Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor | Die Bücherei

Dies ist der 7. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.

„Wir brechen gleich morgen früh auf“, war alles, was Rooster gesagt hatte. Danach hatte er dem Professor ein kleines, blaues Packet vor die Füße geworfen und war in Moiras Zimmer verschwunden. Die rothaarige Feuerwerfrau war nicht zurückgekehrt und niemand hatte auch nur den geringsten Zweifel, was mit ihr passiert war. Am nächsten Tag hatte Rooster seinem Spitznamen alle Ehre gemacht und die kleine Gruppe noch vor Sonnenaufgang mit lautem Gebrüll geweckt und sich nicht einmal von Clints allmorgendlichen Nörgeleien davon abhalten lassen, sie innert kürzester Zeit marschbereit zu machen.

Knapp sechs Stunden waren sie unterwegs gewesen, ehe sie einsehen mussten, dass sie den Kindern nicht noch mehr abverlangen konnten. Die Landschaft war hügelig, karg und glücklicherweise dünn besiedelt und es dauerte eine Weile, bis sie das kleine Dorf fanden, das Tess auf ihrer Karte mit einem Leuchtstift markiert hatte.
„Das sieht doch gut aus“, meinte Clint, der schwer beladen und mit erhobener Flinte auf ein Wohnhaus am Ende der Straße deutete. Die anderen sahen nur kurz hin und bewegten sich dann auf das mintgrün gestrichene Gebäude zu, ohne aus ihrer Formation zu geraten. Doch kurz bevor sie den Zaun erreicht hatten, entdeckte Tess etwas und rief aufgeregt: „Schaut, da drüben!“ Die Truppe reagierte sofort: Clint, Rooster und Mitch pressten ihren Rücken an die nächstgelegene Wand, dem Anlieferungstor einer Fleischerei, während Barbara und Helen die Kinder in ihre Mitte nahmen und mit ihnen soweit wie möglich in Deckung gingen. Der Professor brauchte ein wenig länger, doch schließlich zog auch er rasch, wenn auch etwas ungeschickt, sein Gewehr.
„Eine Bücherei!“ Tess war so begeistert, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, wie sehr sie die anderen verängstigt hatte. Ein entnervtes und gleichermaßen erleichtertes Grummeln ging durch die Reihen, gefolgt vom typischen Waffengeklacker, als die Mündungen gesenkt wurden. Rooster legte seinen Kopf in den Nacken und murmelte etwas Unverständliches, wohl um seinem Ärger Luft zu machen. Wesentlich weniger subtil schritt Clint fluchend auf seine gute Freundin zu und kickte sie mit seinem schweren Kampfstiefel ins Schienbein.
Mit zwei ausgestreckten Fingern zeigte Clint den langen Gang runter und ließ seine Augen zwischen der Eingangstür und Tess hin und her schnellen, als diese lautlos an ihm vorbeiging. Mitch und der Professor blieben vorerst bei den Kindern in der Gasse und sicherten das Gebäude von außen, oder zumindest hatten sie ihnen das gesagt. In Wahrheit boten die leergefegten Straßen des winzigen Dorfes keine akute Gefahr, immerhin waren sie bereits über eine Stunde ohne Sichtung herumgelaufen. Wenn diese Biester hier irgendwo waren, mussten sie in den Häusern eingeschlossen sein. Tess und Clint wussten genauso gut wie Rooster, dass der Professor keine große Hilfe bei solchen Räumungsaktionen, wie sie es nannten, war und Mitchel war ohnehin nie dazu bereit, seine Kinder aus den Augen zu lassen.
„Hast du das gehört?“ Tess blieb wie angewurzelt stehen, lehnte sich danach etwas nach vorne und lauschte angestrengt. Plötzlich hob sie ihre Hand und tatsächlich, ein leises Rumpeln war zu hören, vermutlich kam es aus dem ersten Stock. Ohne zu zögern ging Rooster zu ihr, packte sie am Oberarm und zog sie zurück zum Eingang, doch wie sie gleich erfahren würde, hatte er nicht etwa vor, die Bücherei aufzugeben. Die drei wechselten flüsternd ein paar Worte, waren sich bald über das weitere Vorgehen einig und riefen die anderen, die noch immer bei der Fleischerei standen, zu sich.

„Gut, auf mein Signal“, schloss Rooster seine Erläuterung ab und nickte in die Richtung der vier Kinder, die ihn misstrauisch ansahen. Alle bis auf Jack, der schien sich richtiggehend über seine Rolle im Plan zu freuen und stand hüftbreit und mit ernster Miene neben Barbara. Tess und die Männer traten zurück ins Halbdunkel des Gangs und positionierten sich in Schussstellung, die anderen blieben auf den Stufen stehen und blickten angespannt durch den Türrahmen, auf dem ein großer, gelber Aufkleber prangte. „Keine Panik!“, stand in roten Lettern geschrieben, so als hätte ihn irgendwer dort angebracht, um sie zu verspotten. Als der Hüne das Zeichen gab, kreischten die Kinder erst zaghaft, dann aber immer kraftvoller los, solange, bis Rooster sie wieder zum Schweigen brachte.
Es hatte einige Augenblicke gedauert, aber sie kamen. Mit einem grausig-gurgelnden Aufschrei stolperte eine alte Frau die Treppe hinunter. Sie trug ein weißes Kleid, dessen Rock so zerrissen war, dass es eher an ein Negligée erinnerte, eine schief sitzende Hornbrille und nur einen Schuh. Tess drückte als erste ab und sandte die einst sicherlich feine Dame mit einer Kugel aus ihrer Winchester Model 70 Sporter Deluxe auf den krächzenden Holzboden der Bücherei. Beim Anblick des halbverwesten Gesichts, besonders der komplett ausgetrockneten und verkrusteten Augenhöhlen, hätte die ehemalige Stadtbewohnerin sich beinahe übergeben und Clints trockener Kommentar, der leblose Körper sähe ein wenig wie seine Großmutter aus, machte es auch nicht besser.
„Verdammt“, holte Rooster aus und hielt sich die Nase zu, „diese scheiß Dinger stinken immer schlimmer!“ Clint, der Westernheld kicherte, vermutlich mehr um die nervöse Energie loszuwerden und nicht, weil er die Situation unbedingt lustig fand.
„Kein Scherz“, erwiderte Tess, spuckte etwas Speichel aus, der ebenso vereitert schmeckte, wie die Leiche zu ihren Füssen aussah, ehe sie hinzufügte: „Aber mir soll’s recht sein. Solange die nicht lernen, wie man mit Nadel und Nähfaden umgeht, besteht Hoffnung, dass sie irgendwann einfach auseinanderfallen.“
Dieses Mal klang das Lachen des jungen Mannes echt und selbst Rooster konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, das erste, seit er ohne Moira zurückgekehrt war.
„Meint ihr, das war’s schon?“, wollte Barbara wissen, die ihren ergrauten Kopf vorsichtig in den Flur der Bücherei hielt. Einen Moment waren alle ruhig, horchten und warteten ab, ob sich noch irgendetwas bewegte, doch schließlich ließ Rooster den Lauf seiner Waffe nach unten gleiten und gab den anderen damit Entwarnung, bevor er mit seiner Bassstimme verkündete: „Wartet mit den Kindern hier im Flur und schließt die Tür. Wir kontrollieren die Zimmer und den oberen Stock zur Sicherheit.“

Tess musste sich beherrschen, damit sie nicht vor Glück jauchzte, als sie all die Bücher entdeckte, die noch immer schön sortiert auf ihren Regalen standen. Wäre die dicke Staubschicht nicht gewesen, hätte man glauben können, alles wäre beim Alten – vom schwerfälligen Karteisystem beim Informationsschalter, bis hin zur Spielecke war alles genau so, wie man es in einer ländlichen Bibliothek erwarten würde. Langsam, beinahe andächtig, zog sie einen großen Wälzer aus einem Regal, strich mit ihren Fingerspitzen über den abgenutzten Einband und schlug das Buch dann irgendwo in der Mitte auf. Seufzend roch Tess an den Seiten und flüsterte so leise, dass sie niemand hören könnte: „Oh, Odysseus, was würde ich geben, um meine Strapazen gegen deine zu tauschen.“
Helen und Mitchels Kinder hatten sich sofort in der Spielecke eingenistet, nachdem Rooster ihnen erlaubt hatte, hereinzukommen. Die Erwachsenen zogen noch eine Weile durch die Zimmer, um ganz sicherzugehen, dass sie wirklich keine böse Überraschung mehr finden würden, ehe sich alle im zentralen Bibliotheksraum versammelten und zur Ruhe kamen. Niemand hatte Rooster widersprochen, als dieser vorgeschlagen hatte, dass sie heute Nacht alle im selben Zimmer schlafen würden. Klar, es war nicht besonders angenehm, den anderen, insbesondere Clint, beim Schnarchen zuzuhören, aber so war es wesentlich weniger gefährlich und zudem konnte ohnehin keiner von ihnen durchschlafen. Tess legte ihr Buch beiseite und überlegte sich, ob sie wohl jemals wieder ohne Albträume würde schlafen können, als etwas laut polterte.
Die kleine Gruppe zuckte einheitlich zusammen und machte keinen Mucks. Helen hielt ihrer Jüngsten den Mund zu, die anderen beiden rührten sich nicht, genauso wie sie es gelernt hatten. Doch plötzlich sprang Barbara auf und rannte zur Treppe, ohne daran zu denken, ihre Pistole aufzuheben.
„Jack!“, schrie sie panisch, als sie in den oberen Stock hastete und als Clint und Tess endlich verstanden, was los war, hechteten sie ihr hinterher.
Es hatte sich unter der Spüle versteckt gehabt, oder besser gesagt, der obere Teil seines Torsos war darunter eingeklemmt gewesen. Was Jack sich dort zu finden erhofft hatte, war ihnen nicht klar, aber er hatte den Schrank geöffnet und sich der Kreatur, oder dem was davon noch übrig gewesen war, mehr oder weniger auf dem Präsentierteller angeboten.
„Fuck, fuck, fuck…“, widerholte Clint wie ein Mantra, währendem er verzweifelt versuchte, seinen kleinen Kumpel aus dem verrotteten Maul zu zerren, das sich wie ein Krokodil in dessen Arm festgebissen hatte. Tess erledigte indes die zappelnde Leiche, die sie bei der Durchsuchung vorhin übersehen hatten, weil sie nicht auf die Idee gekommen wären, in den Schränken zu suchen. Jacks Pullover war voller Blut und Gewebeklumpen und es war schwer auszumachen, welche Substanzen von ihm und welche von dem tollwütigen Vieh stammten, doch anstelle davon, panisch zu schreien oder um sein Leben zu flehen, lächelte der Junge bloß gleichmütig und meinte: „Scheiße, Clint, du sollst doch nicht immer so fluchen.“

Autorin: Rahel
Setting: Bücherei
Clues: Krokodil, Nähfaden, Aufkleber, Schienbein, Negligée
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Sabine Kohlert. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

2 Gedanken zu „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor | Die Bücherei“

  1. Da hab ich doch glatt vergessen, dass ich ja vor einiger Zeit Clues und Setting vorgeschlagen habe. Bin erst jetzt über die Geschichte gestoplert. Super umgesetzt und das Beste, der Text ist Teil ein großen Fortsetzungsgeschichte. Viellicht wird ja mal ein Roman daraus?! Mir gefällt die Story (auch die anderen Teile). Ich freue mich schon auf die nächste Fortsetzung. Grusel, Ekel, Gänsehaut! ;-)

    1. Hallo Sabine,
      toll, dass du mit der Umsetzung deiner Clues zufrieden bist.
      Ob daraus jemals ein Roman wird, wage ich mal zu bezweifeln, aber auf Clue Writing wird diese Geschichte wohl noch ein Weilchen weitergehen. Natürlich mit extra viel Grusel, Ekel und Gänsehaut ;)

      Liebe Grüsse und die besten Wünsche
      Deine Clue Writer
      Rahel

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