Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Guten Morgen, Oscar Zwölf Dreitausend Zweiundvierzig“, verkündete Ciopova, gefolgt von einer regnerischen Geräuschkulisse. „Es ist fünf Uhr fünfundvierzig, Sie werden in einer Viertelstunde den Frühsport beginnen.“ Die Helligkeit wurde langsam hochgefahren, seine Gemächer glommen in sattem Orange auf, das sich nach und nach in Magenta, dann in ein staubiges Gelb verblendete. „Noch zweiunddreißig Stunden bis zu Ihrer Verpartnerung.“
„M-hm. Morgen“, nuschelte Oscar verschlafen, setzte sich an den Bettrand und rieb sich über Gesicht und Haare. Das Aroma von koffeinhaltiger Nährstofflösung waberte ihm entgegen, kitzelte ihn wach. Er streckte sich ausgiebig, gähnte und schlurfte anschließend ins andere Zimmer, in dem ihn sein Frühstück erwartete. Die Beleuchtung über dem Nahrungsmittelsynthesizer flackerte schwach. „Ach, ich brauche eine Ersatzlampe für den Kasten.“
„Wird beauftragt“, kam die prompte Antwort. „Ein Arbeiter wird die Reparatur heute Nachmittag zwischen Vierzehnuhrdrei- und fünfundzwanzig vornehmen.“
„Danke“, murmelte Oscar und betrachtete den Inhalt seiner Müslischale mit gerümpfter Nase. In den letzten Wochen war sein üblicher Speiseplan hinsichtlich der Verpartnerung abgeändert worden, statt proteinreicher Kraftnahrung gab es nun vorwiegend Fruchtpüree und komplexe Kohlenhydrate, um seine Ausdauer und seinen Körpergeruch zu optimieren.
„Ciopova.“ Ein Signalton kündigte die Systemaktivierung an. „Ciopova, kannst du bitte meine Vitalzeichen prüfen, ich fühle mich ein bisschen matt.“
„Vitalzeichen werden überprüft“, erwiderte die vertraute, von Algorithmen kreierte Stimme. „Vitalzeichen im Normbereich. Temperatur minimal erhöht. Sportprogramm wird zwei Tage eingestellt. Verpartnerungsrisiko wird berechnet. Bitte haben Sie Geduld.“
„Oh.“ Mit gemischten Gefühlen ließ er sich am Tisch nieder, in der Zwischenzeit strahlte sein Wohnbereich in Hellblau, die Regenklänge wurden von Vogelgezwitscher untermalt. Er wusste wenig über den anderen Menschen, der ihm morgen vorgestellt werden sollte, lediglich einige Eckdaten. Ihre Identifikation war Lima Acht Dreitausendachtunddreißig und sie befand sich momentan in Sektor 9G im vierzehnten Distriktquadranten. Sie war eine von sieben genetisch passenden Kombinationsmöglichkeiten, die ihm zugeteilt werden könnten, über zwei Jahre hatte er darauf gewartet, dass eine von ihnen ihre laufende Verpartnerung beendete und für ihn frei wurde. Einen wie Oscar nannte man Leerlaufkandidaten, die lange Übergangsphase war einem kleinen Systemfehler geschuldet und er war dankbar dafür.
„Berechnung abgeschlossen. Vitalwerte werden halbstündlich kontrolliert, bei stabiler Lage wird die Verpartnerung wie vorgesehen eingeleitet.“ Durch die Luftschleusen strömte eine laue Brise, es roch nach Gewitter und Waldboden. Das meiste war in Vergessenheit geraten, die Welt außerhalb seines isolierten Habitats in Sektor 18F, wo Leute wie er untergebracht wurden, schien ihm Lichtjahre entfernt. Bilder und Klänge waren verblasst, nur der Geruch transportierte ihn zurück in glücklichere Zeiten, sein Leben mit November.
„Oh“, machte Oscar erneut. „Okay, danke.“ Sein Körper verkrampfte sich unwillkürlich, so sehr er sich darauf freute, endlich wieder Gesellschaft zu bekommen, so sehr grauste es ihm auch davor. Lima würde seine dritte Gefährtin werden, die erste hatte er dank den stimmungsregulierenden Medikamenten längst als schöne, aber vage Erinnerung hinter sich gelassen. Selbst seine Angewohnheit, jeden Augenblick in Skizzen festzuhalten, die vielen Notizzettel, die ordentlich sortiert in Schachteln aufbewahrte, konnten die systemgewollte Amnesie nicht verhindern. Mit einer Ausnahme. Die Gedanken an die zweite, November Drei Dreitausendvierzig, ließen sich jedoch nicht auslöschen, hatten sich tief und fest in ihn hineingebohrt. „Ciopova, ich hätte gerne ein Pizzabrötchen.“
„Ihre Ernährungsrestriktionen erlauben keine Pizzabrötchen. Ihnen stehen Vollkornbiskuits zur Verfügung, sollten Sie das angebotene Frühstü…“
„Schon gut“, unterbrach er seinen ständigen Überwacher. „Schon gut.“ Eigentlich hätte er es sich sparen können. Zwar war es durchaus schon vorgekommen, dass Ciopova ihm entgegengekommen war und ihm einen seiner Gelüste erlaubt hatte, allerdings war das in der aktuellen Situation undenkbar, denn die Verpartnerung durfte unter keinen Umständen gefährdet werden.
„Kann ich Ihren Morgen mit Musik angenehmer gestalten?“, fragte das körperlose Wesen, das jede Kleinigkeit in Oscars Umgebung kontrollierte. Ciopova, der Allmächtige – Nomen est Omen. „Ihre Klassik-Playlist empfiehlt sich für die Morgenstunden.“
„Nein, danke.“ November hatte klassische Musik gehasst. Oscar fand das albern, das Genre war schließlich so divers wie kaum ein anderes, obwohl die Restaurateure lediglich einen kleinen Teil der entdeckten Tonträger hatten aufbereiten können. „Ich mag die Vögel und den Regen.“
„Wunderbar“, tönte Ciopova, es wäre einfach gewesen, seine Zufriedenheit in die Worte der unmenschlichen Entität hineinzuinterpretieren. Im künstlichen Himmel zuckte ein Unwetter. Wenn er die Augen schloss, das Blitzlicht durch die Lider wahrnahm, gelang es ihm für einige Sekunden, sich in Freiheit zu glauben. „Benötigen sie sonst etwas?“
„Nein.“ Oscar räusperte sich, unterdrückte ein Husten. „Nein. Ich habe alles. Danke Ciopo… Ah! Kann ich …“, unterbrach er sich, rutschte mit dem Küchenstuhl zurück und stolperte einige Schritte zur Seite, ehe er mit hängenden Schultern mitten in seinem transparent wirkenden Heim stehenblieb. „Kann ich erfahren wie es …“ Er schluckte, wusste, dass sein Wunsch nie und nimmer erfüllt wurde, bevor er ihn überhaupt äußerte. „Kann ich erfahren, wie es November und unserem Kind geht?“
„November Drei Dreitausendvierzig und Alpha Eins Dreitausendachtundsechzig erfüllen ihre Pflicht, das Kind wird planmäßig ausgesiedelt und November Drei Dreitausendvierzig wird in die Zuchtrotation zurückgeführt.“
„Oh.“ Oskars Herz schmerzte und er genoss es, genoss es nach all der Zeit, ein Mensch geblieben zu sein.