Chartreuse

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Kurzgeschichte erschien im Rahmen der achten Clue Writing Challenge.

„Ach, Hagen, was für eine wunderbare Idee du da hattest“, schwärmte Danielle, nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen Zeigefinger und Daumen und kitzelte ihren Freund. „So schön ist’s.“ Um sie herum verteilt stapelten sich Pizzaschachteln, Chipstüten sowie ausgetrunkene PET-Flaschen. Bald vierundzwanzig Stunden lagen die beiden schon im Bett. Ihr Zimmer in der kleinen Pension verfügte über ein Panoramafenster, sie konnten sich kaum von der Aussicht losreißen. Das Moosgrün der Flur nahm im verglühenden Abendrot einen violetten Ton an, ging scheinbar nahtlos über in die dunkle See, bloß ein weit entfernter Leuchtturm deutete an, wo Land und Meer sich trafen. Hagen seufzte schlapp und streckte sich, indes betrachtete sie den Horizont. „So schön.“ Danielle hatte unzählige Sonnenuntergänge erlebt, dieser dünne, scharf abgegrenzte Streifen in grellem Neongelb war ihr aber neu. „Und irgendwie seltsam“, fügte sie an.
„Ja, die Farbe ist merkwürdig“, stimmte er zu, kniete sich hin und beugte sich über sie, um ihr einen Kuss auf den Nacken zu geben. „Wie wäre es, wenn du statt der Landschaft mal mich anschaust?“ Amüsiert präsentierte sie ihr schiefes Lächeln, dem er seit jeher verfallen war, dann gähnte sie ihn ungehemmt an. Ihre Tour durch Europa dauerte bereits vier Wochen, selbst für junge Verliebte eine anstrengende Reise von Ort zu Ort und die Zugfahrt von Prag ins Ostfriesland hatte ihnen den Rest gegeben. „Oder wir schlafen eine Runde“, lachte Hagen auf, ließ sich in die Kissen fallen und zog den Blondschopf auf seine Brust. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, nuschelte sie, schielte nochmals auf den bizarren Sonnenuntergang. Ernst fügte sie an: „Wehe du schnarchst!“
„Wie bitte?!“, empörte er sich gespielt. „Da ratzt du wie ein asthmatisches Walross und unterstellst mi…“
„Ihr müsst sofort aufstehen.“ Erschrocken schossen sie hoch, Danielle riss die Decke an sich und entblößte ihren Freund, der brüllte: „Was wollen Sie?!“
„Keine Zeit dafür“, murrte Frau Isler, die Gastwirtin, und eilte an ihnen vorbei zum Einbauschrank. „Zieht euch an und kommt mit, wenn ihr mit in den Bus wollt.“
„Bus? Was …?“ Aufgescheucht krabbelte Danielle zum Bettrand und fischte ihre Klamotten vom Boden. „Was ist los?“ Frau Isler hielt inne. Sie schnaufte hörbar durch, ehe sie sich ihnen zuwandte und keifte: „Habt ihr nicht rausgesehen?“ Mit halb hochgezogenen Hosen schielte Danielle auf den neongelben Streifen, anschließend meinte sie schulterzuckend: „Doch, natürlich.“ Hagen, der nach wie vor nackt zwischen den Laken hockte, nickte.
„Meine Güte“, stöhnte Frau Isler genervt, langte blindlings in den Schrank und nahm eine Regenjacke hervor, bevor sie auf Hagens Intimbereich deutend wiederholte: „Keine Zeit dafür. Zieht euch an!“ Nun rappelte sich auch Hagen auf, schlüpfte in seine Unterhose und fuchtelte wild mit seinen Socken, die er verkehrtherum auf einen Sessel geworfen hatte.
„Das Neongelb?“, fragte Danielle den Kopf aus ihrem übergroßen Wollpullover steckend.
„Neongelb?“ Die unwirsche Pensionsbesitzerin kramte einige Dinge aus der Kommode im Eingangsbereich und stopfte sie in einen IKEA-Sack. „Das ist nicht Neongelb, das ist Chartreuse! Himmelherrgott, du Schkrapsel, habt ihr die Nachrichten verpasst?“, blaffte sie auf das winzige Fernsehgerät aus den Neunzigerjahren deutend.
„J… Ja“, machte das Mädchen irritiert. Genau das war ein Ziel ihres Urlaubs gewesen, sich von den Medien, ja, ganz generell allem, abzuschirmen. Eine mentale Ruhepause vor der Welt nannten sie es und diese war dringend notwendig.
„Döösbaddel“, brummte Frau Isler vor sich hin, legte ihre Hand auf die Türklinke und schnauzte in Richtung ihrer Gäste: „Schietendidi. Ihr habt drei Minuten.“ Damit rauschte sie hinaus in die kränklich gelb leuchtende Nacht.
„Was soll der Scheiß?“ Hagen plumpste wieder aufs Bett und beobachtete, wie seine Freundin hektisch nach der Fernbedienung suchte.
„Da“, stieß Danielle aus, drückte auf einen Knopf und beide starrten gebannt auf den Fernseher, dessen Deckglas dieses scheußliche Gallengelb reflektierte. Einige Sekunden passierte nichts. Dann, als sie schon dachten, das Gerät sei kaputt, flackerte ein Bild auf. Ein abgedunkeltes Set gab es zu sehen. Vor einem Green Screen war ein massives Pult aufgebaut, an dem niemand saß.
„Schalt mal um“, murmelte Hagen seinen Blick nicht abwendend. Auch auf dem nächsten Sender war keine Menschenseele zu entdecken, lediglich ein leergefegtes Nachrichtenstudio. Diesmal erschien allerdings ein Lauftext am unteren Bildrand.

— Globaler Notstand ausgerufen — Aus Dubai, New York und Tokyo werden Angriffe gemeldet — Pressekonferenz mit der Verteidigungsministerin abgesagt, Ministerin spurlos verschwunden —

„Sollte jetzt nicht ‚Rick and Morty‘ laufen?“, stammelte Hagen. Danielle zappte weiter, ein Kanal nach dem anderen zeigte dasselbe Bild.

— Zusammenhang mit weltweitem Wetterphänomen vermutet — EUMS berät sich in Brüssel — Wissenschaftler ratlos, schließen außerirdische Tätigkeit nicht aus — Globaler Notstand ausgerufen —

„Außerirdische …“ Hagen sprang hoch und schlüpfte in seinen Parka. „Wir gehen.“
„Jup. Was auch immer vor sich geht, wir haben noch zwei Minuten“, bestätigte Danielle, schnürte ihre Schuhe, warf die Reisetaschen zum Eingang und trieb ihren Freund an: „Hophop!“
Vorsichtig schob Hagen die Tür auf. Der Parkplatz war ausgestorben, weder Autos, Fahrräder noch Wohnwagen standen auf ihren Plätzen.
„Fuck, wie lange haben wir geschlafen? Hier war alles randvoll.“
„Zu lange“, erwiderte Hagen und setzte sich in Bewegung. „Wo ist der Bus?“
„Vielleicht hinter dem Gasthaus.“ Danielle glaubte, dort bei ihrer Anreise einen verbeulten VW-Bus gesehen zu haben und hastete los, da packte Hagen sie an der Schulter und zerrte sie zurück ins Innere. „Was is… Oh, mein Gott!“
Der Himmel brach in ein übelkeitserregendes Lichtgewitter aus, die Erde erschütterte, erfüllte die Luft mit einem sonoren Brummen, einem Geräusch, das kein Mensch je zuvor gehört hatte. Danielle wurde auf die Fliesen geschleudert, erbrach sich ob dem Vibrieren ihres Magens. Hagen schaffte es gerade noch so hinein, das Kies auf dem Parkplatz wirbelte hoch und ein umgekippter, kakifarbener Bulli rutschte unter tosendem Lärm um die Ecke. „Verdammte Scheiße!“ Das Gefährt flog geradezu, drehte sich mehrfach um die eigene Achse und kam schließlich am Bordstein vor einer der Gästehütten zum Stehen. Plötzlich war alles still, die Lichtflut ging aus, als hätte jemand den Schalter für dieses widerliche Chartreuse gefunden, selbst das angenehme Tosen des Ozeans war vollends verstummt. „Verdammte Scheiße“, keuchte Hagen erneut und kroch einige Meter nach hinten zu Danielle. „Was war das?“
„Woher soll ich das wissen“, gab sie zur Antwort. Sich den Mund abwischend versuchte die junge Frau sich aufzurichten und braucht vier Anläufe, bis es ihr gelang. „Ist es vorbei?“
„Bleib hier!“ Hagens Protest ignorierend stolperte sie zur Tür um ihren Rucksack zu holen und schrie auf. Aus der zerschlagenen Windschutzschreibe des VW-Busses hing Frau Islers Oberköper in einem unnatürlichen Winkel heraus. Einige der Scherben waren blutverschmiert, auf anderen war das netzartige Muster des gebrochenen Sicherheitsglases gut zu erkennen. „Frau Isler“, entfuhr es Danielle, die sofort loslaufen und der Pensionsbesitzerin helfen wollte.
„Danielle!“, brüllte ihr Hagen hinterher. „Danielle, bleib hier!“ Aus schockgeweiteten Augen sah er zu, wie das Unmögliche geschah. Kaum hatte seine Freundin den Parkplatz betreten, brach ein donnerndes Heulen aus Frau Isler, ihr verrenkter Leib zuckte, versteifte sich und explodierte in einer grüngelben Nebelwolke, die Danielle verschluckte. Ohne zu zögern, ja, ohne überhaupt nachdenken zu können, stürzte er ihr hinterher und seine Gedanken lösten sich auf, wurden von Chartreuse verschlungen.

Autorin: Rahel
Charaktervorgaben: Hagen, Danielle, Frau Isler
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