Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Er hatte es gewusst, seit er siebzehn Jahre alt gewesen war und so gerne er daran gezweifelt hatte, war er sich absolut sicher, dass er durch Selbstmord sterben würde. Nun, natürlich wusste er nicht so genau, wann das geschehen würde, oder besser gesagt, wann er es geschehen lassen würde, aber so sehr er sich auch anstrengte, konnte er sich kein anderes Ende vorstellen. Einige Male hatte er den Fehler gemacht, diesen Gedankengang mit jemand anderem zu teilen, hatte aber schnell gelernt, dass man solche Dinge wohl besser für sich behalten sollte, wollte man nicht, dass einem vorgeworfen wird, man unterliege irgendeiner fatalen Geisteskrankheit. Weshalb diese harmlose Gewissheit so verstörend auf andere wirkte, war ihm zwar nicht ganz klar, aber nun gut, so schlimm war es nun auch wieder nicht, die Umstände seines Ablebens als Geheimnis zu bewahren. Wesentlich inakzeptabler wäre es für ihn gewesen, wenn er keinen gäbe, dem er die schönen Seiten des Menschseins hätte mitteilen dürfen und davon gab es für ihn fast schon zu viele. Manchmal fragte er sich, ob wohl irgendwann ein Moment kommen würde, in dem er einfach so vor lauter Faszination, Freude und Optimismus platzen würde, wie ein Ballon im geringen Umgebungsdruck der Stratosphäre.
Das letzte Mal war er hier gewesen, als er seiner Frau die Schönheit seiner Heimat hatte zeigen wollen. Die Hügel waren selbst im Herbst noch so grün, wie sie es nirgends sonst waren und das Tosen der Brandung übertönte all die Stimmen in seinem Kopf, die ihn zum Umkehren bewegen wollten. Er war endlich angekommen, dachte er sich, währendem er stolpernd über die rauen Mauersteine der Burgruine kletterte.
Selbstverständlich verstand er wie seltsam es jemandem vorkommen mochte, dass gerade er, der seit langem wusste, dass er durch seine eigene Hand verfrüht sterben würde, ein Mensch war, der sich die unerschütterliche Lebensfreude aufs Revers geschrieben hatte, doch so war es nun einmal. Vielleicht gab es nur wenige Gründe dafür, wahrscheinlich nur einen, der wirklich von Bedeutung war, doch so genau interessierte ihn das im Prinzip nicht. Er war einfach nur dankbar, dass er in all den Fehlern und all dem Leid immer etwas erkennen konnte, das ihn zum Lächeln brachte. So konnte er auch nur schwer nachvollziehen, weshalb es immer wieder solche gab, die sich auf Halbwahrheiten behafteten und darauf bestanden, dass man die Welt als kalten, gleichgültigen Ort sah, nur weil sie kalt und gleichgültig sein konnte. Natürlich gab es schreckliche Menschen, die Unvorstellbares taten, um das zu begreifen, musste man nur die Nachrichten einschalten, oder in einem Geschichtsbuch schmökern. Doch nur diese Aspekte zu betrachten war genauso töricht, wie sie komplett auszublenden, denn, und dieses Argument brachte er jedes Mal in solchen Diskussionen, wir haben einen Rover auf den verfluchten Mars geschickt. Nochmal: Wir haben einen mit Labortechnik vollgestopften Roboter auf unseren Nachbarplaneten geflogen! Das alleine genügte ihm, um jede Wette einzugehen, dass unsere Spezies zu weit mehr fähig war, als ihre Motivation aus bloßer Zerstörungswut zu schöpfen.
Der Wind roch salzig und nach sattem Gras, als er sich auf dem letzten noch stehenden Turm hinsetzte und die Augen schloss. Hier würde es also geschehen, sinnierte er und legte seine zitternden Hände in den Nacken, um für eine Weile in den bewölkten Himmel zu sehen. Der Fall würde nicht lange dauern und noch ehe er es würde realisieren können, würde sein Körper an den Klippen unter ihm zerschellen und die Jagd wäre zu Ende.
Es hatte sogar eine Zeit gegeben, während der er weiterhin daran geglaubt hatte, die wunderbaren Errungenschaften der Wissenschaft würden früh genug einen Weg finden, wie er seinem Schicksal würde entrinnen können. Ein Tag ohne neue Erkenntnisse war für ihn ein verschwendeter und so hatte ihn sein fester Entschluss im Alter von Siebzehn auf den Spielplatz der medizinischen Forschung gebracht. Doch die Hoffnung, die er zu Beginn in sie gesetzt hatte, war über die Jahre einer Leidenschaft gewichen, die nur noch wenig mit dem Glauben an Erlösung gemeinsam hatte und einzig und allein ihrer selbst willen überlebt hatte. Er war als Gejagter in ihre Arme getrieben worden und hatte erst dort verstanden, dass es eigentlich keinerlei Anlass für seine Flucht gab. Er würde sterben, das stand ohne Zweifel fest und anstelle davon, sich vor seiner gewissen Zukunft zu fürchten, konnte er ebenso gut froh darüber sein, dass ihm als einer der wenigen ein Geschenk zuteilwurde. Zu wissen, wann und wodurch man sein Leben beenden würde, war eine unheimliche Erleichterung, zumindest war es ihm gelungen, sich das einzureden.
In der Ferne war ein Grollen zu hören und als er sich aufsetzte und die Augen zusammenkniff, konnte er einen Erdrutsch sehen, der einen smaragdgrünen Hügel unter sich begrub. Der Regen, der alles hier erstrahlen ließ, stellte er fest, brachte Leben und Gefahr, so wie sein Jäger ihm Antrieb und Einhalt geboten hatte. Ein kleiner Vogelschwarm zog an ihm vorbei und die Stimmen der Gefiederten schlugen in den dunklen Winkeln der Burgruine hin und her.
Die Zeit, über Alternativen nachzudenken, sich Wunderheilung oder Verzögerung zu wünschen, war gekommen und vergangen, doch das war nicht schlimm, zumindest nicht mehr. Lange hatte er sich erhofft, er würde seiner Krankheit entkommen können, doch im Grunde war allein sie es gewesen, die ihn zur Eile bewogen hatte, die ihn keiner seiner Tage hatte verschwenden lassen und hätte man ihm ein Zeitportal gegeben, so hätte er es mit einem gleichmütigen Lächeln abgelehnt. Er war zufrieden, hatte alles erledigt, was er sich vorgenommen hatte und obwohl es an ihm nagte, die Möglichkeiten seiner Zukunft verschwinden zu sehen, so wusste er, es war richtig so. Mit Freude und Dankbarkeit hatte er jede Minute ausgekostet, im ständigen Wissen, dass sein Verstand ihn irgendwann einsam zurücklassen würde, doch heute würde er seinem Jäger einen Streich spielen und von dieser ach so wundervollen Welt verschwinden, ehe er ihn würde zerreißen können. Sein Name war Chorea Huntington und er kannte ihn seit er Siebzehn war, seit er ihm seine Mutter genommen hatte und er war entschlossen, nicht in seine Hände zu fallen.
In einem Moment der völligen Stille, die für ihn unerklärlich blieb, verloren seine Sohlen den Kontakt zum uralten Stein, ließen Geschichte und Zukunft hinter sich. Vielen Dank schöne Welt, dachte er, für die Freundschaft, Hoffnung und Wunder, mit denen du mich erfüllt hast. Der Fall dauerte eine Ewigkeit und schenkte ihm all die Momente, an die er nicht mehr geglaubt hatte, ehe die Brandung ihn verschluckte und er in Sicherheit vor allem, was ihn zerstören wollte, aufhörte zu sein.