Dies ist der 2. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Road Trip“.
Irgend so ein Hipster-Arschloch hat Hüttenkäse in mein Eiersalat-Sandwich geschmuggelt! Ich bin so in Rage, muss mich erstmal beruhigen, gleich bersten meine Neuronen! Du weißt, von was ich spreche, oder? Auf meinen Reisen haben sich mir Abgründe aufgetan, die ganze Familien verschlagen, ich habe menschliche Überreste gesehen, die an ein Fünfhundert-Teile-Puzzle erinnerten, nur, nichts ist so schlimm wie Hipster! Ich hasse sie mit jeder Faser meines Seins. Jetzt wollen diese Alles-Ironisch-Nenner sogar meiner Wenigkeit solche Abscheulichkeiten wie Hüttenkäse unterjubeln!
Du wunderst dich sicher, was ich seit unserem letzten Gespräch (oder war es ein Selbstgespräch?) getan habe. Der Fernseher in dem nächsten Diner an der Straße flimmerte vor lauter Bildern von dem Resultat des Wütens dieses Viehs, welches die Aufzuchtstation auseinandergenommen hatte. Baby-Seehunde aufgefressen, Robben zu feiner Pampe zermahlen … „Whatevs“, wie du zu sagen pflegtest, damals, als du noch ein echter Mensch gewesen bist. Das Massaker war vor ein paar Wochen, längst der Vergessenheit anheimgefallen, unwichtig geworden. Alles, was so lange her ist, ist bedeutungslos, sterbliche Überreste wurden verscharrt (respektive im Fall von der Robbenpampe in der Biotonne entsorgt) und wir wissen alle, dass man schlafende Hunde nicht wecken soll. Besonders dann nicht, wenn sie im Schlaf eine niedliche Rennbewegung mit den Pfoten machen. Wie nennt man das, „Trockenrennen“?
Das liebe Zeitgefühl ist noch immer kaum meine Stärke, wird es nie werden egal, was ich tue. Sekunden, Minuten, Jahre, sie zerfließen zwischen meinen Fingern, als steckten Jahrmillionen, in einen Wimpernschlag komprimiert, in meinen Gliedern. Und schlafende Hunde … Tja, du kennst mich, ich nehme jede Gelegenheit wahr, Chaos anzurichten sowie zu schlafen.
Die Sterne sind wunderbar in dieser Nacht, klar und ungetrübt über dem mondlosen Wüstenhimmel, selbst wenn die vermeintliche Wüste eher eine sehr karge Landschaft ist, die sich über ein weites Gebiet, scheinbar bis an den Abgrund am Ende der Welt erstreckt. Die Kegel meiner Scheinwerfer wandern über den unter mir dahingleitenden Asphalt, erleuchten hunderttausende in den Straßenbelag eingelassene Steinchen auf der Suche nach etwas, das sie kaum je finden werden.
„Heilige Scheiße!“, entfährt es mir und ich verreiße nahezu das Lenkrad, als mich ein schwerer Lastzug mit übersetzter Geschwindigkeit rechts überholt. Mit einem heillosen Schrecken davongekommen, halte ich mich links dahinter auf dem verwaisten Highway, verurteilt, dem Trucker machtlos durch das geöffnete Dachfenster meines Wagens den weit abgespreizten Mittelfinger zu zeigen. Eine leere Geste in der Dunkelheit, ungesehen. Er hat es verdient, wegen ihm hätte ich fast den großen Pappbecher Long Island Iced Tea in meinen Schoß geschüttet und mein tiefblaues Sommerkleid ruiniert, eines der wenigen Kleidungsstücke, in denen ich weniger wie ein Streichholz in einem Kartoffelsack aussehe. Doch halt, wieso sollte ein Streichholz in einem Kartoffelsack sein? Wieder einmal habe ich etwas durcheinandergebracht, die sprichwörtlichen Nägel, nein, Nadeln in den Weiten des Heuhaufens verloren und …
Ich bekomme ein ungutes Gefühl bei der Sache, ein Vorgeschmack von heraufdämmernden Verderben, leicht metallisch im Mund, gepaart mit einem über mein Rückgrat wandelnden Kribbeln sowie einer kaum spürbaren Übelkeit. Eilig schütte ich den Rest meines Long Island Iced Teas in meine trockene Kehle, ehe ich den Becher auf seine letzte Reise durchs offene Fenster an den Straßenrand der Sierra entsende. Meine Hände rutschen auf ihre Position am Lenkrad, zehn und zwei Uhr, durch unendliche Repetition verinnerlicht, die Fingerkuppen erfassen jede Riffelung des abgegriffenen Kunstleders, an dem vermutlich bereits der Vorbesitzer des Wagens herumkratzte. „Was bist du?“, flüstere ich, lasse meinen Korkabsatz mehr Kraft auf das Gaspedal ausüben um wieder zu dem Truck aufzuholen, während ich wiederhole: „Was bist du?“ Ich ahne, es ist auf der Jagd und nur für mich gekommen, irgendwie können sie mich fühlen, vielleicht riechen, vielleicht etwas Schlimmeres.
Statt dem Namen der Überholspur Ehre zu bereiten, folge ich dem Lastwagen mit wenigen Metern Entfernung. Wir werden gleich sehen, wer hier Jäger und wer Gejagter ist. Aber lass mich dir noch mehr über mich erzählen, immerhin kennen wir uns nicht – nicht wirklich. In Anbetracht der Tatsache, wie viele Leute, die sich einem dieser Albträume stellen, dabei draufgehen, könnte das hier unsere letzte Chance sein, uns näherzukommen. Nun ja, für dich, mir näherzukommen, denn ich kenne dich bereits gut. Nur, was soll ich dir schon sagen, ich bin das reguläre Mädchen von nebenan, das in einem alten Auto quer durchs Land reist, einer Spur der Verwüstung folgt und ab und an ein Monster tötet, ziemlich normal eben. Sorry, ich muss das Magazin in die Pistole nesteln, dabei sollte ich mich nicht ablenken lassen … Sicherlich wäre mein ehemaliger Fahrlehrer keineswegs besonders glücklich darüber, wenn er mich am Lenkrad mit einer Waffe hantieren sähe – vom Alkohol ganz zu schweigen. Als ob das jetzt noch eine Rolle spielt, die Welt geht sowieso vor die Hunde. Ich hoffe, mein Fahrlehrer hat wenig gelitten, als sie ihn in Stücke gerissen haben, niemand sollte leiden, wenn ihre Zeit gekommen ist, bloß, das können wir uns nie aussuchen, oder?
Wo war ich? Ach ja, ich mag Yoga und Joints, das sind am Ende beides Wege zur Tiefenentspannung in den kurzen Zeitabschnitten, in denen ich an einem Ort verweile, rasch durchatme, bevor Gejagtwerden und Jagd weitergehen. Ein endloses Katz-und-Maus-Spiel, bei dem man zuweilen scheußlichen Hüttenkäse angedreht bekommt.
Die Rücklichter des Trucks vor mir tanzen im Dunkeln hypnotisch auf und ab, hin und her, höchstens um Zentimeter, fangen meinen Blick, lassen ihn kaum mehr los. Allzulange werde ich kaum mehr links dahinter bleiben, ich sollte handeln, früher als es handelt.
Weißt du, manchmal wenn ich die Nachrichten schaue oder durch belebte Straßen gehe, fasziniert es mich darüber nachzudenken, wie wenige Leute eine Ahnung davon haben, was da draußen ist. Normale Bürger führen ihr Leben in einer Blase, in der das, was wir Realität nennen, noch existiert. Einige befassen sich gar mit Okkultismus, treten einer Sekte bei, weil sie eine simple Antwort wollen. Tja, die Wahrheit ist viel komplexer und sie werden niemals die Antwort kennen. Nur wir, wir wissen, was da draußen lauert, Nacht für Nacht, uns jagt, uns zu verschlingen droht. Ich denke, ich hätte mit dieser Aussage beginnen sollen, obschon es selbsterklärend ist: Ich habe es getötet und überlebt.
Die aufgehende Morgensonne blendet mich und Serotonin flutet bei dem Gedanken, eine Begegnung überstanden zu haben, meinen Körper. Trotzdem muss ich mich vorsehen, dieses Mal ist es zu knapp gewesen – natürlich könnte ich dem Long Island Iced Tea die Schuld geben, ich hege jedoch den Verdacht, sie werden intelligenter, haben mehr Tricks auf Lager. Seit wann können sie schon einen Truck lenken? Es fällt mir noch immer schwer, die Zeit zu ordnen, zu erahnen, was wann geschehen war, was geschehen wird und erst recht, was gerade ist. So oder so kann ich mich der schaurigen Erkenntnis nicht erwehren, dass sie dazulernen.
Mittlerweile fahre ich links hinter einem Motorrad, auf dem ein fetter, helmloser Biker in einer Lederjacke wie eine Glucke thront, sein Backenbart im Wind flatternd, als wäre es die Flagge des Bundesstaates. Ich fahre generell gerne links dahinter, so hat man stets die Möglichkeit, seinen Gegner in den Straßengraben, eine Felswand oder eine Schlucht zu drängen, obgleich das bei Mr. Backenbart kaum nötig sein wird, schließlich ist er keiner von denen. Ich verstehe zwar Menschen, pardon, meine Spezies, nicht so ganz, mit all ihren Emotionen, ihrem Lieben, Lachen, Leben, Kopulieren, Streiten und so weiter, aber eine Gefahr sind sie in den wenigsten Fällen, verglichen mit was ich es sonst so zu tun habe. Du weißt schon, mit deiner Sorte.
Ich verliere den roten Faden, als ich den Blinker setze und den Wagen auf die Ausfahrt zum nächsten Motel rattern lasse. Es ist Morgen und damit Zeit für eine wohlverdiente Pause. Da ist es schon wieder, dieses Wort, das mich sogar mehr beschäftigt als die Monster, denen ich mich stellen muss: Zeit. Was war gestern? Ich erinnere mich kaum mehr, es ist ein altes Foto geworden – die Information ist da, doch konturlos, ein Farbfleck auf einem Stück Papier, das von den Urenkeln auf den Müll geworfen wird, wenn sie den Dachboden ausräumen. Welche Urenkel eigentlich, wie komme ich auf solche Gleichnisse? Ich werde zweifellos keine Urenkel, geschweige denn Dachböden haben, soviel ist klar. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso ich Instagram einem Foto-Print vorziehe?
Es tut gut, endlich das Sommerkleid ausgezogen zu haben, nackt auf dem Bett zu liegen und auf den Ventilator zu starren, der ewiggleich seine gequält-schwerfälligen Runden dreht. Draußen zirpen Grillen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich die wüstenartige Gegend hinter mir gelassen habe. Ein Mann wirft fluchend etwas Metallenes auf einen Pick-Up Truck, ehe der Motor aufheult. Ich kann das Prasseln von Kies auf dem Parkplatz vernehmen, als er davonrollt.
Der Motelbetreiber schenkte mir dieses komische Starren, das ich bereits tausendfach gesehen habe, eine Mischung aus Neugier und Ablehnung. Wenn er wüsste, was ich wirklich bin, unter der ungewohnten Oberfläche meiner verschwitzen Haut, wäre seine Reaktion unweigerlich anders ausgefallen – aber wie? Müde, tapsig taste ich nach meinen Tabletten und dem Wasserglas auf dem hölzernen Beistelltisch, dessen einziger Inhalt ein Buch ist, das gar keine Antworten auf meine Probleme liefert, dafür ein ausgezeichneter Untersetzer für mein Glas ist, das ich nun mit der Gier einer Verdurstenden leertrinke. Die letzten Tropfen des lauwarmen, abgestanden riechenden Duschwassers trocknen auf meiner Haut und während ich eindöse, fällt mir in meinem Dämmerzustand ein, dass ich dich irgendwann finden werde. Ich brauche nur noch mehr Zeit und davon habe ich eine ganze Menge.