Als wir nach unserem Sonntagsbrunch und einer übertrieben hitzigen Diskussion über das Für und Wieder des neuen Ortsschild-Designs, das Panoramarestaurant verlassen lausche ich, wie das gleichmäßige Raunen Frühstücksgesellschaft nach und nach verblasst. Du gehst ein kleines Stück hinter mir, so dass ich meinen Kopf etwas weiter als üblich drehen muss, um sicher sein zu können, dass du mich hörst, währendem wir durch den puristisch dekorierten Flur zu den Aufzügen schlendern und uns über dieses oder jenes unterhalten. Die beiden Tagesausflügler vor uns, die es sich nicht nehmen lassen wollten, unsere herrliche Stadt von oben zu bestaunen, biegen mit großen Schritten zum WC ab und im Vorbeigehen vernehme ich das Echo ihres schallenden Gelächters, das durch die Toilettenräume hallt. Lässig schlägst du noch vor dem Portier auf den Aufzugsknopf und grinst ihn dabei schelmisch an, so dass ich der Versuchung nicht wiederstehen kann, in einer ebenso kindlichen Manier auf die Knopfleiste zu hämmern, bis der uniformierte Herr mich höflich bittet, zurückzutreten. Kaum hat sich die schwere Schiebetür vor uns geschlossen, prustest du los und kannst dich ob der peinlichen Begebenheit kaum noch halten und als der Fahrstuhl sich langsam in Bewegung setzt, rümpfst du die Nase und fragst mich mit gespielt ernster Miene: „Warst du das?“ Brüskiert weise ich deine Anschuldigung zurück und wir verlassen den achtundfünfzigsten Stock.
Währendem du dir den Kopf darüber zerbrichst, welcher Freizeitstadtentdecker seinen fauligen Gestank in der Liftkabine hinterlassen hatte, denke ich an all die kleinen und großen Lügen, die mir im Laufe der letzten Jahre über die Lippen gekrochen sind und wie so oft, wenn wir gemeinsam einen schönen Tag genießen, sehe ich mich gefangen zwischen dem Drang, all die Geheimnisse zu lüften und dem sehnlichen Wunsch, unsere Verbindung nicht zu gefährden und weiter zu schweigen. „Ich …“, beginnt die Stimme in meinem Kopf, „Ich muss dir etwas sagen.“ Und ich weiß, es wird kein Zurück mehr geben – der Countdown zum Ende unserer Freundschaft hat begonnen …
„Ich war in der Vergangenheit nicht immer ehrlich mit dir. Nein, das wäre bloß eine weitere Lüge, denn in Wahrheit bin ich es bis heute nicht. Aber bevor du etwas sagst, bitte ich dich, schenke mir diese dreiundfünfzig Stockwerke um es dir zu erklären. Als wir uns kennengelernt haben, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass du mir jemals so wichtig werden würdest, ich hatte einfach damit gerechnet, dass du einer der unzähligen Menschen sein würdest, die flüchtig an uns vorbeigleiten und in unseren Erinnerungen verschwinden. Zu Beginn war es ein Spiel aus Langeweile und ich glaubte, es wäre nicht weiter schlimm, wenn ich dich für einen kurze Weile dazu benutze, mich vor mir selbst zu verstecken und es hat sich einfach wunderbar angefühlt, in deinen Augen ein anderer Mensch zu sein. Wenn ich mit dir zusammen war, war ich stark und unbesiegbar, ich war lustig und klug und du warst da um mich dafür zu bewundern, mir die Anerkennung zu geben, die ich sonst nur vergeblich gesucht hatte. Doch es hatte nicht lange gedauert, bis es mich so sehr nach deinem Beifall dürstete, dass ich geradezu süchtig danach wurde, dich mit neuen unglaublichen Geschichten zu fesseln und in deiner Gegenwart zu der Person zu werden, die ich nie hätte sein können. Ich gebe sogar zu, dass ich mich dazu hatte verleiten lassen, zu sehen wie weit ich gehen kann und dass es mir Spaß bereitete, die Grenzen meiner Glaubwürdigkeit jedes Mal ein wenig weiter auszudehnen und so habe ich nicht bemerkt, wie ich mich immer weiter von mir selbst entfernte und allmählich zu einem Gebilde meiner eigenen Fantasie mutierte.“ Stumm und scheinbar ungerührt stehst du neben mir und betrachtest die fein verzierten Holzpaneele, welche die Fahrstuhlkabine links und rechts neben der Tür schmücken und ich bin froh, dass sich unsere Blicke im Spiegel nicht treffen.
„Ich bin kein Experte im Nahkampf, ich bin niemals über die Landesgrenze gereist und ich war es, die deinem Boss von deinem Skiurlaub erzählt hatte, weil ich neidisch darauf war, dass du so viel Zeit mit deinen Arbeitskolleginnen und nicht mit mir verbracht hattest. Ich habe vom Winde verweht nie gesehen und Homers Odyssee nie gelesen und behaupte nur, dass ich dieses Buch so sehr liebe, weil es mich an meine erfundenen Reisen erinnert. Und auch wenn ich immer vorgebe, ich würde mich stets über das Tagesgeschehen informieren, interessiere ich mich überhaupt nicht für die Nachrichten, ich leite bloß aus unseren Gesprächen ab, was ich sagen muss um den Anschein zu erwecken, auf dem Laufenden zu sein. Ich habe auch keine Ahnung von Computern und bin froh, wenn ich einen Tabulator setzen kann, deshalb wurde ich auch vor drei Jahren entlassen.“ Ich halte kurz inne und nach einigen tiefen Atemzügen wage ich mich, meinen Blick vom Teppichboden zu lösen und dich mit angsterfüllt anzusehen, doch du stehst da wie zuvor, regungs- und ausdruckslos starrst du vor dich hin und hinter dir verrät mir der Zähler, dass wir im achtundzwanzigsten Stock angekommen sind.
„Meine Ehe ist nicht annähernd so schön wie ich dir glauben machen will.“ Ich schaue nicht auf, doch ich kann das leise Rascheln deines Mantels hören, als du dich ein wenig zu mir drehst und ich muss den Kloß in meinem Hals runterschlucken, bevor ich fortfahren kann: „Der einzige Grund warum ich dir das nie erzählt habe ist, dass ich mich so sehr dafür schäme, meinen Bastard von Mann bis heute nicht verlassen zu haben. Ich habe dir immer Vorträge darüber gehalten, dass wir unsere Träume verfolgen und hart arbeiten sollen, dass wir unnachgiebig, klug und strebsam sein müssen. Und wann immer es dir schwer gefallen ist, diese Erwartungen zu erfüllen, habe ich dir absichtlich den Eindruck vermittelt, dass du von uns beiden diejenige bist, die versagt hat und ich diejenige, die ihr Leben fest im Griff hat. Du glaubst ich wäre diese starke, selbstbestimmte Frau, aber in Wahrheit bin ich einfach nur zu faul und zu feige mich auf meine eigenen Beine zu stellen und für mich selbst zu sorgen. Stattdessen endlich zu der Frau zu werden, die ich dir vorgaukle zu sein, träume ich des Nachts davon meinen Mann mit einem Kerzenständer zu erschlagen und reiche ihm dann am nächsten Morgen lächelnd seinen Kaffee.“ Die Worte sprudeln aus mir wie ein Wasserfall und als die erste Erleichterung über mein längst überfälliges Geständnis verflüchtigt hat, bleibe ich zurück mit einem kalten, schweren Gefühl im Magen.
„Ich erwarte nicht von dir, dass du mich verstehst, geschweige denn, dass du mir vergibst. Ich kann verstehen, wenn du mir nie wieder vertraust und mich nicht mehr sehen möchtest. Ich weiß nicht mehr, wie es soweit kommen konnte und obwohl ich tausend Ausreden habe, warum ich bis heute nie den Mut aufbringen konnte, ehrlich zu sein, verstehe ich, dass es dafür keine Entschuldigung gibt. Ich hatte wohl einfach gehofft, dass meine Lügen, wenn ich sie nur oft genug wiederhole und du weiter daran glaubst, irgendwann wahr werden.“ Eine Träne tropft von meinem Kinn und ich wische sie, mit der Befürchtung du würdest mein Weinen als weiteren Manipulationsversuch verstehen, hastig mit meinem Ärmel weg.
„Auch wenn das für dich nun vielleicht keine Bedeutung mehr hat, hoffe ich, dass du mir eines glaubst: Trotz all den fürchterlichen Dingen, die ich getan habe, liebe ich dich aufrichtig und selbst wenn ich nicht immer echt war, so besteht kein Zweifel an der tiefen Freundschaft die ich für dich empfinde. Du bist ein wundervoller, einzigartiger Mensch und auch wenn ich es bis heute nie geschafft habe, bist du die einzige Person die in mir den Wunsch geweckt hat, nicht nur so zu tun als wäre ich ein besserer Mensch, sondern es auch wirklich zu versuchen.“ Die Anzeige springt auf den dritten Stock und kurz bevor sich die eiserne Fahrstuhltür aufschiebt und wir getrennte Wege gehen, füge ich unbeholfen an: „Und ich war es, die gefurzt hat.“
Die Liftkabine kommt im Erdgeschoß zum Stehen und zum ersten Mal seitdem der Countdown begonnen hat, siehst du mir direkt in mein verheultes Gesicht und ich komme mir nackt und winzig vor. „Ich weiß“, merkst du lapidar an und schnippst spielerisch mit deinem Zeigefinger gegen meine Schulter. „Als würde ich nach all den Jahren deine Fürze nicht kennen.“