Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es war einmal, vor langer Zeit, ein kleiner Bücherwurm. Die meiste seiner freien Zeit verbrachte er in dem großen Wandschrank in seinem Bücherwurm-Kinderzimmer, wo er tagein-, tagaus alle Bücher verschlang, die er finden konnte. Doch er knabberte sich nicht etwa durch, nein, er gab sich wirklich Mühe, dass die Bücher schön blieben und er keine Spuren an ihnen hinterließ, denn er war anders als die anderen Bücherwürmer: Er konnte lesen. Und genau darum versteckte er sich auch im Schrank, wenn er seine Bücher las, denn irgendwie musste er seine geliebten Werke ja vor seiner gefräßigen Familie verstecken. Und sie wollten ihm nicht etwa nur seine Bücher wegessen, nein, sie schimpften auch immer mit ihm, denn kein guter Bücherwurm liest seine Nahrung und isst dann bloß noch Klatschmagazine, weil es ihm um diese am wenigsten schade ist.
Eines schönen Tages saß der kleine Bücherwurm wie immer im Wandschrank, während die anderen draußen spielten, oder in der Bibliothek beim Mittagessen saßen und las in einem dicken Schmöker. Es ging darin um wirklich wichtige Dinge, Dinge die die anderen kleinen Bücherwürmer noch gar nicht verstehen konnten. Sei es Anatomie oder Astronomie, Medizin oder Mandarin, er hatte schon alles gelesen, sogar über die großen Kriege, und das war nun wirklich keine Lektüre für einen kleinen Bücherwurm! Doch auch wenn die Eltern seiner Schulkameraden diesen solche Bücher sogar zum Essen verboten, weil sie viel zu schwere Kost sein sollen, las der kleine Bücherwurm munter weiter, einverleibte jedes einzelne Wort so, als wäre es sein letztes. Sollten doch die anderen Zivilisten an ihren Büchern knabbern, er wusste es besser! Ja, Zivilist war eines der schönsten Wörter, das er letzthin gelernt hatte. Er hatte mehrere Freunde gefragt, natürlich ohne seine Lektüre zu erwähnen, und offenbar bedeutete das Wort wohl soviel wie: „Ein Bücherwurm, der nicht seinen Artgenossen diente.“ So ganz verstand das der Kleine noch nicht, doch als er aus dem schmalen Spalt des Wandschranks linste, um zu sehen ob seine Eltern ihn wieder suchten, fragte er sich: „Wenn aber Zivilisten nicht den Bücherwürmern dienen, bin ich dann einer oder sind es die anderen, weil sie ständig Wörter auffressen?“
Er konnte nichts erkennen, sein Zimmer schien leer zu sein, bloß der Fiebermesser, dank dem er hatte zuhause bleiben dürfen, lag noch auf dem Bett. Zufrieden wandte er sich wieder dem Buch zu, das er gerade am Lesen war. Es war einer dieser alt riechenden Bände, mit denen sich der Bücherwurm ganze Tage beschäftigen konnte. Der Einband wirkte schon ziemlich abgegriffen, so als hätte der Vorbesitzer des Buches viele Stunden mit ihm verbracht und darauf stand in großen Lettern geschrieben: „Lexikon der Biologie“.
Ganz versunken in seine Lektüre bemerkte der kleine Bücherwurm nicht, wie rasch die Zeit verging und so war es schon später Nachmittag, als er bei dem Artikel über Bücherwürmern angelangt war. Nun sehr gespannt, was die wirklich klugen Leute über seine Gattung zu sagen hatten, las er vertieft weiter, bis er unvermittelt aufsprang und einen Freudenschrei ausstieß. Dann verstummte er ganz rasch und lauschte, ob seine Eltern ihn gehört hatten. Tatsächlich war das typische Krabbelgeräusch von Papa auf der Treppe zu hören. Hastig versteckte der kleine Bücherwurm seine Bücher unter alten Kleidern und wollte gerade aus dem Schrank huschen, als seine Zimmertür aufgestoßen wurde und er in Papas Gesicht blickte. Sein Vater schaute ihn erst verwirrt an, bevor er fragte: „Du meine Wurmigkeit, was machst du denn krank im Schrank?“
Der Kleine überlegte erschrocken eine winzige Lüge: „Ich wollte mir bloß einen neuen Pyjama holen.“
Papa grinste schräg, denn offenbar hatte er begriffen, dass sein Sohn gar nicht so krank war wie er getan hatte. Er setzte sich neben ihn auf den Boden und fragte: „Na, wie steht es um die Übelkeit?“
„Schon viel besser“, antwortete der kleine Bücherwurm. Er war froh, dass sein Vater nicht im Schrank nachgeschaut hatte, wer weiß, ob er am Ende gar die Bücher gefunden hätte. „Das freut mich für dich, mein Sohn“, murmelte Papa Bücherwurm, hob ihn auf und trug ihn ins Bett.
„Du Papa?“, fragte der kleine Bücherwurm zögerlich, bevor er auf das freundliche Nicken seines Vaters fragte: „Wusstest du eigentlich, dass wir gar keine Würmer sind, sondern zur Gattung der Säugetiere gehören?“
Der Vater war wirklich bleich geworden – und das war für einen Bücherwurm etwas ganz Unübliches. Für einige Zeit herrschte Schweigen, dann erklärte er ruhig und bestimmt: „Es ist besser, wenn du glaubst, dass wir Würmer sind.“
„Aber wir sind keine Würmer“, wandte der kleine Bücherwurm schüchtern ein.
„Ich weiß, mein Sohn“, antwortete er nachdenklich, bevor er ganz nett fragte: „Du hast wieder im Wandschrank gelesen, nicht wahr?“
„M-hm“, machte der kleine Bücherwurm und hatte nun wirklich Angst, dass er bestraft werden würde. Doch sein Vater seufzte bloß und schien angestrengt nachzudenken, und sprach schließlich: „Du verstehst schon vieles und vielleicht ist es an der Zeit, dass du ein kleines Geheimnis erfährst. Du musst mir aber versprechen, dass du das nie jemandem erzählen wirst, es ist nämlich ein gefährliches Geheimnis.“
Der kleine Bücherwurm nickte und rückte näher zu seinem Vater, um der nun verschwörerisch gesenkten Stimme zu lauschen. „Du weißt ja schon lange, wer der Großwurm ist – unser Anführer. Er will, dass wir alle glauben, wir seien Würmer und dass wir die Bücher essen, statt sie zu lesen.“
„Wieso denn?“, fragte der kleine Bücherwurm. „Das verstehe ich nicht.“
„Ganz einfach“, erklärte sein Vater. „Weil Würmer sich verkriechen und unter dem Boden verstecken. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, Tunnel zu bohren um sich gegen ihren Anführer zu erheben. Und wenn wir alle Bücher aufgegessen haben, können wir nicht mehr nachlesen, was wir in Wahrheit sind.“
„Das ist ja unglaublich“, rief der kleine Bücherwurm aus, wurde aber gleich wieder leiser und murmelte: „Dann bin ich gar nicht so anders als die anderen Zivilisten?“
„Nein, du bist der perfekte Vertreter deiner Art“, sagte Papa Bücherwurm überzeugt, doch wegen dem etwas unpassenden Wort leicht grinsend. Und wenn der Tag kommen wird, an dem wir unseren Anführer stürzen, dann wirst du der perfekte Nachfolger sein, weil du so viel liest. Du wirst genau wissen, was es wirklich bedeutet, eine Leseratte zu sein.“
Die kleine Leseratte dachte nach. Ja, jetzt verstand er, warum er sich nie so richtig wie ein Bücherwurm gefühlt hatte. Doch er hatte noch ganz viel Lektüre vor sich, bevor er bereit war, sich dem Diskurs seines Lebens zu stellen.