Ich lehnte mich frustriert auf dem Beifahrersitz zurück, als unser Prius mitten im Kreisverkehr zum Stehen kam. Zuckende Blaulichter spiegeln sich in der regennassen Straße, Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizisten blaffen wild durcheinander. Zwei Personenwagen waren in den Unfall verwickelt, der sich vielleicht zwanzig Meter nach unserer Ausfahrt abgespielt hatte und alles verstopfte. Mit einer Umleitung würden wir nicht beglückt werden, denn auf der rechten, abgesperrten Fahrbahn standen am Sonntagabend verlassene Bagger, auf der linken fehlte gar der Belag. Tinas sehnige, von einem Rollkragenpullover verdeckte Gestalt, zeichnete sich gegen die Abenddämmerung und das Lichtgewitter der Rettungskräfte ab, während sie ungeduldig auf das Lenkrad tappte. Ich beobachtete sie eine Weile geistesabwesend, ehe ich lapidar fragte: „Hm. Was jetzt?“
„Der einzige Weg wäre zurück, nur ist das eine Einbahnstraße, also geht es vorerst mal nicht weiter.“ Sie öffnete das Fenster und zündete sich eine Kippe an. Die Flamme erleuchtete das Wageninnere kurz.
„Das habe ich nicht gemeint.“ Alleine der Gedanke daran, dieses Gespräch führen zu müssen, widerstrebte mir. Lieber griffe ich in einen Eimer voller Heroinspritzen. „Du weißt schon, die andere Angelegenheit.“
Tina machte ein zustimmendes Geräusch, ich hegte den Verdacht, dass sie von Beginn an gewusst hatte, über was wir sprachen – dasselbe Thema, das uns seit dem Aufbruch nach der Nachmittagsvorstellung des billigen Actionfilmes beschäftigt hatte. Wenn man einander lange genug kannte, wurden solche Subtilitäten lesbar, verständlich – oder zumindest leichter zu erraten. Ich seufzte, lächelte meine Frau an. „Wenn wir diese Diskussion noch zwei Stunden und ungefähr zehn Minuten weiterführen, haben wir mehr Zeit darauf verwendet, als wir damals für unsere Ehevertrags-Formalitäten gebraucht haben.“
Mit einem unterdrücken Prusten wandte sich Tina mir zu. „Ja, aber das lag an deinen Checklisten. Gütertrennung – check. Patientenverfügung – check. Und so weiter.“
„Hey, meine Checklisten verhindern jegliche Fehlplanung, die haben ihre Qualitäten“, verteidigte ich mich sogleich, wohl wissend, wie sehr sie meine Gründlichkeit im Grunde zu schätzen verstand.
„Ist ja gut“, konterte sie, den Handrücken vors Gesicht haltend, als sie der Schweinwerfer eines wegfahrenden Krankenwagens blendete. „Du musst zugeben, dass es uns dieses Mal sogar mit deinen Checklisten schwer fällt, eine Entscheidung zu treffen, immerhin geht es keineswegs nur um zwei vernunftbegabte erwachsene Personen. Man denkt an hundert Szenarien, wie etwas schiefgehen könnte …“ Sie schwieg, schluckte. Man musste sie einfach gern haben – die Frau, welche es in den Vorstand einer der größten Konzerne des Landes geschafft hatte, wurde bei diesem Thema unglaublich unruhig. Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet, als ich es auf den Tisch gebracht hatte.
„Natürlich kann man das mit einer Checkliste angehen, man kann alles mit einer Checkliste angehen. Wir haben ja den ganzen ‚Kniefall und Verlobungsringe in Champagnergläser‘-Kram ausgelassen, obwohl es eine soziokulturelle Konvention ist, sondern eine sinnvolle Liste erarbeitet. Ergo: Adoptieren oder …“
„Aaaaah!“, schrie Tina, gleich müsste ihr Kopf explodieren, ganz sicher. Der wahre Kreisverkehr war nicht da draußen, sondern bei uns.
Ich redete beruhigend auf sie ein, versuchte, möglichst vernünftig zu klingen. „Schatz, wir diskutieren die Angelegenheit nun seit einem Vierteljahr und irgendwann müssen wir uns entscheiden.“
„Es ist eine riesige Verpflichtung.“ Die Verantwortung fiele größtenteils in mein Ressort, das war ihr klar, schließlich arbeitete ich zuhause. Wir sahen stumm dabei zu, wie die Feuerwehrleute damit begannen, ihre Ausrüstung zusammenzusuchen, ehe Tina murmelte: „Na, aus finanzieller Sicht ist es kein Problem.“
„Gut“, meinte ich, im Klaren darüber, dass sie das tausendmal gesagt hatte, stets gefolgt von jenen Grübeleien, die bedeutend problematischer waren. „Trotzdem, es gibt so vieles, das mir Angst macht … Schau dir zum Beispiel diesen Unfall an. Da hat bestimmt einer ins Gras gebissen. Stell dir jetzt vor, das passiert mit uns, wer würde dann …“
„Du fährst einen Prius, gehörst folglich zu den Guten und die Guten sterben nie, das weißt du doch!“ Du meine Güte, wie schlecht ich mit sowas war, mehr als dumme Witze gab mein Repertoire nicht her! Ich bevorzugte Checklisten. Nun ja, Tina eigentlich auch. Eigentlich.
„Und wenn wir adoptieren, wie gehen wir mit Dingen wie Verletzungen, Behinderungen, was weiß ich, Kleinwüchsigkeit, um? So etwas soll kein Ausschlusskriterium beim Adoptionsverfahren sein, aber man möchte niemanden deswegen bevorteilen.“
Ich liebte Tina für ihre Sturheit, ihre Entschlossenheit, ihren Dickschädel, nur diesmal schien sie sich im Kreis zu drehen. Bald würde ich mich auf den Rücken legen und Schreikrämpfe bekommen. Wieso klappte es diesmal nicht einfach mit einer Checkliste?! Alles in unserer Welt ließ sich mit einer Checkliste abhandeln. „Schatz, meinst du, wir sollten uns mal entscheiden? Wir wissen beide, was bei der Checkliste, die wir gemeinsam ausgewertet haben, herausgekommen ist. Außerdem, selbst wenn eine solche Entscheidung das Leben verändert, wenn sie eine ganze Menge Verantwortung bedeutet, ich werde mich ja größtenteils darum kümmern.“
Über Tinas Lippen flog ein freudiges Grinsen, als sie erkannte, wie die Polizei sich daran machte, die Straßensperre abzubauen, dann wurde sie sogleich wieder ernst. „Hm. Du hast ja Recht, nur macht mich die Sache nervös. Unterm Strich werde ich genauso aufgeregt sein, jedes Mal wenn etwas ist, immerhin sind – wären – wir eine Familie.“ Ihre Finger hielt sie verkrampft ums Lenkrad, sie kämpfte mit sich. Ich kam mir schlecht vor sie so gedrängt zu haben, schließlich war sie zweifellos meine große Liebe (Ja, das darf man so sagen, schon ihre Freude für Checklisten machte sie zu der einen in zehntausend). Nur, ich mochte, ich konnte nicht mehr warten und brauchte eine Antwort, also erlöste ich Tina nicht aus ihrem Kampf. Mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad trommelnd starrte sie verbissen auf den Polizisten vor uns, während die Scheibenwischer ihren unendlichen Tanz vollführten. Den Mund zugepresst, die Augen zusammengekniffen – sorry, Tina, es tut mir leid.
„Okay.“ Sie nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Gut, gehen wir nach Checkliste vor.“
Der pitschnasse Polizist hatte mittlerweile die Absperrungen zur Seite geräumt und setzte nun dazu an, die Wagen vor uns durchzuwinken. Ich legte eine Hand auf Tinas Schulter, während sie vorsichtig beschleunigte, sich an der Unfallstelle vorbei in den Verkehr einfädelte. „Irgendwie bin ich stolz auf dich, Schatz. Du hast mir trotz meinem Drängeln nicht den Kopf abgerissen und letztendlich …“
Wir passierten gerade ein umgekipptes Autowrack, als sie mich unterbrach. „Moment, du hast keinen Führerschein! Was ist, wenn ich in einer Sitzung bin und der Welpen zum Tierarzt muss …?“