Dies ist der 4. und letzte Teil der Fortsetzungsgeschichte „Das Manuskript“.
„Verstanden.“ Charlie hielt das Klapphandy zwischen Zeigefinger und Daumen einige Zentimeter vom Ohr. Er hatte das Gerät seit Jahren, wechselte regelmäßig die Sim-Karte. Hin und wieder daddelte er Snake, ansonsten erfüllte das alte Ding einzig und allein einen Zweck. „Ich kümmere mich darum.“
Die Frauenstimme am anderen Ende bestätigte, wie üblich klang sie geradezu herrscherisch. Das gehörte zu ihrer Marke, der Persona, die sie für ihre Position jederzeit perfekt zu spielen hatte. Manchmal glaubte Charlie, ihr die Müdigkeit anzumerken. Vermutlich war das lediglich eine Projektion seinerseits. „Versau das nicht, Charlie.“
„Werde ich nicht. Ich sehe zu, dass dein Mann ungestört im Museum arbeiten kann und mit dem Manuskript davonkommt.“ Er hasste es, wie sie mit ihm sprach, ihn wie eine dumme Töle behandelte. Doch was sollte er tun, außer auf ihr Kommando zu hören? Sie hatte ihn sich gekauft, bis er seine Schulden abgestottert hatte, war er ihr Eigentum, ihr persönliches Schoßhündchen. „Vertrau mir.“ Sie lachte auf und beendete den Anruf ohne Verabschiedung. Charlie klappte sein Handy zu, verstaute es in der Innentasche seiner Weste, stieß die Toilettentür mit der Schulter auf und ging zum Waschbecken links außen neben dem Ausgang. Zwar war er bloß für sein Telefonat in den Waschraum gekommen, ihn ohne Händewaschen zu verlassen, fühlte sich dennoch falsch an. Er beobachtete die Seifenblasen, die den Abfluss hinunter rannen, atmete den beißenden Geruch des Zitrusreinigers tief ein und schlenderte zurück ins Restaurant, wo Jo auf ihn wartete.
„Ich kann mein Glück noch gar nicht fassen“, plapperte der Junge vor sich hin. „Sie ist eine Wucht!“ Jo Taylor war Charlie im Mai zugeteilt worden, kam frisch von der Akademie und wenn alles nach Plan liefe, wäre er der letzte Partner in seiner Polizeikarriere. Die Glocke über der Tür klingelte, als sie aus dem Bistro auf die Straße traten. „So eine Schönheit hast du noch nie gesehen, sie ist ein Engel.“ Charlie knackte mit den Knöcheln und drückte den Knopf auf dem Autoschlüssel, schwieg seinen plaudernden Arbeitskollegen an. „Naja, kein Engel im wortwörtlichen Sinn, natürlich. Sie hat eher so eine mysteriöse Schönheit, eine, die dich zum Grübeln bringt. Sie ist so zart, aber überhaupt nicht schwach, sondern eine richtig starke Frau, die genau weiß, was sie will. Neulich, als wir zusammen im …“ Eigentlich hatte Charlie sich seinen Dienstabend anders vorgestellt, wollte die Zeit vor dem Ruhestand in Frieden verbringen. Stattdessen schlug er sich mit einem vor Enthusiasmus strotzenden Grünschnabel rum. Unmotiviert marschierte er über den Gehweg zum Streifenwagen, beschleunigte, um den anderen abzuhängen. Vergeblich. „… lustig, oder? Wir wollen nächsten Sommer zusammen nach Puerto Rico fahren, sie hat dort Familie und …“ Er blendete das Geschwätz aus und stieg auf der Fahrerseite ein. Wahrscheinlich war das die Strafe dafür, dass er sich damals gegen Donovan Phersons Beförderung zum Polizeichef ausgesprochen hatte. Charlie war unklar, wie Don, der denkfaulste Kerl, der ihm je untergekommen war, so einen Posten hatte erreichen können. Die da oben, wer auch immer sie waren, bevorzugten ihre Lakaien wohl gefügig. Er grunzte verdrossen und sprühte Desinfektionsmittel auf das Lenkrad. Im Grunde war er Don ziemlich ähnlich, nur gehorchte er einem anderen Meister, telefonierte in dreckigen Klos und schlug sich mit einem gesprächigen Jungspund herum, während Don sich im Eckbüro in der Zentrale den Hintern platthockte, rauchte und beim Mittagessen mit dem Bürgermeister Martinis soff. „… überlegen, uns eine Katze zuzulegen. Ich hätte lieber einen Welpen“, redete Jo pausenlos vor sich hin, kaum hatte er es sich im Schalensitz gemütlich gemacht. „Habe ich dir schon erzählt, wie sehr mich die Hundestaffel interessiert? Keine Bange, ich bleibe noch ein paar Jahre bei dir“, kicherte er und schnallte sich an. „Vielleicht beantrage ich nach deiner Pensionierung die Versetzung.“ Er schmunzelte und klopfte Charlie, der sich murrend wegdrehte, auf die Schulter. „Egal. Wo war ich? Ach ja, die Katze.“ Charlie knurrte und streckte den Schlüssel in die Zündung. „Meine Liebste hilft freiwillig im Tierheim aus. Ist das nicht wunderbar? Ein ganz toller Mensch ist sie. Naja, jedenfalls gibt es dort einen uralten Kater und in den hat sie sich verliebt.“
„Eine Mietze für die Mietze“, nuschelte er und gähnte. „Mach ihr die Freude.“
„Hm, Mietze nenne ich meine Freundin jetzt nicht unbedingt.“ Er sagte es mit einem Lächeln, die Verärgerung über Charlies Wortwahl war ihm trotzdem anzusehen. Sie gehörten einer anderen Ära an und beiden war es unangenehm. Er würde es bevorzugen, von dem jüngeren Kollegen angefahren zu werden, diese herablassende Nachsicht hing ihm zum Hals raus. „Ich nenne sie meistens Vögelchen, weil sie in ihrem Essen rumpickt, als wäre sie eines. Ihr Kosename für mich ist auch total süß“, schwärmte Jo unbeirrt vom frustrierten Schnauben seines Partners. „Bienchen. Wegen meinem gestreiften Pyjama, den ich …“
„Herrgott nochmal, halt die Klappe!“, unterbrach ihn Charlie, startete den Wagen und reihte sich, ohne den Blinker zu setzen, in den Verkehr ein. „Du bist vielmehr eine lästige Wespe. Surrst mir unentwegt um den Kopf mit deinem hirnlosen Geschnatter“, nörgelte er, verpasste dabei beinahe die Ausfahrt und bog scharf ab. Ein Geländewagen auf der rechten Spur musste abbremsen und hupte. „Scheiße!“, fluchte Charlie. „Was hat der Wichser für ein Problem?“
„Du bist ihm direkt vor die Haube gefahren“, gab Jo kleinlaut zu bedenken und klammerte sich an den Haltegriff. „Jup. Jup, jup, jup. Schon gut.“ Er wandte sich nervös ab, als Charlie ihn anfunkelte.
Eine Weile blieb es tatsächlich ruhig, Jo guckte aus dem Fenster, zerkaute geräuschvoll ein Pfefferminzbonbon, bis er schließlich fragte: „Wieso fahren wir über die Neunzehn in Richtung Tiergarten? Unsere Route führt über die Dreiundzwanzig.“
„Na, weil“, stammelte Charlie, zupfte an seinem Hemdkragen und log: „Order von Pherson. Ein anderer Wagen ist aufgefallen, deshalb machen wir eine Extrarunde.“
„Ach so. Ja dann“, meinte Jo, holte Luft, wahrscheinlich um wieder von seiner Freundin, dem senilen Kater oder sonst irgendeinem Mist anzufangen.
„Mir schlafen alle Glieder ein“, klönte Charlie und rollte den Kopf nach links und rechts, bis sein Nacken knackte. „Ich bin zu alt für diesen Scheiß.“
„Ach was, so alt bist du gar nicht. Hast du mal Yoga probiert? Auf der Akademie hat man mich dafür ausgelacht, aber es ist der ideale Ausgleich für den strengen Berufsalltag“, erklärte Jo ernst.
„Aha.“ Charlie rieb sich die Schläfen und seufzte tief. „Weißt du, für was ich zu alt bin? Für einen Partner, der Leathal Weapon Zitate nicht erkennt.“
„Leathal Weapon? Ist das eine neue Netflixserie?“ Erneut ächzte Charlie, wollte dazu ansetzen, seinem unkultivierten Gegenüber Filmkultur näher zu bringen, da ging ein Funkspruch ein: „Zentrale an alle Einheiten. Anonymer Anrufer meldet einen 072 im Museum. Kann da mal jemand vorbei?“
„Ein Einbruch!“, stieß Jo aufgeregt aus, hüpfte regelrecht aus seinem Sitz und nahm das Funkgerät. „Zentrale, hier Wagen Zweiundvierzig, wir sind in der Nähe.“
„Wir fahren gleich vor“, bestätigte Charlie und lenkte den Wagen in die nächste Nebenstraße. Sein Plan war aufgegangen, nun musste er bloß zusehen, dass Jo die Füße stillhielt.
„Zentrale an Wagen Zweiundvierzig. Das Museum liegt nicht ihr eurem Bereich, wo seid ihr?“
„Wir sind einem Stau ausgewichen und über die Neunzehn gefahren“, antwortete Charlie prompt. Er brauchte Jo nicht anzuschauen, garantiert beäugte er ihn skeptisch.
„Verstanden. Danke Jungs. Meldet euch, wenn ihr Verstärkung benötigt.“
„Klar.“ Charlie beendete den Kontakt zur Zentrale. „Lass gut sein, Junge“, sagte er und brachte den Streifenwagen beim Seiteneingang des Museums zum Stillstand.
„Pherson weiß nichts von der geänderten Route?“, verlangte Jo zu erfahren, löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Beifahrertür.
„Lass gut sein, Junge!“, wiederholte Charlie, dieses Mal in einem harscheren Tonfall. „Du verstehst vieles noch nicht. Vertrau mir einfach.“ Er drehte sich Jo zu und sah seinen Partner eindringlich an. „Und jetzt warten wir, hast du kapiert?“
„Warten? Charlie, ich …“ Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, war offensichtlich überfordert mit der Situation. „Charlie, ich weiß nicht, was vor sich geht, aber so habe ich mir das echt nicht vorgestellt, als ich in der Akademie war.“
„Vergiss die Akademie, da lernst du nicht, wie es in unserem Job läuft. Du hast keine Ahnung, Junge“, versuchte Charlie den anderen zurückzuhalten, doch dieser war bereits ausgestiegen und fauchte: „Ich habe wirklich keine Ahnung, Charlie. Keine Ahnung, was dein Problem ist.“ Er brummte etwas Unverständliches, ging einige Schritte vom Wagen weg, machte auf dem Absatz kehrt, hielt kurz inne und fügte schlussendlich an: „Kommst du mit?“
„Fuck, fuck, fuck.“ Charlie schlug aufs Armaturenbrett, raufte sich die Haare. „Fuck!“ Er schnaufte durch, richtete seine Frisur wieder, packte das Desinfektionsmittelfläschchen in seine Brusttasche und verließ den Wagen. Er musste Jo aufhalten, dieser reagierte allerdings weder auf den Funk noch auf die Anrufe auf seinem Diensthandy. Er hatte alles so satt. Jo Taylors unerträglichen gewissenhaften Eifer, das andauernde Geschwätz, Phersons großkotzige Visage und vor allem sich selbst. Nie hätte er damit gerechnet ein korrupter Cop zu werden, war halt irgendwie da reingerutscht, eine Poker-Runde nach der anderen. Nun hing er zwischen den Stühlen, erledigte die Drecksarbeit für die Mafia und sogar dabei versagte er. Er hatte Jo unterschätzt, hätte sich eine bessere Ausrede einfallen lassen müssen, statt ihm mit Vertrauen zu kommen. Als gäbe es einen einzigen Grund, weshalb Jo ihm trauen sollte, genauso gut hätte er ihn anfeuern können, ins Museum zu rennen. Charlie ging um das Auto herum, schnappe seine Dienstwaffe vom Rücksitz und wollte sich auf den Weg machen, da hörte er Schüsse.
Charlie rannte, naja, er schleppte sich, so schnell seine arthrotischen Knie es zuließen, zum Lieferanteneingang. Da stolperte eine Gestalt hinaus, blieb stehen und für einige Sekunden sahen sich Constantin und Charlie in die Augen, Constantin zuckte mit den Schultern, ehe beide ihren Weg fortsetzten. Marisols Mann hatte es aus dem Museum geschafft, Erleichterung stellte sich trotzdem nicht ein, denn der Mafioso würde ihr bestimmt davon berichten, einen Cop getroffen zu haben und verraten … „Jo!“, schrie Charlie, als ihm dämmerte, was Constantins Flucht zu bedeuten hatte. Er eilte ins Museum, zückte das Funkgerät und rief: „Jo! Jo, wo bist du?! Jo, alles okay? Jo. Jo!“
„Charlie. Hier Jo. Ich wurde angeschossen“, meldete sich der Jüngere hörbar unter Schmerzen. „Ich bin im Büro des Nachtwächters. Hilfe ist unterwegs.“
Charlie starrte auf den siffigen Wackeldackel, der auf dem Schreibtisch des Nachtwächters stand, während dieser Jo notdürftig verarztete. Seine Verletzung war oberflächlich, die Blutung konnte mit einem simplen Druckverband gestillt werden und der Junge war schon wieder in Plauderlaune.
„Wenn meine liebste Nora davon erfährt, wird sie mir sicher eine Standpauke halten“, lachte er und zischte, als der Nachtwächter an der Mullbinde zerrte.
„Sorry. Das muss fester“, murmelte der Security-Mann und wandte sich an Charlie: „Sowas ist hier noch nie vorgekommen.“
„Hm“, machte Charlie, noch immer vom Wackeldackel hypnotisiert.
„Gefällt Ihnen Herr Hanswurst, Officer?“
„Herr Hanswurst?“, echote Charlie amüsiert und bückte sich zu Jo. „Ach, Junge. Es tut mir leid, ich hätte mitkommen sollen. Die Arschgeige, die dich angeschossen hat, kriegen wir. Vertrau mir.“ Charlie würde alles in seiner Macht stehende tun, eben das zu verhindern. Flöge Constatin auf, bekäme er es nicht nur mit Marisol, sondern mit dem ganzen Polizeidepartement, dem Staatsanwalt zu tun.
„Schon okay, Charlie. Halb so wild“, winkte Jo ab, lehnte sich auf dem Bürostuhl zurück und deutete breit grinsend auf ein Manuskript, das neben Herrn Hanswurst auf dem Tisch lag. „Der Kerl wollte das Buch da, aber Merle hat es vor ihm versteckt. Damit kriegen wir ihn überführt, oder?“ Charlie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, ließ sich auf den zweiten Stuhl fallen und fühlte, wie sich ein dicker Kloss in seiner Kehle ansammelte. Hinter ihm nickte Herr Hanswurst.