Hanna war schon immer eine sonderbare Person gewesen. Nun ja, zumindest behaupteten das die anderen, sie selbst teilte diese Meinung keineswegs. Einen Großteil ihrer Jugend hatte sie erfolglos mit dem Versuch zugebracht, herauszufinden, wie Leute auf die Idee kämen, sie sei kurios. Wie dem auch sei, irgendwann hatte Hanna damit aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen und friedlich ihr Leben geführt; bis heute. Heute, ja, heute war alles anders, dachte sie sich, als sie genussvoll das blutige Messer leckend auf den kalten Fliesen saß.
Alles nahm seinen Anfang am Morgen, der vielversprechend begann. Der Handywecker dudelte „Walking on Sunshine“ und Hanna befand, der Tag müsse gut werden. Voller Elan sprang die zierliche Frau aus dem Bett, riss die Vorhänge auf und genoss die Aussicht auf den heraufdämmernden Frühlingstag. Auf dem Weg zur Küche überlegte sie sich, welches ihrer unzähligen geblümten Kleider sie anziehen sollte, kam aber zum Schluss, es spielte keine Rolle. Gar der Gang zur Kaffeemaschine kam ihr leichtfüßig vor. Beschwingt tänzelte sie ins Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen. Bei dem Gedanken an das Frühstück lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Das alte Auto sprang gleich beim ersten Versuch an, ein gutes Omen, dessen war sich Hanna sicher. „Ha, heute gönne ich mir zwei Croissants“, frohlockte sie, als sie den Wagen auf die Straße lenkte. „Oder drei“, ergänzte sie kichernd, wohl wissend, dass es zwei würden, kein vernünftiger Mensch konnte drei Croissants verdauen. Wie dem auch sei, erstmal gedachte Hanna, ein paar Stunden zu arbeiten; als Laborantin musste man die Dämpfe der Chemikalien einatmen, bevor die Vorgesetzten zur Arbeit erscheinen, wie sie stets zu scherzen pflegte. Wäre da nur nicht dieser unstillbare Hunger, der sich schon wieder meldete. „Verdammt!“ Kurz entschlossen setzte Hanna den Blinker und bog in die Seitenstraße ab, in der ihre Lieblingsbäckerei lag.
Sich die Krumen ihres vierten Croissants von den Fingern leckend betrat Hanna den Campus ihres Arbeitgebers. Das Labor des Pharmazieunternehmens war seit ihrem Abschluss der Ort, an dem sie sich am wohlsten fühlte, ganz konzentriert auf ihre Tätigkeit. „Vier Croissants, das ist ein neuer Rekord“, murmelte sie nachdenklich zu sich selbst, als sie auf den Rufknopf der Liftkabine drückte. „Nur, wieso schmecken die nach Vanille? Ist das ein neues Rezept?“ Das laute „Ding“, als die Lifttüren aufglitten, lenkte Hanna rasch von ihren Betrachtungen ab und sie fing an, einen Popsong zu pfeifen. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
„Ich fasse es nicht!“, rief Hanna durch das noch verlassene Labor und kicherte: „Schon wieder Hunger!“ Eilig schritt sie in Richtung des Kühlschranks, wo sie die ihr Mittagessen aufbewahrte, ihr fiel nicht einmal auf, wie oft sie heute kicherte, gar für eine Frohnatur wie sie war das ungewohnt. Euphorisch riss sie die Tür auf und starrte auf die Tupperdose voller Spaghetti. „Ja, so muss es sein!“
Ohne auch nur den Kühlschrank zu schließen, setzte sie sich auf den Boden, robbte auf ihrem Hintern zur Besteckschublade und pulte eine Gabel heraus. Der Deckel der Tupperdose flog durch die Küche und Hanna grub die Gabel wie Poseidons Dreizack in die kalten Reste der italienischen Glückseligkeit, die gestern ihr Abendessen gewesen war. „Hmm, Erdbeere“, brachte sie zwischen zwei Bissen hervor. „Komisch, gestern schmeckten die noch nach Tomate.“ Doch Hanna ließ sich von solchen Nebensächlichkeiten keinesfalls abhalten und mampfte fröhlich weiter.
Hanna trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihren Labortisch. Noch war niemand aufgetaucht; so früh, wie sie zur Arbeit kam, war das kaum weiter verwunderlich. Aktuell war ihr einziges Problem, dass sie den ganzen Kühlschrank leergegessen hatte und nichts, wirklich nichts mehr übrig war. Auch das vermochte ihre Laune keineswegs zu ruinieren, nein, sie war Wissenschaftlerin und als solche mochte sie Herausforderungen. „Keine der Chemikalien hier sind lecker“, schmollte sie, nachdenklich mit einer Schere spielend. „Vielleicht kann ich ja was misch… au!“ Entgeistert starrte sie den Blutstropfen auf der Kuppe ihres Zeigefingers an, ehe sie kicherte: „Messer, Schere, Gabel, Licht, sind für die Hanna nicht.“ Damit steckte sie ihn in den Mund, um das Blut abzulecken.
Hannas Welt explodierte. Ein Kaleidoskop aus Schokoladenaromen erfüllte ihren Verstand und das, obwohl sie wusste, wie wenig man Aromen mit dem Verstand schmecken konnte. Nougat rann durch ihre Gehirnwindungen, Ihre Knochen erstarrten zu Zartbitterschokolade und der Kakao kribbelte unter ihren Zehennägeln. Wohlig wälzte sich Hanna auf dem Boden und schrie vor Glückseligkeit laut auf.
Martin war schon immer ein pünktlicher Mensch gewesen, weshalb es ihm schwerfiel, zwei Minuten zu spät zur Arbeit zu erscheinen. In der Hoffnung, niemand hätte sein persönliches Versagen gesehen, schlich er ins Labor; und fror auf der Stelle ein. „Hanna!“
Seine Kollegin saß, genussvoll ein blutiges Messer leckend, auf den kalten Fliesen. Ihr Laborkittel lag blutverschmiert neben ihr, getrocknetes Blut klebte an ihrem Unterarm. Entsetzt beobachtete Martin, wie Hanna das Messer wegwarf und rief: „Hey, Martin, wie geht’s dir? Du, sag mal, dürfte ich etwas Blut von dir haben? Ich möchte nur wissen, ob alle Menschen gleich schmecken.“
Martin stand sprachlos da und beobachtete, wie Hanna sich erhob, kurz taumelte und dann begann, ihren Arm abzuwaschen und die Schnittwunden zu verbinden. „Ich Dummerchen“, kicherte sie, „ich gehe einfach zur Blutbank, da ist die Auswahl viel grösser. Aber danke, hättest du mir einen Schluck angeboten, du bist ein guter Freund.“ Hurtig huschte sie aus dem Labor und schlug die Tür hinter sich zu.
Es dauerte mehrere Minuten, bis Martin sich gefasst hatte und niedergeschlagen murmelte. „Es tut mir leid, Hanna, das wollte ich nicht. Ich habe dir gestern nur ganz wenig von dem unerprobten Stoff in den Kaffee gekippt, weil ich wissen wollte, wie er wirkt. Ich hatte keine Ahnung, macht einem das Zeug gleich zum Vampir.“