Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der Regen prasselte in so dicken Fäden vom Himmel, dass ich kaum meine Hand vor Augen sehen konnte und wirkte dabei wie ein Vorhang aus Buttercreme, so dicht und weißlich war seine vermeintlich leckere Konsistenz. Ich musste mich zurückhalten, mir nicht ein dickes Stück davon abbeißen zu wollen, immerhin war die Vorstellung mehr als nur ein wenig verlockend. Als Wesen, das aus Gründen der Naivität schirmlos durch die Stadt streunte, konnte ich mir keinen Kontakt, ganz egal welcher Art, mit dieser substantiellen, ja, scheinbar zu einem Block gepresst vom Himmel hinunterdonnernden Nässe leisten – dafür hatte ich zu viele Minuten Arbeit in meine Frisur gesteckt, nämlich genau drei. Mein momentaner Schutz gegen diesen infernalischen Angriff von oben (nein, ich bin nicht religiös, ich glaube nur, dass Wolken etwas gegen mich haben) war ein, in Anbetracht der Bausubstanz, vermutlich in den 1960er Jahren in Beton gegossenes Vordach eines Wohnblocks, über dessen Statik unter ständigem Wasserbombardement ich mir krampfhaft keine Gedanken zu machen versuchte.
Sie war so schnell da, als hätte sie sich mit einem „Puff“-Geräusch in einem Wölkchen materialisiert, gleich einem Kobold mit grüner Regenjacke sowie gepunktetem Schirm. Oder besser, den Überresten eines Schirms, denn offenbar hatte der Sturmwind nicht besonders viel für gepunktete Schirme übrig und das feuchte Nass (ist das nicht etwas redundant?) machte die Sache auch nicht besser.
„Moin“, säuselte ich amüsiert, als sich die Fremde keuchend gegen die hölzerne Eingangstür lehnte und ihre feuerrot gelockte Mähne ausschüttelte. „Ich bin Lisa. Ich würde jetzt gerne deine Hand schütteln, als Zeichen der Solidarität in stürmischen Zeiten, doch irgendwie tue ich das nicht sonderlich gern, weil man da Leute anfassen muss.“
Entgeistert starrte sie mich an, bot mir mechanisch ihre Hand mit den rubinrot lackierten Fingernägeln dar, zog sie aber dann genauso rasch beschämt zurück. „Bettina, freut mich.“
Ich konnte es ihr ansehen, wie es in ihrem Kopf zu rumoren begann, wie wenn jemand mit einer Gartenharke ihre Hirnwindungen geradezog, dieser Blick, den ich schon tausendfach gesehen hatte. Ich würde nie herausfinden, was unter ihrer Schädeldecke vor sich ging, so viel war klar – diese Frau war einfach nur komisch.
„Scheißregen“, grummelte sie, hätte beinahe eine Faust gen Himmel geschwungen und unterbrach sich im letzten Moment. Vermutlich fiel ihr ein, dass es unklug wäre, beliebige Körperteile aus dem Schutz des Vordaches hinauszuhalten, um sie weiter aufzuweichen. Ich zuckte mit meinen Schultern, wippte von einem Fuß auf den andern und meinte: „Nass ist nass, ob Regen oder Dusche macht dabei keinen Unterschied.“ Fairerweise musste ich wahrheitsgetreu hinzufügen: „Aber wenn ich nicht in der Bahn sitze, brauche ich trockene Haare.“ Sie linste mich fragend an, so als wäre meine Aussage nicht selbsterklärend, weshalb ich mich flugs entschied, meinen Beitrag zu ihrer Epiphanie zu leisten. „Du weißt schon, weil es in der Bahn warm ist. So trocknen die Haare.“
Wer jetzt gedacht hat, dass diese Logik für die feuchtnasse Bettina bestechend war, hat sich mit einer metaphorischen Machete geschnitten, soweit daneben lag ich mit meinem Bauchgefühl (manchmal machen andere Leute halt einfach keinen Sinn). Sie glubschte mich mit ihren ge-eyelinerten Rehaugen an, als hätte ich ihr gerade erzählt, dass die Nazis im Zweiten Weltkrieg einen Überschall-Zeppelin eingesetzt hatten. Schließlich begann sie dumm zu grinsen, so breit zu grinsen wie ein Clown auf Ecstasy, als sie erwiderte: „Auch eine Logik – Ich nehme dafür lieber einen Haartrockner.“
Wieso verzog sie nur so die Mundwinkel nach oben? Früher oder später würden sie bei den Augenhöhlen anlangen und darin verschwinden, daran herrschte nicht der geringste Zweifel! Lachte sie eigentlich mit mir oder über mich? Ein unwiderstehliches Friedensangebot musste her, und zwar dringend, denn wenn letzteres der Fall war, musste ich all meine Künste einsetzen, um sie von der Bedrohung zu einer Alliierten zu wandeln. Es gab nur einen Weg – er war hart, ja, es würde mich viel kosten, nichtsdestoweniger … Ich begann in meiner großen Handtasche zu wühlen, bis ich das bäckermeisterliche Wunderwerk, für das ich mich überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hatte, zu fassen bekam. Ein fester Griff, meine Eingeweide verkrampften sich bei der verstörenden Befürchtung, vielleicht keinen Ersatz mehr für diese Grandiosität mehr akquirieren zu können. Gleich würde ich meinen Puls, inklusive meiner Arhythmie, in meiner von alabasternen Haut bedeckten Halsschlagader fühlen können, die dann sicher so hervorblinken würde wie der Hals eines glucksenden Huhnes. Ich lief bei der Vorstellung puterrot an (zweifellos am ganzen Körper), mein Magen zog sich zusammen auf die Grösse eines Pingpongballs und meine Stimme versagte fast, als ich Bettina die in Papier gewickelte Geruchsexplosion unter die Nase streckte. „Butterzopf?“
Erschrocken zuckte sie zurück, so wie die Katze, die mir vor einigen Wochen vors Auto gerannt war und nun in einem Bauernhaus auf dem Kaminsims sitzen musste, sich die Pfoten leckte, sicher ohne die geringste Vorstellung davon, dass ich meinen armen, großen SUV wegen ihr schwer verletzt hatte. Dann, ganz rasch, breitete sich ein orgastisches Lächeln auf Bettinas Gesicht aus und ihr Ausruf war so begeistert, dass sie damit Zombies zum Leben erwecken könnte. „Na und ob! Danke, Leidensgenossin!“ Sie brach sich ein großes Stück ab, ein Flak-Bombardement aus Krümeln donnerte auf den mit einer Wasserschicht überzogenen Absatz vor der Tür hinunter, wo es sich niedersetzte und in dem Steinchenmuster elegant getarnt war. Irgendwann würde sie der unendliche Sog der Himmelsflut erreichen und ihnen dabei helfen, sich im Gully zu verkrümeln.
Bettina genoss den Butterzopf sichtlich, ich beobachtete sie dabei, wie sie Bissen um Bissen verschlang. Irgendwann schaffte sie es, trotz ihrem augenscheinlichen Heißhunger, mich zwischen Schlucken und Abbeißen mit einer Frage zu löchern. „Was machst du?“
„Ich hole Brot“, erklärte ich verwirrt, immerhin nahm ich an, dass das spätestens jetzt, da ich meine Beute mit ihr teilte, offensichtlich sein musste.
„Nein“, entgegnete sie mit vollen Mund, schluckte und erläuterte schließlich: „Ich meine, was du arbeitest, Scherzkeks! Ich dirigiere übrigens in der Konzerthalle ein Blasorchester.“
Scherzkekse hatte ich bisher noch nie probiert, bei meinem Glück wären die nicht viel besser als Niesspulver und explodierten, wenn man in sie reinbiss, also ignorierte ich Bettinas Kommentar einfach. Stattdessen machte ich mir über ihren Job Gedanken. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was daran, ein instrumentales Flatulenzkonzert zu kommandieren, so verlockend sein sollte (eigentlich hatte ich von Tuten und Blasen keinen blassen Schimmer). „Und, sind die laut?“, wollte ich erfahren – die wichtigsten Fragen stellt man immer zuerst. „Du weißt schon, die Bläser?“
„Die blasen dich weg“, gab sie zurück, wieder mit ihrem verstörenden Grinsen. Sie frisst ohne Mitleidsgefühle meinen Butterzopf weg, macht Wortspiele, lacht mich an, will mir die Hand schütteln – etwas stimmte mit dieser Person nicht, da war ich mir sicher. „Kannst ja mal vorbeikommen, ich habe Freikarten.“
„Danke, brauch ich da Ohrstöpsel?“, erkundigte ich mich und sie unterdrückte ein Glucksen. Absurder Sinn für Humor, diese Person, die fand sicher auch Telemarketing-Anrufe sehr unterhaltsam.
„Ich glaube nicht, nein. Aber wenn du empfindlich bist, kannst ja welche mitnehmen.“ Damit kramte sie tatsächlich zwei Karten aus ihrer Handtasche und hielt sie mir entgegen, während sie den letzten Bissen mit der Grazie einer Boa Konstriktor hinunterschlang. Ich nahm das beschichtete, mit unglaublich unpassenden Neonfarben bedruckte Papier an und verstaute es bei den kläglichen Überresten meiner kulinarischen Glückseligkeit.
„Hey, es regnet nicht mehr wirklich“, rief sie erfreut aus und hob ihren gepunkteten Schirm in die Höhe, der bestenfalls noch an die Überreste der Hindenburg erinnerte. Sofort veränderte sich ihr Ausdruck zu der Schnute eines schmollenden Kindes. Frustriert warf sie das Punkte-Wrack auf den Bürgersteig, bevor sie sich mir wieder zuwandte. „Na ja, ich sollte trotzdem mal weiter, mein Mann hat sicher schon eingekauft und ich habe versprochen zu kochen.“
„Das letzte reimt sich“, stellte ich fest, was ihre Augenbrauen dazu bewegte, sich irritiert zusammenzuziehen, doch ihre Miene heiterte sich gleich wieder auf. „Wir müssen unbedingt mal einen Kaffee zusammen trinken, du bist witzig.“
„Wenn du meinst …“, gab ich langsam zurück, bevor ich es schaffte, meinen alltertiefsten Befürchtungen Ausdruck zu verleihen. „Aber wir sind jetzt nicht sowas wie beste Freundinnen, die zusammen Schokolade essen und lästern müssen, oder?“
„Keine Schokolade, versprochen“, meinte sie und nestelte eine Visitenkarte aus der Handtasche, die sie mir reichte. Überrascht umfasste ich das Stück Papier, konnte mir aber die Frage nicht verkneifen: „Hast du keine .vcf-Datei, wie normale Menschen?“
Sie verneinte, wenigstens diesmal ohne diese entnervende Verwirrung, winkte mir zu und trippelte auf dem regennassen Pflaster von dannen. Eigentlich fand ich sie ja ganz nett, mir war nur echt ein Rätsel, wie ein Mensch wie sie so unlogisch, so ganz und gar weltfremd sein konnte. Es war schon beinahe niedlich, nicht Koala-niedlich, aber, nun, ihr wisst schon, niedlich.