Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Nicht links, Mann – rechts!“, zischte Frankie genervt. Eigentlich hiess er Francesco, doch hier nannten ihn alle nur Frankie, das war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und gar wenn man zur Familie gehörte, ließ man den alten Namen zurück. Sein Partner bei diesem Job, Mario, war aus seiner Sicht nicht das hellste Licht im Verein, doch wenn Don Caravaggio entschieden hatte, dass Mario diesem Job gewachsen war, dann gab es keinen Anlass, daran zu zweifeln – erst recht nicht, weil der Don nicht mit sich diskutieren ließ. Mario schlurfte zurück nach rechts, den endlos anmutenden Reihen von Regalen lang, mit denen das Beweismittellager vollgestellt war, das in der Familie auch als die „Caravaggio-Ahnenhalle“ bekannt war. „Wie blöd kann man eigentlich sein?“, murmelte Frankie und hastete dann hinter Mario her. „Hey, hier steht doch vier-B, das muss es sein.“
Gefolgt von seinem Kollegen eilte Frankie den langen Gang entlang und blickte auf die sich bis zur Decke hin stapelnden Beweismittelkisten, die eine Box suchend, welche das Schicksal seiner Familie entscheiden würde. Doch er sollte noch einige Minuten Fußmarsch brauchen, bis er sie schließlich zwischen all den Spinnweben und Staubmäusen erkannte und flüsterte: „Super, Mario, da ist sie!“
Marios Blick folgte Frankies Zeigefinger, der auf eines der ganz oben stehenden Kartons deutete, das in fahriger Handschifft und mit einem verbleichenden Marker mit „Caravaggio“ beschriftet war. Suchend wanderte Frankies Blick durch die Lagerregal-Gassen, bis er eine alte, hölzerne Bockleiter ausmachen konnte. Auch wenn sie schnell und leise sein mussten, um nicht entdeckt zu werden, konnte er das hochgelegene Regalbrett nicht ohne Hilfe erreichen. Trotz dem Schlafmangel, der ihn die letzten ereignisreichen und gewalterfüllten Tage quälte war er viel schneller bei der Leiter als Mario und zog sie über den Boden unter die fragliche Kiste, welche das Schicksal des mächtigsten Mafia-Clans der Stadt besiegeln konnte. Sie machte dabei ein scharrendes Geräusch und Frankie verzog das Gesicht, befürchtend dass der Wächter vor dem Eingang etwas hören konnte. Doch nichts würde ihn noch von seiner Mission abhalten, dazu war sie zu wichtig und er war wie ein Bluthund, sobald er sich in etwas verbissen hatte: Er sah nur noch das Ziel vor Augen und er gab nicht mehr auf, ließ nicht mehr los. Während Mario Schmiere stand und sich umsah, kletterte Frankie die Leiter hoch, deren Sprossen gruselig knarrten, sich leicht bogen und beinahe nachzugeben schienen. Er bekam die fragliche Box zu fassen und zog daran, bis er sie schließlich in Händen hielt. Sie war von einer dicken Staubschicht bedeckt, einige tote Insekten lagen darauf. Noch bevor er herunterstieg, blies er kurz und der Staub rieselte zu Boden, setzte sich dort – und auf Marios Kopf – ab, wo er im Zwielicht etwas heller zu sein schien als die dunkeln Fliesen, die ein endlos anmutendes Muster aus Quadraten bildeten.
Wieder heruntergestiegen, stellte Frankie den Karton auf den Boden und auch Mario, der nun von seiner Neugierde überkommen worden war, wandte sich um. Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig, hob Frankie den Deckel von der Kiste, welche die einzigen Beweismittel gegen seinen Vater enthielt: Ein altes Holzfällerhemd mit einigen Blutstropfen und ein blutbeflecktes Bügeleisen, auf dem seine Fingerabdrücke waren. „Na sieh mal einer an“, murmelte Frankie. „Mal sehen, was wir hier für das Wiederaufnahmeverfahren alles verändern müssen.“
„Du kannst das wirklich?“, fragte Mario beeindruckt, während Frankie begann, das Bügeleisen auszupacken und die Fingerabdrücke abzuwischen. Schließlich blickte er auf und entgegnete grinsend, weil er in gönnerhafter Laune zu sein schien: „Natürlich, alles was du brauchst, sind berechtige Zweifel.“
Mario öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als ein lauter Knall durch das Beweismittellager hallte, begleitet von einem blendenden Blitz. Getroffen stürzte Mario zu Boden, während Frankie mehrere Polizisten durcheinanderrufen hören konnte, am lautesten war der Satz: „Stehenbleiben, Drecksack!“
Frankie rollte sich in Deckung, zog seine Waffe und drückte ab – dann brach die Hölle los.
Ich drückte die Stopp-Taste auf meinem Controller und das Bild fror ein, just den Augenblick zeigend, in dem Frankies Schuss einen Polizisten in die Brust traf. Die beiden Figuren waren in denkbar absurden Posen auf der großen Leinwand hinter mir eingefroren, dazu verdammt, jedes Semester den gleichen Tanz aufzuführen, nur um dann innezuhalten. Für einen ganz kurzen Augenblick musste ich mich an die LAN-Partys in meiner Jugendzeit erinnern, in denen ich in der allerersten Vorgängerversion dieses Spiels zu den wirklich großen gehört hatte, eine kaltblütige Killerin, nichts im Blick außer den Energy-Drink vor mir auf dem Tisch und den nächsten Highscore. Ja, ich hatte es wirklich noch drauf, auch dieses Mal hatte Frankie gleich mit dem ersten Schuss getroffen – Owned. Ich nahm mich zusammen und wie immer, wenn ich mich auf meine aktuellen Handlungen konzentrieren musste, drückte ich meine geistige Erinnerungslöschtaste, und schon war ich wieder im Hier und Jetzt angelangt. Etwas nervös, denn ich war im Umgang mit Computern besser als mit solchen Anhäufungen der Gattung Homo Sapiens, blickte ich in den gut besetzten Vorlesungssaal und fragte in die Runde: „Und, was habt ihr gesehen? Was macht es mit euch, mit unserem Leben und Alltag?“ Die übliche rhetorische Pause von drei Sekunden, bevor ich fortfuhr. „Willkommen in der Vorlesung zu Cyberpsychologie in diesem Herbstsemester.“