, ob die Hütte einen Blitzableiter hatte. Als ob das Gewitter das Stichwort dazu geliefert hatte, ertönte ein Klopfen und gedämpftes Rufen von der Tür.
Nervös hatte Mara mit sich gerungen, sich gefragt, wer denn um diese Uhrzeit draußen im Regen unterwegs sein mochte. Ein Teil von ihr hatte gegen eine irrationale Angst, genährt aus vielen Horrorfilmen, ankämpfen müssen, ehe sie sich dazu durchgerungen hatte, die Klinke zur Hand zu nehmen.
Der durchnässte Fremde wirke abgekämpft und müde, vermutlich hatte er eine lange Wanderung hinter sich, worauf auch sein großer Rucksack schließen ließ. Er war etwas jünger als sie, ein sportlicher Mann, der trotz der Erschöpfung ein schüchtern-höfliches Lächeln zustande brachte. „Guten Abend. Dürfte ich wohl ans Trockene kommen?“
Bevor Mara antworten konnte, schwirrte ein verirrtes Insekt an ihrer Stirn vorbei ins Innere. Sie begann zu lachen: „Im Gegensatz zur Motte hast du wenigstens gefragt.“ Zuversichtlich, der Neuankömmling wäre wohl kaum eine Gefahr, bat sie ihn mit einer Geste herein. Erst, als er über die Schwelle getreten und Regenjacke sowie Rucksack abgelegt hatte, stellte die Frau sich vor: „Ich bin Mara, freut mich.“
„Cecil.“ Er schüttelte sein Haar aus, als wäre er ein nasser Hund. „Ich hätte wohl besser auf den Wetterbericht achten sollen.“ Maras Befürchtungen waren verflogen, dieser verirrte Hobby-Wanderer war sympathisch, sicherlich kein bisschen bedrohlich.
Die Atemnot schnürte Maras Kehle zu, panisch fuhr sie aus dem Bett hoch und versuchte, zu verstehen, was um sie herum geschah. Ihre Gedanken überschlugen sich, drehten sich im Kreis, erst glaubte sie, jemand versuchte sie zu ersticken, bis sie im Licht des Morgengrauens, das durch den Vorhang fiel, niemand im Raum ausmachen konnte. Dann fiel ihr der Rauch auf, der unter der Schlafzimmertür in den Raum quoll und sie sprang hektisch aus dem Bett. Hatte ihr Couchgast etwa das Haus angezündet? Wieso verließ sich Mara stets ausschließlich auf das Gute im Menschen, schalt sie sich. Im Nachthemd stolperte sie auf den Gang, wo der Qualm bedeutend dichter war, auf ihren Netzhäuten ätzte. Als sie ins Wohnzimmer gelangte, konnte sie sogleich das Feuer sehen, das die ganze Wand mit dem Kamin eingenommen hatte und in Kürze beim Ausgang angelangt wäre. Da verstand sie: Es war nicht Cecil, der weiterhin entspannt auf der Couch schlief, sondern der Kamin, ihre ursprüngliche Befürchtung war wahrgeworden. Mara rannte zum Sofa, begann hektisch an Cecil zu rütteln, der nur langsam aufwachte. Sie erinnerte sich, dass er am Vorabend eine Tablette eingenommen hatte, vielleicht war es ein Schlafmittel gewesen. Zunehmend panisch zerrte sie an ihm, schrie ihn über das Knistern der Flammen an, gefälligst aufzustehen. Endlich wurde er klar im Kopf, rappelte sich hoch und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Ausgang. Der Rauch wurde immer dichter, Flammen leckten an dem Holzrahmen hoch, aber mit letzter Kraft schaffte Mara es, die Tür aufzureißen und in den kühlen Morgen hinauszutreten. Sie machte einige Schritte vom Gebäude weg, ehe sie sich umwandte; Cecil stand dicht hinter ihr, offenbar hatte er sich auf dem Weg seinen Rucksack gegriffen. „Verdammt, das war knapp“, keuchte er, das Gepäckstück achtlos auf den Boden werfend. „Da haben wir noch einmal Glück gehabt.“
Mara liefen kalte Schauer den Rücken hinunter, als ihr etwas einfiel. „Das Bild!“ Sie setzte dazu an, ins Innere zurückzukehren, doch Cecil bekam ihr Handgelenk zu fassen und hielt sie zurück. „Es ist zu spät, das ganze Haus brennt, das ist viel zu gefährlich!“
Mittlerweile leckten Flammen aus der Türöffnung und den geborstenen Fenstern, Funken stieben gegen den in helles Morgenrot getauchten Himmel. „Du hast Recht“, seufzte sie, setzte sich auf einen Stein, um dabei zuzusehen, wie alles, was ihr von ihrem Großvater geblieben war, in Flammen aufging. „Die Lebenden haben Vorrang.“
„Hä?“, fragte Cecil, dem der Zusammenhang ihres Gemurmels fehlte. Mara würde es ihm erklären müssen, sie war nicht der Typ Mensch, der Sätze mit „Ach, ist unwichtig“ beendete. Während sie an etwas anderes zu denken versuchte, als daran, wie sie barfuß vom Berg herunterkommen sollte, starrte sie machtlos auf das Feuer, das nach und nach die ganze Berghütte verschlag. Vielleicht brauchte sie gar nicht das Gemälde, um sich die Geschichten auszudenken, sondern nur sich selbst.