„Kleines, reichst du mir bitte mal die Pommesgabel?“ Mom blinzelte meine kleine Schwester Martina durch das blendende Sonnenlicht an und die Vierzehnjährige lachte, bevor sie beschwingt das Plastikbesteck von der großen Decke hob und hinüberbrachte. Ich schwieg, wenn ich auch am liebsten mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme gefragt hätte, wieso meine liebe Mutter billiges Einwegbesteck, wie es ihn in tausenden Supermärkten gab, als Pommesgabel bezeichnete, nur weil wir uns unterwegs ein paar Tüten Fast Food von Burger King geholt hatten. Wenn ich es mir recht überlegte, erstaunte es mich ziemlich, dass mein Dad sich nicht darüber beschwert hatte, immerhin waren wir beim Angelausflug und da wartete jede vernünftige Familie so lange mit dem Essen, bis der Fisch gefangen war – doch nicht wir. Einerseits wussten wir alle, dass Dad nichts fangen würde und andererseits, wie meine Mutter es mit einem bedeutungsvollen, ja unheilschwangeren, Seitenblick in meine Richtung auszudrücken pflegte, gab es eine Vegetarierin unter uns.
Offen gestanden waren wir nicht mehr als ein zu belächelnder, dysfunktionaler Haufen von Individuen, die sich gezwungenermaßen miteinander abgaben. Manchmal hatten wir auch Spaß zusammen, doch es gab genügend Situationen, die man nur mit meinem aktuellen Lieblingswort beschreiben konnte: „Facepalm“. Mom war die Meisterin des Ungesagten und Halb-Gesagten, ein Ninja der passiv-aggressiv verabreichten Schuldgefühle und der hochoffizielle Gutmensch in unserer eingezäunten Wohnsiedlung. Dad nahm alles schulterzuckend zur Kenntnis und dazu brummte er auch. Wahrscheinlich waren für ihn die Dinge einfach so, wie sie waren – nichts fragen, nichts sagen, nicken, weitermachen. Mom motzte ihn an? Nicken, weitermachen. Die Welt ging unter? Nicken, weitermachen. Vielleicht war er sogar glücklich, doch das hätte er uns höchstens mit einem weiteren gleichgültigen „Hm“ mitgeteilt. Martina war eine wahre Frohnatur – ganz egal, was geschah, sie lächelte immer und wirkte glücklich, einfach so, ohne Grund. Ignoranz musste ein Segen sein und nein, das meinte ich nicht böse. Und dann war da noch ich, oder, wie Mom es so gerne sagte, das Sorgenkind. Mir war auch nicht ganz klar, wie ich in dieser Familie gelandet war, schließlich hatte ich so gar nichts mit ihnen gemeinsam. Doch das sollte wohl für immer ein Geheimnis bleiben, denn Desoxyribonukleinsäure funktionierte auf wundersame und in diesem Fall auch höchst verstörende Art und Weise. Ich hätte selbst nicht so genau sagen können, ob ich denn nun in der genetischen Lotterie den begehrten Sechser gezogen hatte oder die größte Verliererin aller Zeiten war.
„Nancy!“ Die penetrant hohe Stimme meiner Mutter riss mich aus meiner Gedankenwelt und ich fuhr zusammen. Eigentlich hatte ich schon gut zwanzig Jahre Übung darin, mich nicht von ihr erschrecken zu lassen, doch manchmal erwischte sie mich noch immer kalt. „Was ist denn?“
Sie klang mit einem Mal erstaunlich ruhig, beinahe entspannt, etwas, dass ich sonst von meiner Mutter kaum kannte. „Träumst du mal wieder?“
Verwirrt strich ich mir das lange Haar aus der Stirn und konnte mich damit noch rechtzeitig von dem Impuls abbringen, sie erstaunt anzustarren. „Kann sein.“ Okay, die Unsicherheit war mir anzuhören, das war neu. „Wieso meinst du?“
Mom lachte nur. „Man sieht es dir an. Du hättest Philosophie studieren sollen!“
„Um zu lernen, wie ein Typ vor zweihundert Jahren auf eine Idee kam, die heute jeder vernünftige Mensch mit etwas Interesse für Bücher und Wissenschaft längst kennt und die vielleicht totaler Bullshit ist? Nein, das klingt langweilig.“
„Nancy, du zickst wieder über dumme Menschen rum“, zischte Martina leise und ich konnte gerade noch knapp verhindern, puterrot anzulaufen. „Ich zicke nicht“, begann ich in meinem klugscheißerischsten Tonfall, „ich habe nur eine Meinung.“
Martina machte ihr Schmollgesicht und widmete ihre volle Aufmerksamkeit den Pommes. Wieder wanderte mein Blick zurück zu Mom, die mich nachdenklich musterte – irgendwas war im Busch und ich würde herausfinden was es war, koste es, was es wolle! Das war nicht meine Mutter, wie ich sie kannte, die mich zum Shoppen mitschleppen will oder mich zu überzeugen versucht, Pastellfarben anzuziehen. Ganz ohne die verstellte Stimme und die komische Mimik, die Subtext in ihre Aussagen brachte, war sie ein völlig fremder Mensch, eine Außerirdische …
„Nancy? Du bist schon wieder so weggetreten!“ Sie grinste verschmitzt! Echt jetzt?!
„Schau mal, ein Pirol!“, sagte ich halblaut und deutete auf den Vogel, der auf einem nahen Zaunpfahl saß und sich scheinbar von nichts beeindrucken ließ, vermutlich hatte er unser Fast Food erspäht. Sie folgte meinem Fingerzeig und grinste leise. „Der will nur unserer Kleinen das Mittagessen stibitzen, da mache ich jede Wette.“
Martina schaute auf und machte mit vollem Mund ein protestierendes Geräusch, bevor sie sich wieder ihrem Burger widmete, die Pommes waren längst Geschichte. Ihr schien nicht aufzufallen, dass mit Mom etwas anders war, ganz so, als hätte sie sich einfach so einen neuen Charakter verpasst. Oder bildete ich mir das alles nur ein?
„Sag mal, Nancy“, murmelte meine Mutter und kramte dabei eine Zigarette aus ihrer Jackentasche, „wohin möchtest du eigentlich diesen Sommer reisen?“
Langsam aber sicher wurde es gruselig. Normalerweise hätte ich jede Wette gemacht, dass sie meinen Vorschlag abschmettern würde, doch jetzt fragte sie mich sogar? Nein, das war noch nie geschehen, dasmachte keinen Sinn, das wäre wie wenn Homer Simpson Donuts hasste oder der Roadrunner von einem Traktor überfahren würde. „Rom wäre schön“, überlegte ich laut, „das Kolosseum, der Petersdom, die alten Ruinen …“
„Okay“, sagte meine Mutter entschlossen und lehnte sich auf dem ausgebleichten blauen Campingstuhl zurück. „Wir fliegen nach Italien.“
„Wow … Danke“, stockte ich und wusste nicht, ob ich mich freuen oder mir Sorgen machen sollte. Was um alles in der Welt war hier los? Ich musste in der Twilight-Zone gelandet sein! Martina lenkte mich etwas von meiner Irritation ab, als sie „Naja, Italien“ murmelte, den leeren Fastfoodbehälter weglegte und zum See davonschlenderte, um sich die Hände zu waschen und dann wohl Dad zu unterhalten und dabei seine Fische zu vertreiben. Ich sah meine Chance gekommen und hatte auch keine Lust, länger zu rätseln, also erkundigte ich mich geradeheraus: „Mom, was ist mit dir?“
Sie seufzte – endlich wieder ein vertrautes Geräusch – und drückte die Kippe aus, bevor sie sich nach vorn lehnte. „Okay, ich denke du hast eine Antwort mehr als nur verdient.“
Gespannt rutschte ich auf der riesigen, rotweiß karierten Picknickdecke nach vorn, bis ich nur noch einen Meter vor ihr auf dem Boden saß. Was auch immer jetzt kommen mochte, es wirkte, als hätte Mom ihre ganze Kraft und Überzeugung, dass diese Sache wichtig war, in die Waagschale geworfen. „Also?“
„Du weißt doch noch, dass ich dir erzählt habe, wie dein Großvater gestorben ist?“
Wie sollte ich diese Geschichte je vergessen? Er war Fernfahrer gewesen, bis eines Tages sein Truck aus ungeklärten Gründen von der Straße abgekommen war und eine Betonmauer gerammt hatte. Dass seine Ladung entflammbar gewesen war, hatte die Sache nicht besser gemacht. Frontal, wumm, aus. Damals war ich noch so klein gewesen, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, doch die Schauergeschichte hatte mich seit jeher begleitet. Ich nickte.
„Also“, fuhr Mom fort, „es gab dabei etwas, das ich dir nie erzählt habe.“ Sie machte eine Pause und kniff kur die Lippen zusammen. Mit einem kaum erkennbaren Kopfschütteln fuhr sie fort. „Kurz vor seinem Unfall hat dein Großvater ab und an etwas gezuckt. Erst hat sich niemand etwas dabei gedacht und ich hatte damals keine Ahnung. Nach seinem Tod habe ich dann den Brief gelesen, den er uns hinterlassen hat und … Er war krank.“
„Moment, er hat sich umgebracht?“, rief ich halblaut aus. Nein, das hatte ich nicht gewusst.
Mom schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht, ich denke eher, dass er seinen Körper nicht mehr genug unter Kontrolle hatte, um den Lastwagen zu lenken. Da reicht eine Sekunde, du weißt schon …“ Traurig sah Mom auf ihre Hände. „Ich habe alle Informationen dazu zu vergessen versucht, habe nie mehr daran denken wollen, aber es ist nicht eine Krankheit, die man einfach so ignorieren kann, sondern eine, die ich auch haben könnte.“
Ich schluckte leer, denn ich hatte eine Vorahnung. Ich stellte meine Frage mit trockenem Mund und klang ungewohnt heiser. „Was genau hatte Grandpa?“
„Chorea Huntington“, entgegnete Mom und seufzte gleich noch einmal. „Aber vor kurzem habe ich eingesehen, dass ich mich testen lassen sollte, immerhin bin ich auch nicht mehr die Jüngste. Ich habe euch nichts gesagt, weil ich nicht wollte, dass ihr euch um mich Sorgen macht.“
Ich hatte meine Hände so verkrampft, dass sich die Nägel in meine Handflächen gruben und schmerzten. Ich musste es wissen, jetzt gleich! „Und?“ Wieso klang meine Stimme nur so nonchalant?
„Die Ergebnisse sind negativ, ich bin gesund“, erklärte meine Mom mit einem Lächeln. „Ich werde nicht so früh sterben, wie ich es immer befürchtet hatte und ich habe nichts Grauenhaftes an euch vererbt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin.“
Langsam begann ich, die Information zu verdauen und es sickerte in meinen Verstand, was das für mich bedeutete. Dass meine Mutter mir bis heute nicht gesagt hatte, dass ich irgendwann zwischen dreißig und vierzig Jahren hätte das Zeitliche segnen können. Fifty-fifty mochten für sie gute Chancen sein, aber ich sah das anders. Ja, wir waren noch immer eine dysfunktionale Familie. Danke, Mom.