Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist der 6. Teil der Fortsetzungsgeschichte „107 Minuten“.
„Du bist spät dran, es ist schon viertel nach acht”, keifte ihn Steve ohne weitere Begrüßung an, nachdem er ihm die Tür geöffnet hatte. Etwas verärgert stammelte Mark eine nicht ernstgemeinte Entschuldigung und schob sich an seinem Kumpel vorbei, um in das Innere der Wohnung zu gelangen und sich erst einmal eine Cola aus dem Kühlschrank zu genehmigen. Er trug noch immer seine Trainingsklamotten und überlegte sich, ob er Steve um ein sauberes T-Shirt bitten sollte; als gäbe es in dieser versifften Wohnung überhaupt so etwas wie saubere Kleidung! „Du musst echt an deiner Pünktlichkeit arbeiten“, nörgelte Steve weiter und erntete dafür ein entnervtes Schnauben. „Mann, ich bin ja jetzt hier. Such mir lieber das Gras raus und mach hier nicht einen auf Oberlehrer.“ Mit der Coladose in der Hand ließ Mark sich auf die schäbige Couch fallen und stellte seine Füsse mitsamt den dreckigen Schuhen auf den überstellten Beistelltisch, währendem sein um beinahe zwanzig Jahre älterer Bekannter sich kurz ins Schlafzimmer verkrümelte, bevor er mit zwei randvoll gefüllten Plastiktüten zurückkam und diese leise fluchend unter die Ständerlampe warf. „Hier“, begann er forsch und wandte sich in Richtung des Badezimmers. „Und dieses Mal verkaufst du gefälligst alles und verrauchst nicht wieder die Hälfte selbst. Ich will nicht ungemütlich werden müssen!“ Amüsiert von der Idee, der versoffene Steve würde ihm etwas antun wollen, ließ Mark ein prustendes Kichern verlauten und erwiderte gelassen: „Jaja, ich werds schon nicht vermasseln.“
Kurze Zeit später vernahm der hagere Schulabbrecher ein ekelhaftes Stöhnen, das vom auf der Toilette sitzenden Steve zu kommen schien, rümpfte die Nase und stellte etwas wütend sein Getränk auf die Sofalehne. „So ein widerlicher, scheißender Fettsack“, dachte er sich, zündete einen Joint an und inhalierte tief, um den etwas zu lange andauernden Kokainrausch etwas einzudämmen und überlegte sich, ob er die Chance nutzen sollte, um sich etwas von dem Geld einzustecken, das unordentlich auf dem Tisch herumlag. Er hatte Steve eigentlich noch nie gemocht und machte sich bei jeder Gelegenheit über den in die Jahre gekommenen, kleinkriminellen Dealer lustig und so griff er nach einem kleinen Bündel Scheine und verstaute sie unachtsam in der Tasche seiner Sportjacke. Er würde nicht so jämmerlich enden wie dieser elendige Versager, davon war Mark überzeugt, obwohl die Indizien langsam aber sicher eindeutig dagegen sprachen. Nach drei Anläufen hatte er zwar das Gymnasium geschafft und ein Studium begonnen, dieses aber sehr zum Ärger seiner Mutter nach nur drei Semestern wieder abgebrochen und sich von da an voll und ganz seiner Leidenschaft, den Drogen, verschrieben und je weiter er in seinem Dauerrauschzustand versank, desto übermütiger wurden seine Illusionen. Mark träumte von einer großen Karriere als zukünftiger Drogenbaron der Großstadt, währendem er für Steve hinter dem Hauptbahnhof Marihuana für ein Taschengeld verkaufte, im Keller seines Vaters wohnte und die ganze Welt dafür verdammte, dass sie seine Genialität nicht erkennen wollte. Es klingelte dreimal an der Tür und Steve, der noch immer im Bad war und seinen Gast scheinbar schon fast vergessen hatte, schrie, dass er verflucht nochmal nachsehen solle, wer es war. Seufzend nestelte Mark ein kleines Tütchen aus seiner Hosentasche und genehmigte sich noch eine Nase Schnee, bevor er sich erhob und an der Garderobe vorbei zum Eingang schlenderte. „Ja doch“, sagte er und zog geräuschvoll den klebrigen, mit Kokain versetzten, Rotz hoch. „Ich komme ja gleich!“
Zuerst hatte er gedacht, dass es nur ein kleiner Unachtsamkeitsfehler gewesen war, die beiden Bullen hereinzubitten, etwas, das er sich im Nebel seines Rausches hätte schönreden können und das in einigen Wochen sicher eine lustige Anekdote abgegeben hätte; „Weißt du noch damals, als ich dem Cop eine Cola angeboten habe?“, würde er sagen und dabei in Gelächter ausbrechen. Doch als er sah wie der Typ mit den buschigen Augenbrauen zu Boden ging, wurde ihm schlagartig bewusst, dass dieser Fehler Konsequenzen haben würde, die zu tragen er nicht bereit wäre. Verängstigt blickte er sich zu Steve um, welcher noch immer die rauchende Waffe in seinen zitternden Fingern hielt und wie angewurzelt auf der Stelle verharrte, von der er eben gerade auf den Polizisten geschossen hatte. „Fuck!“, war das einzige was ihm in diesem unwirklichen Moment in den Sinn kam und er betrachtete wie hypnotisiert, wie der andere Bulle seine Pistole auf den scheinbar eingefrorenen Fettsack richtete. „Steve!“, brüllte er entsetzt, als dieser plötzlich in die Gänge kam und sich mit voller Wucht gegen den uniformierten Mann stürzte, ihn umwarf und dann mit einer Geschwindigkeit, die er ihm nie und nimmer zugetraut hätte, zur Tür hinaus sprintete. Verdutzt starrte Mark einige Sekunden durch den Türrahmen in den Hausflur, bis es ihm allmählich dämmerte, dass das Arschloch vorhatte in seinem peinlichen, dunkelblauen 3er BMW, den sonst nur Zuhälter und Muttersöhnchen fuhren, zu flüchten und ihn hier einfach so zurückzulassen.
Das aufputschende Kokain in seinem Blut vermischte sich mit Adrenalin und als Mark endlich den Wohnblock verlassen und die Käferallee erreicht hatte, hörte er heulende Sirenen, die näherzukommen schienen. Vorhin, als er die Treppen hinuntergerast war, hatte er noch an seiner spontanen Entscheidung, die Dienstwaffe des angeschossenen Polizisten mitzunehmen, gezweifelt und er hatte sich sogar kurz überlegt, ob es nicht doch besser wäre, wieder in die Wohnung zurückzukehren; immerhin hatte er nichts getan. Nein, er hatte den vermaledeiten Cops sogar eine gottverdammte Cola angeboten! Doch nun, da mit den Sirenen auch Verstärkung zu kommen drohte, schien sein von Drogen und Panik betäubter Verstand fest davon überzeugt zu sein, dass es eine gute Idee gewesen war, sich für den Ernstfall bewaffnet zu haben. Just in dem Moment, als die Kirchenuhr viertel nach neun geschlagen hatte, hallte ein lautes Rumsen durch die feuchte Abendluft, gefolgt von dem Geräusch quietschender Reifen und einem scheppernden Knall. Die Sirenen verstummten und in Marks paranoider Einbildung formte sich das Bild von einer Armee aus Polizisten, die alle nach ihm suchten.
Er hatte einige Haken durch die Hintergärten der Wohnhäuser geschlagen und versucht, sich unauffällig von Hecke zu Hecke zu schleichen und hatte so beinahe zehn nervenaufreibende Minuten gebraucht, bis er endlich beim Kiosk angekommen war. Die hässliche Tante, dieselbe selbstgerechte Quartiershexe, die ihn wegen Ladendiebstahls angezeigt hatte, als er noch ein Kind gewesen war, schien den Ernst der Lage nicht zu verstehen und sagte ihm mit betont ruhiger Stimme: „Machen Sie sich mal keine Sorgen, niemand will Ihnen was tun.“ Mark versuchte ihr erneut zu erklären, dass er ihre Hilfe benötigte, doch sie reagierte nicht darauf. „Was möchten Sie denn gern, vielleicht eine Cola?“, entgegnete sie und als wäre es nicht genug, dass sie sein Flehen nicht erhören und ihn nicht verstecken wollte, schlug sie auch noch vor die Polizei zu rufen; die Polizei! Die blanke Angst übermannte den jungen Dealer und in Marks Kopf überschlugen sich Gedanken an schreckliche Szenarien. Er durfte nicht gefasst werden, konnte nicht ins Gefängnis gehen und schon gar nicht von einem volltätowierten, bärtigen Mörder vergewaltigt werden und so diskutierte er weiter fieberhaft mit der Kioskfrau, in der Hoffnung, dass sie ihm das Leben retten würde.
Ohne das er es realisiert hatte, hatte er die gestohlene Pistole auf das Weib gerichtet und als er erstaunt auf seine ausgemergelte Hand blickte wurde er von einer seltsamen, unbeschreiblich klaren Gelassenheit überflutet und die, durch das Kokain ausgelöste, Selbstüberschätzung gab ihm die Gewissheit, dass er sie erschießen würde, wenn sie ihm nicht helfen würde. „Ich töte Sie!“, bellte er sie an, schoss in die Decke des heruntergekommenen Ladenlokals und bemerkte beim zweiten Abdrücken, dass keine Kugel mehr in der Kammer war.