Dekontamination

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Schleuse Eins.“ Eine elektronische Xylophonmelodie kündigte an, dass die Tür sich schloss und Remy drängte zu seinen Kollegen in die Dusche. „Nehmen Sie die angezeigte Position ein“, verlangte die Computerstimme und ein ihnen wohlvertrautes Bild erschien auf dem Display neben dem Durchgang. Virginie stand bereits mit hüftbreit gestellten Füssen und seitlich ausgestreckten Armen da, Remy und André taten es ihr gleich. „Dekontamination. Stufe Eins beginnt in zehn, neun, acht, sieben …“
„Wie gesagt“, holte Remy aus und wackelte mit der Nase. Eine Haarsträhne klebte am beschlagenen Visier seines Schutzanzugs und hing ihm dabei übers Gesicht. „Glück gehabt. Kaum auszudenken, was hätte passieren können!“
„… drei, zwei eins. Dekontamination initiiert.“
„Ja, das war wirklich knapp“, bestätigte André, bevor die Düsen angingen und ihre Schutzkleidung mit einer alkalischen Lösung besprüht wurde. Anders als Remy und Virginie hatte er schon einmal einen ähnlichen Laborunfall erlebt, wegen eines unachtsamen Moments hätte er beinahe sein Leben verloren. „Aber ist ja nichts passiert“, brüllte er über den Lärm der Pumpe, aus der nun ein spezielles Desinfektionsmittelgemisch sprudelte. Er lächelte gelassen und gähnte anschließend, um den beiden jüngeren Wissenschaftlern die Angst zu nehmen. Der Sprühnebel wurde eingestellt, die Seifenmischung tropfte vom beschichteten Stoff ihrer Kittel und rann den Ausguss in der Mitte der ersten Kammer hinunter.
„Stufe Eins beendet. Schleuse Zwei wird geöffnet“, verkündete das automatisierte System begleitet vom blechernen Signalton und die Tür zur zweiten Dekontaminationseinheit ging mit einem starken Luftstoß auf. „Begeben Sie sich in die Garderobe und folgen Sie den Instruktionen.“ Die drei schlenderten in den nächsten Raum, Virginie summte vor sich hin und André wandte sich kurz um, blickte durchs Fenster in die Laboreinheit auf den Riss in der Arbeitsvitrine. Was eben geschehen war, hätte in einer Katastrophe enden können, das war allen klar. Auf dem Bildschirm wurde eine Figur in Schutzmontur angezeigt, die diese sorgfältig auszog. Er seufzte und riss die Sicherheitsplombe zwischen seinen Schlüsselbeinen ab, die den Reißverschluss darunter versiegelte.
„Was freue ich mich aufs Abendessen“, meinte Virginie und löste die Befestigung ihrer Gasmaske. Die neuen Modelle waren wesentlich angenehmer zu tragen, sie waren leichter und hinterließen weniger tiefe Abdrücke.
„Was gibt es denn?“ André war es nur recht, sich über Belanglosigkeiten zu unterhalten, nach diesem Schock kam jede Ablenkung gelegen.
„Hackbraten mit Erbsen und Kartoffelbrei“, antwortete sie und begann damit, das Klebeband von ihren Handgelenken abzuziehen, indes kämpfte Remy noch mit der Abdichtung am Schaft seiner Gummistiefel und fluchte dabei leise. „Meine Mutter passt auf die Kinder auf und kocht.“
„Schön. Ist sie lange in der Stadt?“, wollte André wissen, als er seine Arbeitsschuhe abschüttelte, auf das Regal stellte und seine Socken in den Wäschekasten warf.
„Bis nächsten Dienstag. Sie hat freigenommen, um mit uns Delphines Geburtstag zu feiern.“ Virginies Kinder waren in diesem wunderbaren Alter, in dem jeder Tag ein Abenteuer war. André vermisste das. Seit Sylvie in England studierte und Alexandre nach Berlin gezogen war, war sein zu Hause leer und still geworden.
„Ach ja, sie wird Neun, richtig?“ Virginie nickte und stieg aus ihrem Schutzanzug. Andrés Kinder riefen zwar regelmäßig an, allerdings verloren ihre Gespräche an Vertrautheit, drehten sich vorwiegend um die Arbeit oder Politik. So gerne er mit seinem Sohn über die Wahl des Bundeskanzlers plauderte, er gäbe alles, noch einmal mit ihm über Pokémon-Karten zu streiten. „Habt ihr etwas Besonderes vor?“
„Naja, am Wochenende geht es auf die Kirmes, dienstags gibt es eine kleine Dinnerparty. Das Töchterchen hat sich Rhabarberkuchen und Vanilleeis gewünscht, wie so eine alte Frau“, lachte Virginie und schlüpfte aus ihrer Unterwäsche.
„Was hast du gegen Rhabarberkuchen?“, fragte Remy, der ebenfalls aus seinem Overall kletterte und seine lange Unterhose abstreifte. „Ich find’ den lecker. Machst du ihn selber?“
„Schleuse Drei.“ Erneut erklangen Xylophontöne, die Kammer wurde durchlüftet und sie traten in die zweitletzte Desinfektionseinheit, um sich zu waschen. „Begeben Sie sich auf die markierten Plätze. Dusche wird gestartet in zehn, neun, acht …“

„So weit kommt es noch. Nein, Maman backt, auf meine Partizipation kann sie lange warten“, nörgelte Virginie, die ihren Kollegen hinterher ging und ihren Dutt ausschüttelte. „Rhabarber klebt an den Zähnen, das Zeug ist ekelhaf…“
„… drei, zwei.“ Der Countdown stoppte, drei schrille Piepser erfüllten den gekachelte Duschraum und die Wissenschaftler verkrampften sich. Emotionslos erklärte die Systemstimme: „Potentielle Kontamination. Subjekt Vier Drei Acht Zwei Omega befallen. Scan läuft.“
„Remy!“, stieß Virginie aus, starrte den anderen an und forderte zu erfahren: „Remy! Hast du das zersprungene Glas angefasst?!“
„Was? Nein.“ Alarmiert schaute er sich um, kratzte sich am Hals und stammelte schließlich: „Ich … Ich glaube nicht. Ich, ähm, bin nicht sicher.“
„Du musst dir sicher sein, Remy!“ Sie packte ihn an den Schultern, suchte seinen Körper ab und gab einen kreischenden Laut von sich, einen gutturalen Schrei, den André sofort als das erkannte, was er war: Schiere Verzweiflung. Dann sah er es auch: Eine winzige, pechschwarze Läsion an Remis Nacken war ihr Ende. Er hatte dieses Szenario gedanklich tausendmal durchgespielt, seit dem letzten Zwischenfall ging es ihm nicht mehr aus dem Kopf.
„Subjekt Vier Drei Acht Zwei Omega, Kontamination bestätigt. Kontaktsubjekte Neun Neun Vier Zwei Delta und Fünf Vier Neun Fünf Sierra.“ André hatte damit gerechnet, dass die Todesangst ihn hektisch, panisch reagieren ließe, stattdessen wurde er ruhig und hockte sich einfach hin, umklammerte seine Knie, wippte vor und zurück. Wartete auf das Unausweichliche, hoffte, das Gas würde sie ausreichend betäuben, bevor das System die Feuerreinigung einleitete.
„Nein, nein, nein!“ Virginie ließ sich neben ihn auf den gefliesten Boden fallen. „Nein, nein, das darf nicht sein. Bitte, lass uns raus!“ Ihr Flehen wurde zu einem Schluchzen, sie robbte zur Schleuse, schlug immer und immer wieder mit den Fäusten dagegen. „Delphine. Ich muss zu Delphine. Bitte, oh, bitte, lass uns raus!“
„Oh Gott, ich …“, flüsterte Remy monoton. „Ich bin beim Rausgehen an die Vitrine gestoßen. Das … Das wollte ich nicht.“ Die nekrotische Wunde an seinem Nacken hatte sich schon ausgebreitet, bedeckte mittlerweile den ganzen oberen Teil seines Rückens.
„Kontaminierte Subjekte können nicht extrahiert werden. Gefahreneliminierung wird initiiert.“ Instinktiv atmete André tief durch und verlor das Bewusstsein.

Autorin: Rahel
Setting: Dusche
Clues: Partizipation, Kartoffelbrei, Kirmes, Rhabarberkuchen, Bundeskanzler
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei SonnyPi und Monika Fritsch. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Steady oder Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.

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