Kevin hatte sich oft gefragt, was Menschen taten, wenn sie allein zuhause waren. Er hielt es nie besonders lange aus und das war auch der Grund dafür, dass er heute Nacht seine Freunde überzeugt hatte, an diesem Halloweenabend mit ihm ins Kino zu gehen, obwohl er morgen früh arbeiten musste. Es lief zwar nur eine Wiederholung von „Brügge sehen … und sterben?“, doch Kevin war von dem Film so begeistert, er hätte ihn auch hundert Mal geschaut, ohne sich zu beschweren. Die Schlange vor der Kasse bewegte sich nur langsam, ganz so als würden die Leute wie Sirup in das alte Gebäude, das immer nach Popcorn roch, tropfen. Der eine oder andere Kinogänger war kostümiert, die meisten hingegen wirkten, angesichts des nicht besonders gruseligen Filmes, relativ normal.
„Sag mal“, beendete Ye-jun eben das Schweigen zwischen den drei Freunden, „habt ihr auch schon von diesem grauenhaften Chemieunfall gehört, drüben in Charlottesville?“
„Klar, ist ja nur ein paar Meilen entfernt“, überlegte Felicita laut. „Ich hoffe echt, dass nicht auch noch das Trinkwasser vergiftet wird, bei solchen Dingen weiß man ja nie.“
Kevin versuchte sich an die Nachrichtensendung zu erinnern, die während er sich zurechtgemacht hatte, über seinen Bildschirm geflimmert war. Zwanzig Tote, vierzig Vermisste, Explosionen, Feuer – Charlottesville hatte wirklich eine beindruckende Chemiefabrik gehabt, von der nie jemand so genau wusste, was sie da eigentlich herstellten. Das brachte ihn auf eine Idee, wie er seine Freunde veräppeln konnte. „Hey, Leute, wusstet ihr, dass dieses Werk eine getarnte Regierungseinrichtung war, in der sie mit Biowaffen experimentierten? Jetzt sind die giftigen Dämpfe in der Luft und sie werden uns schon sehr bald erreichen, dann mutieren wir alle …“
Ye-jun lachte herzhaft. „Kevin, du erzählst deine Schauergeschichten so grauenhaft, damit kannst du nicht einmal uns Weicheier zu Halloween verstören!“
Felicita gab ein angewidertes Schnauben von sich, deutete auf die ältere Dame im Pelz vor ihnen und erklärte unüberhörbar: „Na, ich weiß wenigstens, wen man hier bei lebendigem Leib häuten sollte!“
Kevin machte sich ganz klein, hätte sich am liebsten hinter einer Säule versteckt, als die Frau sich empört umwandte und das Freundestrio verächtlich musterte: „Und ihr stammt aus einer Benetton-Werbung, oder?“
Die Dunkelhäutige, der Asiate und der weiße Kevin starrten sie zeitgleich an. Insgeheim musste er eigestehen, dass er der alten Schachtel keine derart schlagfertige Antwort zugetraut hatte. Felicita, die Tierschutzverstösse mit der Hartnäckigkeit eines Bluthundes verfolgte, wurde aber erst richtig warm und konterte: „Natürlich, wir sind die fernsehgerechten, gemischtrassigen drei Musketiere!“ Ohne eine Antwort abzuwarten stakste sie an der schmollenden Nerzfunzel vorbei, zeigte dem amüsiert vor sich hinglucksenden Kartenabreisser ihr Ticket und entschwand im Kinosaal. Die beiden Männer beeilten sich Schritt zu halten und ohne weitere Zusammenstösse langten sie bei ihren Sitzen an. Manchmal, nur manchmal, frage sich Kevin, wie sie sich verhalten würden, wenn sie auch alle im Alter der Pelzmantel-Frau wären.
Es war kurz nach der Pause und Kevin hatte sich gerade krampfhaft darauf konzentriert, sich nicht durch seine rosenkohlbedingten Blähungen vom Film ablenken zu lassen, als ein dumpfes Rumpeln zu hören war. Hastig beugte er sich zu Ye-jun hinüber um zu flüstern: „Hast du das auch gehört?“
„Ja, deine Biowaffen-Zombies sind hier“, kommentierte sein Kumpel trocken und tauchte sichtlich ungerührt seine Hand tief in den Popcorn-Beutel ein. Kevin fand keine Ruhe – er wusste, dass das komische Schauern, das seinen Rücken hinunterlief, bestenfalls eine dumme Marotte war. Nichtsdestotrotz entführte ihn seine Phantasie auf einen Horrortrip, in dem er sich in allen erdenklichen Farben ausmalte, wie Zombies sein kleines Städtchen überrannten. Diese Untoten waren sein absolutes Feindbild, das er dank unzähligen Horrorfilm-Nächten nur allzu gut kannte – nichts außer fressen, beißen, töten …
Der gepeinigte Todesschrei des Kartenabreissers holte Kevin sofort wieder in die Realität zurück. Irgendwas wirklich Schlimmes geschah da draußen! Er wandte sich nach seinen Freunden um, links Felicita, rechts Ye-jun, beide wirkten sehr beunruhigt. All die schlaflosen Nächte, in denen er sich solche Szenarien erträumt hatte und jetzt das, er war bewegungslos, verängstigt.
An der dicken Tür war ein Kratzen zu vernehmen, schließlich gab sie nach und schwang weit auf. Der Anblick, der sich Kevin dann bot, war unbeschreiblich. Das helle Licht der Lobby flackerte nunmehr und ein Haufen untoter Gestalten stolperte in den Kinosaal. „Scheiße, Mann, die sehen ja verdammt echt aus“, meinte Felicita beeindruckt, doch Kevin glaubte zu wissen, woran sie waren – sein schlechter Halloween-Scherz war real geworden. „Die Dinger sind echt, nichts wie raus hier!“
„Wie willst du raus? Die Bude hat keinen Notausgang außer dem, in dem die Zombies stehen, wir können nirgendwo hin“, warf Ye-jun ein während ein ganz kleiner Teil von Kevin noch immer darauf hoffte, dass das alles nur ein dummer Halloween-Streich von einigen betrunkenen Teenagern war.
Seine Hoffnung wurde sogleich zerstört, als die wandelnden Toten sich über das Publikum hermachten. Im Halbdunkel konnte er nicht gut erkennen was geschah, aber die Schreie, das Blut, all das sah er. Faustgemenge mit unerbittlichen Gegnern, abgerissene Hautfetzen, Umrisse, die sich gegenseitig niedermachten … Die Dame im Pelz hatte das von Felicita angedrohte Schicksal ereilt – sie lag auf dem roten Teppich und ihre Haut hing in Fetzen von ihrem Körper. Kevin hatte einen Tunnelblick, konnte nur noch den versperrten Ausgang sehen, verlor sogar seine Freunde in dem Tumult aus den Augen. Er musste etwas tun – wo war sein fiktives Alter Ego, der unerschrockene Zombiejäger aus seinen actionfilmartigen Tagträumen, mit denen er sich langweilige Arbeitspausen versüßte? Seine schweißnasse, zitternde Hand glitt in die Hosentasche und griff sich das Taschenmesser, das er immer bei sich trug. „Kämpfen ist die einzige Lösung, wie wir hier lebend rauskommen“, redete er sich gut zu, als er die kleine Waffe umklammerte und sich nach seinen Freunden umsah. Ye-jun war aufgesprungen, hielt seine Lederjacke fest, als ob sie ihm Schutz bieten könnte und stand mit dem Rücken zur Wand, das Popcorn war zu seinen Füßen verteilt. Bisher hatte sich noch keines dieser Biester bis zu ihnen vorgewagt, doch es konnte nicht mehr lange dauern. Wo war Felicita? Man ließ seine Freunde nicht im Stich, nicht einmal, wenn … Sie packte seinen Arm und er fuhr herum, starrte in das leblose Gesicht, die blutverschmierten Zähne und wusste, dass sie eine von denen geworden war. Hätte er auch nur eine Sekunde gehabt, darüber nachzudenken, er hätte nicht tun können, was er tun musste. Zu seinem Glück blieb ihm diese Zeit nicht und so rammte er ihr ohne zu zaudern das Messer in den Bauch. Ye-jun packte Kevin von hinten und alles wurde schwarz.
„Was für eine Scheiße“, murmelte ein Sanitäter als Kevin zu sich kam. Er brauchte nicht lange um zu begreifen, dass er auf einer Bahre lag und den Kinosaal verlassen haben musste. Über ihm war eine alte, flackernde Straßenlaterne gegen den Nachthimmel zu erkennen, daneben die Fassade des Kinos, über die unzählige rote und blaue Lichter zuckten. Er war von einem Meer aus Hektik umgeben, Polizisten, Feuerwehrleute, alle riefen eilig durcheinander, dazwischen hier und da das Stöhnen eines Verwundeten. „Was ist passiert?“, brachte Kevin schließlich erschöpft hervor, nachdem er sich wieder halbwegs hatte orientieren können.
„Keine Angst, Sie sind glimpflich davongekommen“, murmelte der Fremde und schob ihn weiter auf einen Krankenwagen zu. „Jemand hat Sie gebissen.“
Blanke Panik – er war infiziert, um ihn war es geschehen. „Wo sind Ye-jun und Felicita?“
Der Sanitäter zögerte kurz, bevor er entschuldigend meinte: „Es tut mir leid, hier herrscht zu viel Chaos, als dass man jemanden finden könnte, vermutlich sind sie im Krankenhaus.“
Das verstand Kevin nicht, er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Felicita zu einem Zombie geworden war und ihre tote Fratze so nahe vor sich gehabt! Mit Nachdruck wiederholte er: „Was verdammt nochmal ist passiert?“
„So genau wissen wir das auch noch nicht“, begann der Sanitäter, als die Bahre in den Krankenwagen gehoben wurde. „Wir vermuten, dass wegen dem Chemieunfall irgendwelche Halluzinogene ins Trinkwasser gelangt sind. Dann, als ein paar als Zombies verkleidete Teenager das Publikum erschrecken wollten, kam es zu einer Massenpanik.“
Die Türen wurden zugeschlagen und der Wagen fuhr los. Kevin versuchte, sich vorzustellen, dass es so geschehen war, wollte glauben. Aber die Erinnerungen waren viel zu real, das konnte nicht sein. Unter der Decke, die der nun neben ihm sitzende Sanitäter über ihn gelegt hatte, tastete Kevin vorsichtig nach seinem Taschenmesser – es war weg, er würde sich nicht verteidigen können. Wieder keimte Angst in ihm hoch, es dauerte lange, bis er begriff, dass es nicht wegen dem fehlenden Messer war, sondern weil der letzte Satz des Sanitäters erst jetzt bis zu seinem Verstand durchgedrungen war: „Bisher wissen wir von fünfzehn Toten.“
Ein Gedanke zu „Zombies in Brügge!“