„Guten Tag Frau Blum.“ Die Angesprochene lächelte höflich und beteiligte sich kurz am üblichen Smalltalk, bevor sie sich von Eva verabschiedete und hinter dem Gemüseregal verschwand. Das Propagandaplakat und die übergroße Nationalflagge im Schaufenster des Dorfladens gingen ihr nicht aus dem Kopf und ihr wurde etwas mulmig bei dem Gedanken daran, dass die Partei in den letzten Monaten in ihrer kleinen Gemeinde so viel Zuspruch gefunden hatte. Trotzdem wollte sie nicht an das Schlimmste glauben und deutete es als gutes Omen, dass sogar die Frau des Bürgermeisters ihr noch gut gesinnt war.
„Guten Tag Frau Blum“, flötete ihr die junge Angestellte entgegen, als sie nach einer Tütensuppe griff, welche sie etwas beschämt unter den frischen Lauch schob. „Guten Tag“, erwiderte sie und schenkte dem Mädchen ein wohlwollendes Kompliment zu ihren schön geflochtenen Haaren. Sie wollte aus Routine den teuren Rindsbraten kaufen, den sie wie jeden Montag auftischen wollte, entschloss sich dann aber etwas widerwillig um und machte einen großen Bogen um die Fleischertheke des Ladens. Die Wirtschaftskrise hatte sie alle hart getroffen und sie konnte es sich bei der aktuellen Stimmungslage nicht leisten, dass man sie um ihr Geld beneiden würde. Also schritt sie mit gerümpfter Nase zu dem Regal mit den Dosenprodukten, sah sich etwas verloren um und versuchte, die am wenigsten widerwärtige Speise zu finden.
„Guten Tag Frau Blum, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Weil sie die Frau des Ladenbesitzers, Frau Meissner, nicht hatte kommen hören, zuckte sie kurz zusammen, lächelte ihr Gegenüber dann entwaffnend und sagte leise: „Nun, was können Sie mir denn empfehlen?“ Es war ihr wahnsinnig unangenehm, hier vor dem Fertigproduktregal angetroffen zu werden, doch es war mit Sicherheit besser, als mit einem luxuriösen Stück Fleisch durch den Dorfladen zu schlendern und von allen damit gesehen zu werden. „Ich kenne mich damit nicht so aus“, fügte sie verlegen an und hoffte auf Frau Meissners Diskretion.
„Ach was“, meinte die ältere Dame und winkte Frau Blums Unsicherheit mit einer gutmütigen Geste ab. „Wieso probieren Sie nicht den Linseneintopf, der passt hervorragend zum Rinderbraten“, schlug sie dann vor und Frau Blum war sich nun nicht mehr so sicher, ob sie diese Unterhaltung als freundliches Beratungsgespräch, oder als subtile Anschuldigung deuten sollte. Verunsichert bedankte sie sich für den Ratschlag, packte demonstrativ vier Dosen Linsen ein und merkte betont beiläufig an, dass es bei ihnen Zuhause vorerst nur Eintopf geben würde. Sie wollte ein Gespräch darüber, dass das Geschäft ihres Mannes trotz der schlechten Finanzlage in ruhigen Gewässern segelte, unbedingt vermeiden. Denn obwohl der ewige Kondensationszyklus der Gerüchteküche ohnehin dazu führen würde, dass das Geschwätz irgendwann erkalten würde, sollte besonders in Krisenzeiten nie ein Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum gemeinen Volk aufkommen.
Im hinteren Teil des Dorfladens waren neuerdings essentielle Überlebensprodukte, wie haltbare Grundnahrungsmittel, Taschenlampen, Wasserbehälter und Wolldecken, ausgestellt, zusammen mit diversen Werbeprospekten eines lokalen Waffenhändlers. Frau Blum lief bei dem Anblick ein kalter Schauer den Rücken herunter und sie mochte gar nicht daran denken, mit welchem Hintergedanken diese Dinge dort platziert worden waren. „Meine Güte“, flüsterte Frau Blum zu sich selbst und entfernte sich dann kopfschüttelnd von der ihr suspekt erscheinenden Auslage, um noch einige Liter Milch in ihren Einkaufswagen zu stellen.
„Guten Tag Frau Blum, Sie sehen heute aber gut aus“, sagte der Herr Pfarrer lautstark, bevor er einen Schritt auf sie zumachte, sie dezent am Ärmel packte und etwas auf die Seite, in den Putzmittelgang, schob. „Hören Sie, ich war gestern am Parteitreffen“, begann er geheimnisvoll und blickte aufgeregt in beide Richtungen, um zu sehen ob sie beobachtet würden. „Ich begebe mich selbst in eine prekäre Lage, wenn ich Ihnen das sage, aber…“ Nun wurde Frau Blum sichtbar nervös und klickte aufgeregt mit dem Druckverschluss des Kugelschreibers, welchen sie an ihre Einkaufsliste geklemmt hatte. „Ich glaube es wäre besser, wenn sie und ihr Mann sich eine andere Bleibe suchen würden, irgendwo, wo es nicht so viele Menschen hat. Sie wissen schon, nur zur Sicherheit.“ Die junge Ehefrau schluckte leer und sah dem Pfarrer der Gemeindekirche entsetzt in die, von sanften Falten umspielten Augen. „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte sie und wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören.
„Guten Tag Frau …“ Wie von der Tarantel gestochen rannte die hübsche Hausfrau an der Kassiererin vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die nachmittäglichen Einkäufer im Dorfladen sahen der ungewöhnlichen Szene zu und warfen sich fragende Blicke zu, als Frau Meissner hinter der Badartikelabteilung hervorrief: „Hannes, nicht schon wieder!“ Schnaubend hängte sie die Flip-Flops aus Plastik, die sie gerade neu in das Sortiment aufgenommen hatte, an einen der Aufhängbügel und marschierte dann mit eingestemmten Armen auf den Pfarrer zu, der vergebens versuchte sich hinter einem Stapel Sodadosen zu verstecken. „Jetzt reicht es mir also endgültig!“ Wütend keifte sie eine ihrer Angestellten an, den halbvollen Einkaufswagen wegzuräumen, den Frau Blum in ihrer Eile mitten im Gang stehen gelassen hatte, bevor sie sich vor Hannes aufbaute, der zwar einen guten Kopf grösser war als sie, diesen aber eingeschüchtert hängen ließ, als er Frau Meissners finsteren Gesichtsausdruck sah. „Himmel“, fluchte sie etwas zu laut, so dass sie die Aufmerksamkeit der anderen Einkäufer auf sich zog. „Wann wirst du endlich damit aufhören meine Kunden mit deinem paranoiden Geschwätz von Zombieapokalypsen zu verscheuchen? Und komm mir jetzt ja nicht wieder mit deiner Internet-Recherche, sonst lasse ich dich auf der Stelle ins Irrenhaus einweisen!“